In seiner Aphorismensammlung Einbahnstraße (1928) bezeichnet Walter Benjamin den Kritiker als “Strategen im Literaturkampf”. In der Rubrik “Einbahnstraße” beschäftigen wir uns mit den Literaturkämpfen und Scharmützeln der Gegenwart.

Was am Ende eines Schriftstellerlebens bleibt, sind „letzte Zettel“, unleserliche Aufzeichnungen und – bestenfalls – das Ausweichen ins Bildkünstlerische. 1984 veröffentlichte der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer (1916-1991) ein Buch mit Collagen, dem er den Titel Endlich allein gab. Im Vorwort zu diesem Buch notiert er:

Wer sagt, dass ich aus der Realität ausgestiegen bin, hat recht.

Es war ein lange vorbereiteter Abschied von der Literatur. Bereits in Hildesheimers Roman Masante (1973) hatten sich die beiden Protagonisten Alain und Maxine, „zwei gescheiterte Existenzen“, in einer finalen Lage eingerichtet, am Rand einer Wüste, im Lokal „La dernière chance“, in dem sich das Leben „in einem stationären Stadium des Erlöschens zu bewegen“ scheint. Und in Masante finden sich auch schon die Formeln für jenes fatalistische Weltgefühl, für das Hildesheimer berühmt geworden ist:

Meine Welt ist erkannt und ausgebeutet. Sie gibt keinen guten Satz mehr her. Den Punkt setzen, den Schlussstrich ziehen, meine Zeit ist vorbei.

Den Schlussstrich zog Hildesheimer dann ein paar Jahre später. Angesichts der ökologischen Verwüstung und Ausplünderung der Erde, erklärte er 1984 in einem Interview, sei es an der Zeit, Abschied zu nehmen: „Ich glaube, dass in wenigen Generationen der Mensch die Erde verlassen wird“, da sei „der faktische Evidenzverlust der Literatur“ mit Händen zu greifen. Danach produzierte er nur noch Collagen, Schattenbilder vom eigenen Verstummen.

Einen Schlussstrich hat kürzlich auch der Schriftsteller Reinhard Jirgl gezogen. Auch das hat mit der Einsicht in den faktischen Evidenzverlust der Literatur zu tun, von dem Hildesheimer spricht. Der mittlerweile 65jährige Jirgl hatte erkannt, dass die Bereitschaft, sich mit seiner bis ins einzelne Satzzeichen eigensinnigen Literatur auseinanderzusetzen, auf beschämende Weise geschwunden ist. Niemand kann mehr zuhören, angesichts der digitalen Überinformiertheit schwindet die Lust an genauer Lektüre – angesichts dessen bleibt offenbar nur noch der Rückzug. „Mit Beginn des Jahres 2017“, so die lapidare Mitteilung auf der Homepage des Hanser Verlags, „hat Reinhard Jirgl sich vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Er verzichtet auf Lesungen sowie andere Auftritte, desgleichen auf jede Publikation seiner auch weiterhin entstehenden Manuskripte. Alle neu geschriebenen Texte verbleiben in Privatbesitz.“ Jirgls Verleger Jo Lendle zeigte sich fassungslos. Ansonsten währte die Irritation über den Ausstieg des Büchnerpreisträgers von 2010 aber nur kurz, man geht zur literarischen Tagesordnung über. Doch deren Agenda wirft immer weniger Reizwerte ab.

Der Ekel vor den Mechanismen eines indifferenten Literaturbetriebs hatte um die Jahrtausendwende auch den Literaturkritiker Lothar Baier erfasst. Er, bis dahin einer der substanziellsten Publizisten Deutschlands, verließ das Land und zog nach Kanada in die Nähe von Montreal. Nach und nach verlor er seine Arbeitgeber in Deutschland, und der Verdruss über die Geschichtsblindheit seiner Kollegen nahm zu. Hinzu kam das Desaster einer gescheiterten Liebe. Seine Freundin hatte ihn gewalttätiger Übergriffe bezichtigt, und die kanadische Polizei hatte ihn vorübergehend inhaftiert. Erst nach einem zeitraubenden und kostspieligen Prozess konnte er, rehabilitiert, das Gefängnis verlassen.

Neben dem physischen gibt es auch das soziale und kulturelle Altwerden und das scheint sich mir gerade in dem Maß zu beschleunigen, in dem ich Anstrengungen unternehme, den Anschluss nicht zu verlieren und neuen Entwicklungen zu folgen.

So schreibt Baier in seinem Abschiedsbrief. Im Juli 2004 wurde er erhängt in seiner Wohnung aufgefunden – die Indifferenz des Literaturbetriebs mag, nebst den Depressionen, an denen er während seines ganzen Lebens gelitten hatte, dazu beigetragen haben. Der Schriftsteller Hans Christoph Buch hat im dritten Teil seines soeben erschienenen autobiografischen Romans an die tragische  Geschichte Lothar Baiers noch einmal erinnert. Der Titel von Buchs Werk Stillleben mit Totenkopf wirkt wie ein Bild für die Agonie des Literaturbetriebs, die manche Autoren zur Verzweiflung treibt. Sie wählen dann eine Exitstrategie – als Alternative zum Weitermachen um jeden Preis.


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Bildnachweis:
Von Haeferl (Eigenes Werk) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons
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Von Michael Braun

Literaturkritiker (NZZ, DLF u.a.), lebt in Heidelberg. Foto: Britta Roski

7 Kommentare

  1. Jochen Schimmang 13. März 2018 um 12:44

    Lieber Michael Braun, selbstverständlich ist das literarische Verstummen die eigentlich angemessene Reaktion auf die Tatsache, dass unsere Gattung in wenigen Generationen ausgelöscht sein wird (zum Wohle des Planeten, muss man sagen). Die Marginalisierung von Literatur hat spätestens Ende der 60er begonnen, und sie ist längst vollendet, ungeachtet der Tatsache, dass der Betrieb und die Eventkultur brummen wie nie zuvor. Das Problem ist nur, dass öffentliche Statements wie die von Hildesheimer und jetzt Jirgl zwangsläufig selbst noch einmal Ereignisse des Betriebs sind. Und sie sind nötig, weil der Betrieb das Verstummen sonst gar nicht bemerken würde. “Literarisches Gedächtnis” ist ein Begriff, dem bei uns seit ca. 2 Jahrzehnten keine Realität mehr entspricht.

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  2. Aus dem zweiten Tagebuch Max Frisch:

    “Interview-Antwort

    […]
    Zuständigkeit der Literatur? Die Erkenntnis-Vorstöße unseres Jahrhunderts verdanken wir nicht der Literatur. Wer von der Literatur erwartet, daß sie das Weltbild bestimme, wird also von einem gewissen Minderwertigkeitsgefühl nicht verschont bleiben. Zwar spiegelt die Literatur, die ihren Namen verdient, die Verwandlungen unseres Bewußtseins, aber sie spiegelt sie nur; die Anstöße zur Verwandlung unseres Bewußtseins kommen anderswoher. Erübrigt sich damit die Literatur?
    […]”

    (1972)

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  3. Raul Regenzwei 15. März 2018 um 12:43

    Ich möchte Ihnen, also Herrn Braun und Herrn Schimmang widersprechen, und auch Hildesheimer, Jirgl, Baier, aber das geht ja nicht, denn jeder sagt was Anderes aus einer anderen Position heraus. Ich würde von Schimmang gerne wissen, wie er den Skandal um die Satanischen Verse bewertet. War das, weil es mehr als 2 Jahrzehnte her ist, also noch in der Zeit, wo mehr als heute Literarisches Gedächtnis verbreitet war? Ottmar Ette hat die Idee der Konvivenz entworfen, bei der es um das Zusammenleben der Kulturen und ihrer Literaturen geht. Er entwickelt damit Ideen von Auerbach und Rorty weiter. Das sind akademische Betrachtungen, aber sie stellen für mich die These auf, dass Literatur immer noch etwas vermag, das andere Ausdrucksformen innerhalb und außerhalb der Kunst nicht können. Jedem fällt doch das was Anderes ein, worin er Literatur als eine Kraft empfindet, aber bei allgemeinen Aussagen zum allgemeinen Niedergang bin ich skeptisch.

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    1. Jochen Schimmang 15. März 2018 um 23:53

      Lieber Herr Regenzwei, ich möchte Ihren Einwand mit dem Verweis auf Rushdie nicht unbeantwortet lassen. Die damaligen Reaktionen, d. h. die Fatwa, war eine politische, meinetwegen auch religiöse Aktion, sie spricht nicht wesentlich für die Wirkmacht von Literatur. Auch unser aller empörte Reaktionen auf die Fatwa waren ja politische, es ist kaum davon auszugehen, dass auch nur die Hälfte der damals Empörten – zu denen ich selbstverständlich auch gehörte, denn es handelte sich ja um einen öffentlichen Mordaufruf – Rushdies Roman überhaupt gelesen hat. Ich habe es jedenfalls nicht getan.
      Dass Literatur “immer noch etwas vermag”, bleibt natürlich unbestritten. Und zwar bei jedem einzelnen Leser vielleicht sogar etwas Anderes. Und auch viel, unter Umständen. Das konstituiert aber noch kein öffentliches literarisches Gedächtnis.

  4. Raul Regenzwei 19. März 2018 um 14:04

    Lieber Herr Schimmang, Sie und ich bedienen uns dieser Seite wie eines virtuellen Salons, Danke an Frau Geisel für das Schaffen der Atmosphäre zum Diskutieren und Danke an Sie, dass Sie den Kommentar gelesen und beantwortet haben. Rushdies Satanische Verse sind mehr als zwanzig Jahre her, der Streit um sie kann also nicht belegen, was Literatur zur Zeit für eine Rolle einnimmt. Ich habe die Satanischen Verse angeführt, weil sie für mich einen Roman darstellen, der in der von Europa aus gesehenen peripheren Welt mehr Wirkung hatte als dort, wo er verfasst wurde, in Europa. Ich fand es damals faszinierend, dass auf den amazon.com Seiten Debatten tobten von Lesern aus Pakistan und Nachbarländern. Ich weiss nicht, wie stark zum Beispiel Americanah von Adichie ausserhalb der USA wahrgenommen wurde, doch der Roman hat auf amazon fast viertausend Kommentare und Adichie hat einer französischen Journalistin geantwortet: “My books are read in Nigeria. They are studied in schools. Not just Nigeria, across the continent in Africa.”

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  5. Na ja, die Satanischen Verse sind halt Wirkmacht des Schreibens unter/gegen Zensur. Regimes, die sich explizit der Exklusion von Themen bedienen, leisten solcher Wirkmacht natürlich Vorschub; alter Hut. Im Paradies der freien Meinungen ist das dann schon was anderes… obwohl natürlich auch hier (indexing; Lance Bennett)… bei uns kommen Handkes Serbien-Essay und Ähnliches in den Sinn. Aber ich finde, um die Indifferenz des “Betriebs” geht es v. a. bei Hildesheimer nicht (nur). Sondern um einen sehr alten und sehr grundsätzlichen und niemals wirklich auszuräumenden Zweifel an der Funktionalität von Narrativen und Kunst. Es ist schon interessant dass er die ökologische Krise in den Mittelpunkt stellt. Weniger verzweifelt tut dies auch Amitav Ghosh in seiner “Großen Verblendung”. Mich beeindrucken solche Kommunikationsverweigerungen immer wieder, und sie sind – ja, diesem Paradox ist nicht zu entkommen, solange man eben unter Menschen lebt – kommunikativ bedeutsam.

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    1. Da hast du bestimmt recht, Manuel, wenn du darauf verweist, dass sich die Frustration nicht nur auf den Betrieb bezieht. Der unauflösbare Widerspruch aller Literatur besteht wohl darin, dass sie die Welt nicht verändern kann, sondern nur den einzelnen Leser, und das dann jedesmal auf andere Weise. Diese Wirkung ist für die Autoren nicht sichtbar, es sei denn, sie ließen sich zu einem Dialog mit ihren Lesern herab, indem sie diese so ernst nehmen wie sich selbst, und das tun die wenigsten. Dann jedoch bleibt der Betrieb – die öffentlich sichtbaren Leser, also die Literaturkritik – als einziger Adressat.

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