Es gibt eine Reihe von Büchern, die Deutschland und die deutsche Identität zu erklären versuchen.
Dazu gehören Bände wie:
- Die Erfindung der Deutschen. Wie wir wurden, was wir sind. Hg von Klaus Wiegrefe und Dietmar Pieper (Deutsche Verlags-Anstalt 2007)
- Die Deutschen und ihre Mythen. Von Herfried Münkler (Rowohlt 2010)
- Die deutsche Seele. Von Thea Dorn und Richard Wagner (Knaus 2011)
- Der deutsche Genius. Von Peter Watson (btb 2014)
- Deutsche Erinnerungsorte. Band 1-3. Hg. Von Etienne François und Hagen Schulze (C.H. Beck 2001)
Was ist Deutsch? Das ist die Frage, die alle diese Bücher auf die eine oder andere Weise stellen. Kein Italiener würde über die „Erfindung“ der Italiener reden, dies obwohl Italien ebenfalls eine „späte“ Nation ist.
Reich an Grenzen
Nun also ein weiteres Buch über das Wesen der Deutschen – diesmal von den Grenzen ihres Landes her gesehen. „Reisen durch die Mitte Europas“ – mit diesem Untertitel machen Burkhard Müller und Thomas Steinfeld klar, dass es in Deutsche Grenzen nicht nur um Deutschland geht, sondern um den ganzen Kontinent, als dessen Herz sie Deutschland sehen.
Deutschland ist eines der an Grenzen reichsten Länder der Welt: Kein anderes Land grenzt in Europa an mehr andere Länder. Deutsche Grenzen versammelt elf Reisen, auf denen die Autoren „deutsche Grenzen in Augenschein nehmen“.
Das Wort „Grenze“ klingt, als wäre es ein urdeutsches Wort. Aber das ist es nicht. Vielmehr ist es selbst ein Grenzgänger. Es kommt herüber von jenseits der unbeständigsten und wildesten unter den vielen Grenzen dieses Landes: aus dem Slawischen, genauer, aus dem Polnischen.
Es waren die Ordensritter, die im 13. Jahrhundert das polnische Wort „greniz“ in den Westen brachten. Das deutsche Wort für Grenze war damals das Wort „Mark“:
Es bezeichnet keine Linie, sondern einen Grenzraum, ganz besonders aber den Grenzwald, den zwei potenziell feindliche Volksgruppen zwischen sich stehen lassen um sich nicht in die Haare zu geraten.
Die ersten Zeilen geben den Ton des ganzen Buches wieder. Mit Leichtigkeit und Ironie betreten die Autoren das verminte Gelände der deutschen Geschichte.
Vieldeutige Grenzen
Das Buch ist, trotz des Untertitels, kein klassisches Reisebuch, sondern ein „Gemeinschaftswerk“ der beiden Autoren, manchmal habe der eine, manchmal der andere das eigentliche Schreiben übernommen. Wenn die Biografie der Autoren eine Rolle spielt, wird manchmal auch die Ich-Form benutzt:
Jeder kommt irgendwoher. Thomas Steinfeld aus Ostwestfalen, ich aus Unterfranken. Zur Herkunft gehört es, dass sie ihre Grenzen in sich trägt und dass ein Kind sie nicht erkennt, weil seine Welt diesseits endet.
Gerade diese Ungewissheit der Grenzen scheint es auch bei erwachsenen Deutschen zu geben, das zeigt auch die immer wieder neu gestellte Frage nach der deutschen Identität. Deswegen möchten Burkhard Müller und Thomas Steinfeld die Vieldeutigkeit der deutschen Grenzen sichtbar machen. „Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ – die Grenzen Deutschlands, wie sie in der heute aus der Öffentlichkeit verbannten ersten Strophe der Nationalhymne einst besungen wurden, sind das Thema des längsten Kapitels. Zunächst war diese Strophe Programm, später Realität. Wie viele Menschenleben diese Grenzen gekostet haben, ist allen bewusst. Weniger bekannt ist dagegen, dass diese Hymne vor der Entstehung Deutschlands als Nation geschrieben wurde und überdies außerhalb der deutschen Grenzen: 1841 auf Helgoland, unter englischer Besatzung.
Was Ortsnamen erzählen
Die Autoren zeigen uns, wie beweglich die Grenzen des Landes bis vor siebzig Jahren waren. Regionen wie Schlesien oder Preußen, die eine stiftende Bedeutung für die deutsche Nation hatten und gewissermaßen die Wurzeln Deutschlands darstellen, befinden sich außerhalb der heutigen Grenzen. Die Reise ins Memelland – die den Autoren einen großen Umweg um die russischen Enklave Kaliningrad, das ehemalige Königsberg, abverlangte – zeigt noch etwas anderes, und zwar die Ortsnamenänderungen, die die Ausdehnung und das Schrumpfen Deutschlands zur Folge hatten. Zum Beispiel der litauische Ort Taurage:
Dieser Name sagt: hier verlief einst die Grenze zwischen der Wildnis und ihrer Verwertung. Der deutsche Name, Tauroggen, zugleich jünger, weil er dem litauischen sich erst anverwandelte, und älter, weil er seit fast hundert Jahren nicht mehr gilt (das nationalsozialistische Intermezzo einmal abgerechnet), knüpft halb unbewusst an andere Dinge an: den Roggen, das Charaktergetreide des ostelbischen Ackerbaus, und den Tau, Inbegriff der Morgenfrühe, in der bäuerlicher Fleiß sich bereits zu regen beginnt. Ein Name des Aufbruchs.
Auf ehemals preußischem Gebiet findet man viele dieser Namensänderungen, die von einer bewegten Geschichte erzählen: Nidden/Nida, Memel/Klaipeda, und Thorn/Torun:
Torun ist die Heimatstadt von Nikolaus Kopernikus. Keine Einigung wurde je erzielt, ob es sich bei ihm um einen Deutschen oder Polen handelt. Er selbst hat sich zu dieser Frage nicht geäußert.
Trennung der Konfessionen
Burkhard Müller und Thomas Steinfeld betrachten den Begriff Grenze unter mehreren Blickwinkeln. Es gibt politische und geografische Grenzen wie den Limes, die innerdeutsche Grenze oder den Rhein als Deutschlands Strom und manchmal auch Deutschlands Grenze. Das Kapitel über die deutsche Kleinstaaterei beschreibt mit viel Wissen und Ironie die Exzesse des deutschen Partikularismus, wobei auch religiöse Grenzen eine Rolle spielen: Am Beispiel der Gemeinde Euerbach („Ein Dorf als Staat“) wird veranschaulicht, wie die Trennung zwischen katholisch und protestantisch nicht nur Bundesländer, sondern auch Dörfer spaltet.
Doch das Buch von Müller und Steinfeld ist viel mehr als eine Sammlung von verschiedenen Arten von Grenzen. Denn hinter allen Geschichten und Anekdoten gibt es einen grundlegenden Gedanken: Grenzen erzählen Geschichte, und die deutschen Grenzen erzählen die bewegliche und tragische Geschichte der Mitte Europas.
Deutsche Grenzen. Reisen durch die Mitte Europas
Die Andere Bibliothek 2018 · 400 Seiten · 42 Euro
ISBN: 978-3847703983
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