Die Medizinhistorikerin und YouTuberin Lindsey Fitzharris hat mit Der Horror der frühen Medizin eine kurze Biografie über Joseph Lister vorgelegt, den Begründer der Keimarmut in der Chirurgie. Der reißerische Titel des Buchs verweist stilistisch auf den YouTube-Kanal der Autorin: Dort schildert sie unter dem Titel Under the Knife in kurzen Videos plastisch die heute monströs anmutende chirurgische Praxis der Ära vor Narkose und Keimfreiheit. Denn bevor die sogenannte Antisepsis sich in der medizinischen Praxis durchsetzte, glichen chirurgische Eingriffe in der Tat einem Horrortrip.
Das „Zeitalter der Qualen“
Aus dem Fundus ihres Youtube-Kanals schöpft Fitzharris im ersten Teil des Buchs. Sie erzählt etwa vom berüchtigten Anatom Knox, der dem Mangel an Leichen durch gedungene Mörder abhalf oder von Amputationen ohne Narkose, die deswegen schnell und unexakt ablaufen mussten – und durch Blutverlust oder postoperative Infektionen oft tödlich endeten.
Die Chirurgie des frühen Viktorianischen Zeitalters nennt Fitzharris daher das „Zeitalter der Qualen“. Zwar beseitigte das 1846 neu aufgekommene Narkoseverfahren mit Äther ein großes Hindernis auf dem Weg zur chirurgischen Therapie, doch das Risiko der postoperativen Infektionen blieb. Man riecht den Infektionsgestank förmlich durch die Seiten ziehen, so drastisch schildert die Autorin die damaligen Zustände. Zugleich legt sie kundig dar, wie die Frage der postoperativen Infektion die Medizin in zwei Lager spaltete. Die dominante Fraktion der Befürworter der Mismentheorie sah die Ursache von Infektionen in vergifteter Luft (Malaria heißt nichts anderes als „schlechte Luft“), während die damaligen Außenseiter, die Kontagionisten, an die Übertragung von Giftstoffen oder die Auslösung von Infektionen durch sehr kleine Lebewesen glaubten.
Der Kampf gegen die Keime
Der junge Arzt Joseph Lister, ein Quäker, war durch seinen Vater im Mikroskopieren geschult und gehörte zur letzteren Gruppe. Einschneidend waren für ihn die Erkenntnisse des Chemikers Louis Pasteur, der nachgewiesen hatte, dass Mikroorganismen bei der alkoholischen Gärung eine entscheidende Rolle spielten. Der erste Chirurg, der das Revolutionäre in Pasteurs Arbeiten erkannte, war allerdings nicht Lister, sondern Thomas Spencer Wells, der Leibarzt von Queen Victoria. Er hielt 1863 einen Vortrag vor der British Medical Association über Pasteurs bahnbrechende Erkenntnisse. Aber ihm fehlte offenbar noch der unerschütterliche Glaube an diese Entdeckung. Jedenfalls verfolgte er seine Gedanken nicht weiter, wie Fitzharris darlegt:
Leider stieß Wells’ Vortrag nicht auf die erhoffte Begeisterung. Seine Kollegen blieben skeptisch, […] und wie die meisten anderen […] unternahm er keinen Versuch, die Erkenntnisse über den Zusammenhang von Fäulnis und Keimen praktisch umzusetzen.
Es war Joseph Lister, der sich an die praktische Umsetzung machte.
Lindsey Fitzharris zeichnet den Erkenntnisweg Listers nach – seine Geduld, seine Beharrlichkeit und auch den Starrsinn, der so notwendig ist, wenn man in der Medizin eine grundsätzlich neue Therapie etablieren möchte. Hier verzichtet die Autorin nun auf die Schockeffekte, die einem bei der Lektüre des ersten Teils des Buchs gehörig auf die Nerven gingen – und gerade deshalb gelingt es ihr, die Poesie des Erkenntnisgewinns zu zeigen.
Anfeindungen
Detailliert schildert sie die Anfeindungen der Kollegen, die Lister nach der Veröffentlichung von On a New Method of Treating Compound Fracture, Abscess, etc. With Observations on the Conditions of Suppuration im Jahr 1867 erhielt. Die Leserbriefe, die sein Konkurrent Simpson anonym an die heute noch renommierte medizinische Fachzeitschrift The Lancet geschrieben hatte, erinnern durchaus an Diskussionen, wie wir sie heute im Netz beobachten. So weist Simpson etwa darauf hin, dass die von Lister propagierte Karbolsäure keineswegs dessen Erfindung sei. Dies jedoch hatte Lister nie behauptet, neu war nur die Art der Anwendung. Etwas zu widerlegen, was nie behauptet worden ist, war offenbar schon damals eine gängige Vernebelungstaktik. Lister antwortet ruhig und sachlich, wie es sich für einen Quäker gehört. Wie alle großen Forscher wusste er, dass er die Fakten auf seiner Seite hatte.
Wenn es damals auch noch keine großen statistisch angelegten Studien gab, so war die Wirkung der Antisepsis im Operationssaal dermaßen evident, dass es solcher Studien gar nicht bedurfte. Es war die Zeit, in der das Drehen an einer einzigen Schraube im chirurgischen Vorgehen die Letalität im zweistelligen Prozentbereich senken konnte – und genau das bewirkte Listers Antisepsis in der Chirurgie.
Noch vor der Jahrhundertwende hatte sich seine Methode weltweit etabliert. Dass die meisten Patienten heute einer Operation gelassen entgegensehen können, verdanken wir zu einem großen Teil dem medizinischen Engagement von Joseph Lister.
Der Horror der frühen Medizin
Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
Suhrkamp 2018 · 276 Seiten · 14,95 Euro
ISBN: 978-3518468869
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