Auf der Seite 99 der Neu-Übersetzung von Mansfield Park von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié befinden wir uns auf einer Landpartie. Fanny sitzt in der Kutsche neben Miss Crawford, mit der sie nichts weiter teilt als die Wertschätzung für Edmund, der offenbar in einer Kutsche hinter ihnen fährt. Für Fanny geht die Fahrt durch unbekanntes Gelände. Sie ist froh darüber, dass die Mitreisenden sie nicht ins Gespräch einbeziehen. Denn:

Her own thoughts and reflections were habitually her best companions; and in observing the appearance of the country, the bearings of the roads, the difference of soil, the state of the harvest, the cottages, the cattle, the children, she found entertainment that could only have been heightened by having Edmund to speak to of what she felt.

Ihre eigenen Gedanken und Überlegungen waren stets ihre besten Gefährten; sie betrachtete die Landschaft, folgte dem Verlauf der Straßen, vermerkte die Unterschiede in der Beschaffenheit des Bodens, den Stand der Ernte, sah die Hütten, das Vieh, die Kinder und fand darin ein Vergnügen, das sich nur dann noch hätte steigern lassen, wenn sie Edmund an ihrer Seite gehabt und mit ihm über ihre Empfindungen hätte sprechen können.

Die Landschaft, die Fanny beobachtet, wird sprachlich in zwei Schritten entfaltet. Zuerst haben wir im englischen Original vier Genitivkonstruktionen:

  • the appearance of the country
  • the bearings of the roads
  • the difference of soil
  • the state of the harvest

Dann folgen drei Substantive:

  • the cottages
  • the cattle
  • the children

Alles, was Fanny sieht, hängt an dem Verb “observing”, einem Partizip, das weiterführt: “in observing (…) she found entertainment”. Auch mit dem Wort “entertainment” sind wir noch nicht am Ende des Gedankens angekommen. Denn es gibt etwas, was Fannys Vergnügen noch hätte steigern können, und das ist Edmund. Er ist in Fannys Geist noch gegenwärtiger als das sinnliche Vergnügen des Betrachtens. Auf ihm liegt denn auch der Schwerpunkt des ganzen Satzes, der erst auf dem “what she felt” zum Stehen kommt.

Die Komposition ist vielschichtig angelegt. Zum einen wird die unmittelbare Wahrnehmung der Landschaft durch Tempowechsel belebt. Die Vierer-Reihe wird zur Dreier-Reihe verkürzt, überdies beschleunigt der Wegfall des Genitivs den Satz. Zum anderen bauen die Verben einen übergeordneten Spannungsbogen auf, von “observing” bis zu “felt”.

Das alles erkennt man beim Lesen kaum, und doch nimmt man es wahr. Jane Austen schleicht sich mit diesen musikalischen Kompositionsprinzipien in unser Unbewusstes. Wir sehen und fühlen, was Fanny sieht und fühlt, zugleich entsteht durch Jane Austens stilistische Pirouetten eine Distanz: Wir sehen, was erzählt wird, und wir genießen die Form.

William H. Gass’ unterscheidet in seinem Essay “The Nature of Narrative” zwischen “story” und “fiction” (in: Tests of Time):

Story is eager to reach its climax, fiction is all foreplay.
(Die Geschichte strebt zum Höhepunkt, die Fiktion widmet sich ganz dem Vorspiel.)

Dass man die Gesetzmäßigkeiten dieses scheinbar unscheinbaren Satzes auf der Seite 99 beim gewöhnlichen Lesen nicht erkennt, trägt zu seiner Wirkung bei. “Stil ist, wenn man’s nicht merkt”, sagt Felicitas Hoppe.

Ich bin selbst erst durch den Vergleich von zwei Übersetzungen auf diese Finessen aufmerksam geworden, und zwar ex negativo. Denn sowohl die Neu-Übersetzung von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié als auch die ältere Übersetzung von Christian und Ursula Grawe weichen auf interessante Weise von Jane Austens Komposition ab.

Allié/Kempf-AlliéGrawe
Her own thoughts and reflections were habitually her best companions; and in observing the appearance of the country, the bearings of the roads, the difference of soil, the state of the harvest, the cottages, the cattle, the children, she found entertainment that could only have been heightened by having Edmund to speak to of what she felt.
Ihre eigenen Gedanken und Überlegungen waren stets ihre besten Gefährten; sie betrachtete die Landschaft, folgte dem Verlauf der Straßen, vermerkte die Unterschiede in der Beschaffenheit des Bodens, den Stand der Ernte, sah die Hütten, das Vieh, die Kinder und fand darin ein Vergnügen, das sich nur dann noch hätte steigern lassen, wenn sie Edmund an ihrer Seite gehabt und mit ihm über ihre Empfindungen hätte sprechen können.
Her own thoughts and reflections were habitually her best companions; and in observing the appearance of the country, the bearings of the roads, the difference of soil, the state of the harvest, the cottages, the cattle, the children, she found entertainment that could only have been heightened by having Edmund to speak to of what she felt.
Wie immer waren ihre eigenen Gedanken und Überlegungen ihre besten Gefährten, und ihr Vergnügen, das Landschaftsbild, den Verlauf der Straßen, die Verschiedenheit des Bodens, den Stand der Ernte, der Häuser, des Viehs, der Kinder zu beobachten, wäre nur noch dadurch zu steigern gewesen, dass sie Edmund von ihren Empfindungen hätte berichten können.

Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié verändern die Struktur des zweiten Genitivs:  “sie betrachtete die Landschaft, folgte dem Verlauf der Straßen, vermerkte die Unterschiede in der Beschaffenheit des Bodens, den Stand der Ernte”. Christian und Ursula Grawe wiederum vermeiden den Wegfall des Genitivs, indem sie den letzten Genitiv sinnwidrig! auf die nächsten drei Begriffe ausweiten: der “Stand der Ernte” setzt sich demnach fort in den Stand der Häuser, des Viehs, der Kinder.

Auch mit den Verben verfahren die beiden Übersetzungen anders als das Original. Englische Partizipial-Nebensätze sind in der deutschen Wiedergabe oft ein Problem. Beide Übersetzungsteams haben dafür eine Lösung gefunden, allerdings in ganz unterschiedlicher Weise.

Die Alliés wagen einen fundamentalen Eingriff in die Satzstruktur. Sie machen aus dem Partizip “observing” vier finite Verben. Fanny “betrachtete”, “folgte”, “vermerkte”. Und sie “sah”: von diesem Verb hängen die drei Substantive der zweiten Reihe ab, womit die Beschleunigung teilweise erhalten bleibt. Doch die Aufteilung von “observing” in vier Verben macht den Satz schwerfällig. Was bei Austen in der Luft schwebt, wird bodenständig.

Die Grawes sind zurückhaltender. Sie ersetzen die typisch englische Satzstruktur durch eine im Deutschen natürliche Syntax. Aus “in observing she found entertainment that could only have been heightened” wird “ihr Vergnügen zu beobachten, wäre nur zu steigern gewesen”.

Auch das Ende des Satzes, in dem sich Fannys ganze Sehnsucht sammelt, wird unterschiedlich wiedergegeben.

Allié/Kempf-AlliéGrawe
that could only have been heightened by having Edmund to speak to of what she felt.
das sich nur dann noch hätte steigern lassen, wenn sie Edmund an ihrer Seite gehabt und mit ihm über ihre Empfindungen hätte sprechen können.
that could only have been heightened by having Edmund to speak to of what she felt.
wäre nur noch dadurch zu steigern gewesen, dass sie Edmund von ihren Empfindungen hätte berichten können.

Die Alliés fügen ein erklärendes “an ihrer Seite gehabt” dazu, dies versetzt Fannys allumfassende Sehnsucht nach Edmunds Gegenwart in die konkrete Situation in der Kutsche.

In der Wortwahl sind sich die beiden Übersetzungen ähnlich:

  • mit ihm über ihre Empfindungen sprechen
  • ihm von ihren Empfindungen berichten

Beide Lösungen verwandeln das Verb “felt” in das Substantiv “Empfindungen”. Dies nimmt der Formulierung etwas von ihrer Unmittelbarkeit: Über das sprechen, was man fühlt, ist näher am Geschehen als ein Gespräch (oder gar Bericht) über Empfindungen. Die Alliés haben überdies eine bremsende Häufung von Präpositionen im Satz: “an ihrer (…) mit ihm (…) über ihre”.

Stil ist Ökonomie. So verwundert es nicht, dass der Zauber dieses Satzes nebst der Virtuosität in der Aufladung durch äußerste Schlichtheit besteht:

to speak to of what she felt.

Die Schlusswendung dieses Satzes wird durch zwei Bögen rhythmisiert: “to speak to” und “of what she felt”, eine Coda aus lauter einsilbigen Wörtern, wie es nur im Englischen möglich ist. Man verliert beim Lesen keine Energie an Vor- und Endsilben, sondern ist direkt im Stoff.

Angaben zum Buch
Jane Austen
Mansfield Park
Roman • Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
S. Fischer Verlag 2017 • 576 Seiten • 22 Euro
ISBN: 978-3103972719
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel

Angaben zum Buch
Jane Austen
Mansfield Park
Roman · Aus dem Englischen von Christian und Ursula Grawe
Reclam Taschenbuch 2016 · 617 Seiten · 7,95 Euro
ISBN: 978-3150204078
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel
Bildnachweis
Beitragsbild: Sieglinde Geisel
Buchcover: S. Fischer Verlag

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

2 Kommentare

  1. Die Kritik ist gut nachzuvollziehen. Im zitierten Satz geht es m. E. vor allem um den Gegensatz von „beobachten“ und „sprechen“: das Beobachten entspricht dem Verhältnis zu guten Bekannten („companions“). „Observing“ erhält durch die Aufzählungen Gewicht, fröhlich geht es über Stock und Stein, alles bewegt sich auf der gleichen Ebene. Mit „heightened“ bewegt sich die Sprache am Ende auch tonal in den emotionalen Himmel – wo sprechen und fühlen zusammentreffen. Die zusätzlichen Verben bei Allié macht die Übersetzung nicht nur schwerfälliger, sie verwischt auch die Opposition von beobachten und sprechen. Interessant ist, dass beide Übersetzungen das Substantiv „Empfindungen“ verwenden statt etwa „was sie fühlte“ zu nehmen. Vielleicht liegt die Ursache in „zu viel Bildung“: die Übersetzer hatten die „Empfindsamkeit“ im Kopf (Austen gewiss nicht).

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  2. Der Vergleich zwischen Original und Übersetzung gibt viel her. Manche Texte verdienen es, dass man mal mit der Lupe draufschaut und die eigene Leserwahrnehmung schärft. In einem kleinen Blogbeitrag habe ich mir den ersten Satz aus Jane Austens Roman «Sense and Sensibility» (1811) vorgenommen und die sieben deutschen Übersetzungen nebeneinandergestellt. Eigentlich erstaunlich, dass «The family of Dashwood had been long settled in Sussex» so viele Variationen zulässt. Das ist auch das Faszinierende an den Übersetzungen: Sie dürfen den Ton variieren, während das Original unverrückbar bleibt, auch wenn sich die Lesart wandelt. http://magoria.ch/wp/jane-austen-fuer-kopf-und-herz/

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