Die „Heldin“ in Anne Webers Roman Annette, ein Heldinnenepos heißt Annette Beaumanoir, sie ist 95 Jahre alt und lebt in Dieulefit im Süden Frankreichs. Weber hat ihr lange zugehört und sich gefragt, wie das Leben dieser Heldin zu erzählen sei. „Wie aber von Annettes Sehnen und Trachten, von ihren Zweifeln und Heldentaten erzählen? Müssten diese nicht besser gesungen werden?“, heißt es im Klappentext.

Und so hebt der Gesang an:

Sie ist sehr alt, und wie es das Erzählen will,
ist sie zugleich noch ungeboren. Heute,
da sie 95 ist, kommt sie
auf diesem weißen Blatt zur Welt –
in eine undurchdringliche Leere.

Ein starker Aufschlag, ein wenig melancholisch, zugleich paradox und befreiend. Das Ende ist nicht das Ende, sondern kann Anfang von etwas sein, gerade dann, wenn die Geschichte vom Ende her erzählt wird. Darin eben liegt die Kraft des Epos und auch der Chronik. Anne Weber verbindet beides miteinander: hier der Rhythmus einer gesungenen Sprache, dort die nüchterne Aufzählung von Ereignissen.

Widerstand und Flucht

Die Erzählerin blickt mit dem Wissen von heute auf das Geschehene zurück. Das schafft zum einen Distanz, zum anderen aber durchdringen sich individuelles Leben und Weltgeschehen auf teilweise beklemmende Weise. Dadurch schwindet die Distanz und der Leser beginnt in manchen Passagen um die Heldin zu fürchten und zu fiebern.

Annettes Geschichte ließe sich so zusammenfassen: Sie wächst in der Bretagne auf, schließt sich als junge Frau 1942 der kommunistischen Résistance an, wird nach dem Krieg Ärztin in Marseille und gerät erneut in den Widerstand, dieses Mal gegen die französische Algerienpolitik. Sie wird Ende der 1950er Jahre Kurierin für die algerische Befreiungsbewegung FLN und wird gefasst. Ihr droht eine zehnjährige Gefängnisstrafe, der sie sich durch Flucht entzieht, zunächst nach Tunis ins Hauptquartier der FLN, 1962 weiter nach Algier, nachdem der neue unabhängige Staat ausgerufen wurde. Ihre drei Kinder und ihren Mann muss sie zurücklassen – Anlass für einen nicht mehr endenden Schmerz.

Atmosphäre des Ungewissen

Aus diesem Schmerz bricht immer wieder die Frage auf: „War es das wert?“ Zweifel, Ungewissheit und Unsicherheit begleiten Annette ein Leben lang, selbst in den kämpferischen Phasen. Der epische Gesang Anne Webers vermag es, die Atmosphäre des Ungewissen, Ungefähren und Paradoxen über die Ereignisse zu legen, die manchmal lakonisch erzählt werden:

Geboren wird Annette in einer Sackgasse,
und das nicht bloß im übertragenen Sinne
wie wir alle. Das Haus der Großmutter schließt
eine Reihe unverputzter Fischerhäuschen ab, die
mit ihm unvermittelt endet vor dem Fluss.

Nur Träume scheinen aus der Sackgasse heraus zu führen. Anne Webers Sprachrhythmus verdichtet immer wieder die dynamische Durchdringung von Traum und Wirklichkeit. So etwa, als auf Annette im Sommer 1944 ein Verdacht der Untreue fällt und sie für eine gewisse Zeit „zum Aprikosenpflücken“ in die Provence geschickt wird:

[…] Der Lavendel blüht, die
Kirschen schaukeln prall und dunkelrot an ihren
Zwillingszweigchen. Alles geschieht zur selben Zeit
und in derselben Welt, man kann es wissen, ja,
man weiß es, aber ohne es zu wissen, denn alle
ferne Wirklichkeit ist ungewiss und, wie ein Traum,
nicht zu ergreifen.

Abbruch aller Beziehungen

Annette könnte vieles wissen, doch sie schaut nicht hin, bis ihr das Leben traumhaft entgleitet – unter den Mühlrädern von Kämpfen und Ereignissen, die sie so nicht gewollt und sich so nicht vorgestellt hat. Schon als zwanzigjährige Kämpferin der Résistance wird sie zum „Niemand“. Ihr Freund wird erschossen, von ihren Eltern ist sie getrennt, überhaupt verlangt die konspirative Arbeit im Untergrund den Abbruch aller Beziehungen. Doch selbst innerhalb der Bewegung kennt sie nur ein oder zwei Mitkämpfer, um der Gefahr vorzubeugen, unter Folter jemanden zu verraten.

[… so] rutscht sie immer weiter raus aus der Gesellschaft,
für die sie sich von ihrem Studium, von Freunden
und Verwandten, von dem Geliebten und sogar vom
eigenen Leben trennt oder bereit ist sich zu trennen.
Während sie so tut, als wäre sie ein Mensch wie alle anderen,
also sich jeden Morgen anzieht und das Haus verlässt,
vielmehr die Häuser, in denen sie mal unter diesem, mal
unter jenem Namen wohnt, um abends heimzukommen
wie von einer Arbeit, während sie also tut wie ein soziales
Wesen, ist sie allein und einsam wie auf einem Mond mit
ihren zwanzig Jahren. Und wie Odysseus, dem auf
langer Reise seine Gefährten nacheinander starben, ist sie
von ihrer Herkunft, ihrer Geschichte abgetrennt […],
Sie bewohnt ihren eigenen Schatten. Und wie Odysseus könnte sie, gefragt nach ihrem Namen, nicht nur aus List, sondern
wahrheitsgemäß „Ich heiße niemand“ sagen.

Unbewusster Todeswunsch

Die Selbstaufgabe, die Aufopferung für ein Ideal, wird fortan zu Annettes Lebensthema. Sie will kämpfen, nur da spürt sie Leben, und zugleich ist da etwas in ihr, das sterben will. Der unbewusste Todeswunsch derjenigen, die sich der „großen Sache“ hingeben, ist gerade heute wieder aktuell, wobei das religiöse Motiv im Vordergrund steht.

Doch auch Annette, die an keinen Gott glaubt, ist von Gläubigkeit an die Idee ergriffen. Das ändert sich auch nicht, als nach dem Ende des Krieges gegen die Deutschen nun ein Krieg der Franzosen untereinander beginnt und sich die einstigen Genossen der gleichen Methoden bedienen wie die Gestapo. Sogar sie selbst lässt sich – wenn auch widerwillig – zum Bespitzeln anheuern. Was tut man nicht alles für die gute Idee? Und wieder schiebt sich der Traum vor die Wirklichkeit.

Wie wirklicher als jede Wirklichkeit ist manchmal der erträumte Mensch!

Wie alle Idealisten leidet Annette unter einer mentalen Erblindung. Blind gegenüber den Verbrechen, dem Verrat, der Gewalt, der Bestechlichkeit und anderen menschlichen Schwächen der führenden Köpfe, unterstützt sie die FLN, während sie zugleich ihr bürgerliches Leben als Mutter und angesehene Ärztin führt.

[…] Warum machst du da mit,
Annette, warum setzt du dein Leben ein für diese Leute? Nicht
für diese Leute, wirst du sagen, sondern für alle, für die
Menschheit, für das Prinzip von Gleichheit und
Gerechtigkeit, für einen Zweck.

Und immer wieder stellt sie sich selbst die Frage: „War es das wert?“

Ironische Moritaten

Anne Webers Gesang ist manchmal wie ein Rap, atemlos, oft auch komisch, wodurch besonders das tragische Moment der Verstrickung von Naivität, Idealismus und brutaler Wirklichkeit betont wird. Zuweilen sogar wird – höchst ironisch – der Tonfall einer Moritat à la Wilhelm Busch angeschlagen:

Hat vielleicht Tatendrang, hat
Zorn sie über eine Wirklichkeit getäuscht, die sie
noch gar nicht kannte und nicht kennen konnte […].
Vielleicht. Ob richtig oder falsch kann sie und kann
kein anderer je entscheiden, mal davon abgesehen,
dass es hier weder einen äußeren noch einen inneren
Richter braucht, höchstens so eine unmögliche Sache
wie eine nachträglich andere Entscheidung.
Den vielen Richtungen, die Leben nehmen kann,
ist aber eigen, dass sie allesamt nach vorne zeigen.

Oder auch so:

Der Vater ist ein weiser Mann, er sieht die Dinge
nicht so eng, wie man sie immer sehen kann.

Es handelt sich um den Vater ihres algerischen Geliebten von der FLN, der zugleich ihr Beschützer ist. Annette schafft es schließlich bis in die Regierung des neuen algerischen Staates. Doch alle Träume platzen, als 1965 das Land endgültig zur Militärdiktatur wird und Annette fliehen muss.

Einzelfall oder Prinzip?

Immer wieder wird Bezug genommen auf Albert Camus, der selbst aus Oran stammte und dessen Schriften Annette offenbar ein Leben lang begleitet haben, obwohl sie dem Autor meist nicht zustimmen konnte. Wenn zum Beispiel für die Gerechtigkeit in Algier Bomben in Straßenbahnen geworfen würden, in denen seine Mutter sitzen könnte, so Camus lakonisch, dann würde er sich für seine Mutter entscheiden. Und obwohl auch Annette Camus für einen guten Schriftsteller hält, stellt sie „im Gegensatz zu ihm das Prinzip dem Einzelfall voran, zumal sie noch so gut wie keine Einzelfälle kennt.“

Der sprachliche Rhythmus und die vielen poetischen und witzigen Pointen laden den Leser ein, in freier Bewegung in den Fluss des Textes einzutauchen und halten ihn zugleich in Atem: Vor jeder Katastrophe wird man schon auf diese eingestimmt und ist gespannt, wie es weiter geht. Dabei verändert sich auch der Blick auf unser Nachbarland. An diesem Land hängen all die unaufgearbeiteten Verbrechen und Traumata wie ein Mühlstein: von der Kollaboration mit den Nazis unter Vichy über die Lynchjustiz nach dem Krieg bis hin zu den grausamen Kriegen, Massenmorden und Folterorgien in Indochina und Algerien, nicht zu vergessen die für Tausende von Menschen tödlichen Atombombenversuche in der algerischen Wüste.

Beschädigte Seelen

Musste man dagegen nicht in den Kampf ziehen? Doch was ist, wenn, wie im Fall Annettes, die Kämpfenden dieser Welt das eigene Leben zugunsten von Idealen und Träumen aufgeben, aus denen sie jedes Mal ernüchtert, beschämt und in der Seele beschädigt aufwachen? Die Revolutionen haben noch immer ihre Kinder gefressen. Also doch lieber sich für den Einzelfall einsetzen? Vielleicht erfordert es mehr Mut, nicht abstrakten Idealen hinterherzulaufen, sondern hier und jetzt mit Leib und Geist und Seele präsent zu sein – für den leibhaftigen Anderen.

Ist es dies, was Annette uns am Ende ihres Lebens durch Anne Webers Komposition hindurch mitteilen möchte? Man weiß es nicht. Sie hat jedenfalls in der Autorin eine Person gefunden, die in ihrer Sprache den Schmerz aufsaugen und ihn uns miterleben lassen kann. Wird er leichter zu tragen sein, wenn er sich auf die Schultern der Leser verteilt?

Liebesblitz beim Diner

Die Autorin hatte die „Heldin“ bei einer Podiumsdiskussion kennengelernt. Danach gab es ein Diner, Annette und Anne Weber unterhalten sich bei Entenbrust und Tintenfisch. Dabei wird die Autorin vom „Liebesblitz“ getroffen, will heißen „kaum heimgekehrt, fährt sie gleich wieder hin zu Annette“, und schließlich beginnt sie zu schreiben.

Und so kommt Annette noch einmal zur Welt:

Der Tintenfisch beginnt nach einer Weile,
wie es sein Wesen will und wie er’s anders
gar nicht kann, nicht wenig Tintenschwärze
abzusondern, die er dort hinterlässt, wo er
im Augenblick zuvor noch war. Was von ihm
bleibt, ist eine schwarze Wolke, und in der
schwarzen, eng schraffierten Wolke lebt
weiß und blau Annette.
Camus war friedlich; Annette war es nicht.
Und doch ist sie es, die mit ihrer Existenz
etwas erhellt, was er geschrieben hat.

Bildnachweis:
Beitragsbild Bretagne, Lizenz: CC0 Public Domain

Anne Weber
Annette, ein Heldinnenepos
Roman
Matthes & Seitz 2020 · 208 Seiten · 22 Euro
ISBN: 978-3957578457

Bei Mojoreads oder im lokalen Buchhandel


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Von Frank Hahn

Freier Autor in Berlin und Vorsitzender des Vereins „Spree-Athen e.V.“, der regelmäßig ins Literaturhaus Berlin zu Vorträgen aus den Bereichen Philosophie und Literatur einlädt.

3 Kommentare

  1. Ein grundsätzlich sehr schöner Artikel. Schade, wurde in den vielen und ausführlichen Zitaten auf die Versform verzichtet. Damit wird über ein grundlegendes Gestaltungsmerkmal dieses Romans einfach hinweggelesen, als ob es keine Bedeutung hätte. Weil der im Text angesprochene Fluss des Textes zeichnet sich ja gerade auch durch den Hexameter aus.

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  2. Vielen Dank für Ihren Hinweis! Ich habe die Zeilenbrüche eingefügt. (Allerdings sehe ich keine Hexameter, sondern im Gegenteil eine sehr freie Versform.)

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    1. Wunderbar, vielen Dank fürs Anpassen, das liest sich gleich ganz anders. Sie haben natürlich völlig Recht, keine Ahnung welcher Moment geistiger Umnachtung mich zu dieser Annahme verleitet hat. Nun denn, schön sind die Verse ja trotzdem, auch im freien Versmass.

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