Was in die Höhe ragt wie eine Bergspitze, ist von weitem zu sehen. Es erregt unsere Aufmerksamkeit – doch können wir auch wegsehen. Der Tiefe dagegen können wir uns nicht entziehen. Oft erkennen wir nicht genau, was sich dort unten abspielt, denn die Spiegelung des Wassers hindert uns daran zu sehen, was sich unter der Oberfläche verbirgt. Und doch zieht uns eine magische Kraft dorthin. Wir sind ihr ausgesetzt wie der Erdanziehung.
Die deutsche Sprache sucht die Erkenntnis in der Tiefe. Das Wort Grund bezeichnet sowohl das französische fond (Boden) als auch raison (Erklärung). In der Begegnung mit einem Kunstwerk erlebt man die physische Bedeutung dieses Worts. Gedichte und Sinfonien durchdringen Körper und Geist von unten nach oben, wie die Vibrationen in einem Rockkonzert.
Echoraum in der Musik
So aufregend die Erfahrung der Tiefe sein kann – als Musiker sehe ich auch andere Möglichkeiten, einem Kunstwerk zu begegnen. Denn ein Kunstwerk wirkt nicht nur von unten nach oben, es kann sich in alle Dimensionen ausdehnen und auch wieder zusammenziehen. Die Richtung kann dabei wechseln: Beim Anhören von Musik erfahren wir immer wieder, dass die klangliche Oberfläche nicht in Konkurrenz steht zum Echoraum im Innern der Komposition. Im Gegenteil. Sie bedingen sich wechselseitig.
Die Fixierung auf die Tiefe in der Kunst kann zu ästhetischen Fehlschlüssen führen. Mozart hat sich kaum je zu seiner Musik geäußert. Gerade deshalb hat es seinen Reiz, in seinem Werk nach einer verborgenen Tiefe zu suchen.
In die Tiefen des Geisterreichs führt uns Mozart. Furcht umfängt uns, aber ohne Marter ist sie mehr Ahnung des Unendlichen.
So beschreibt es E.T.A. Hoffmann.
Wir müssen aufpassen, dass wir dabei nicht in Klischees verfallen. Mozart komponiert nur selten in Moll, doch wenn er es tut, wird das sofort als tiefgründig empfunden. Die g-moll Sinfonie gilt infolgedessen als der wahre, tiefe Mozart, Die kleine Nachtmusik dagegen gehört dann lediglich zur gehobenen, im Prinzip jedoch seichten Unterhaltungsmusik. Hanns Eisler bemängelt, dass man bei solchen Werken „das Geklapper des Teegeschirrs“ höre. Diese Wertung jedoch verkennt Mozarts Genie, das in beiden Kompositionen zum Ausdruck kommt.
Polyphonie der Wahrnehmung
Ist bei einem Kunstwerk von Tiefe die Rede, denke ich an einen Sog, der mich in eine bestimmte Richtung zieht. Bei Mozarts Musik dagegen erlebe ich eine Wirkung, die mir Räume eröffnet. Die Polyphonie der Wahrnehmung erlaubt es uns, Mozarts Werke in verschiedenen Schichten zu hören. Es ist wie bei einer Landschaft, in der sich die Differenz von Vorder- und Hintergrund durch die Schattierung der Farbe ausdrückt. Bei Mozart gilt das gleichermaßen für seine gewichtigen wie für seine leichten Werke.
In seinem berühmten Gute-Nacht-Kanon Bona Nox können wir miterleben, wie diese Wirkung entsteht.
Eine Stimme wird auf die andere getürmt, wie es in einem Zirkelkanon üblich ist. Was beim Motiv „Bona Nox“ oder „liebe Lotte“ noch eine fragmentarische Geste ist, verdichtet sich durch die Überlagerung der Stimmen zu einem konstanten Puls. Bei der Zeile „schlaf fei gsund – und reck‘ den Arsch zum Mund“ steigt die Melodie hinunter, „Mund“ ist noch einen Ton tiefer als „Arsch“. Nun entstehen vollständige Dreiklänge. Die Harmonien schwingen in einer regelmäßigen Bewegung, ohne dass die Feinheiten der Einzelstimmen übertönt werden. Es sind sanfte harmonische Wechsel, denn die Akkorde, die aufeinander folgen, haben jeweils eine oder zwei gemeinsame Tonhöhen.
Bewegung und Ruhe sind kein Widerspruch.
Eine kleine Imitation innerhalb der Melodie, die dann von den anderen Stimmen im Kanon imitiert wird, sorgt für Aufmerksamkeit: die ersten drei Töne von der „Bona-notte“ -Zeile werden bei „Good Night“ wiederholt.
Ein winziges Detail, das aber neue musikalische Beziehungen schafft, die sich ausbreiten wie ein Tropfen Milch, den man einer Tasse Tee zufügt. Das Gefühl von Weite, das ich dabei empfinde, ist meinem Gefühl von Glück verwandt.
Wenn die letzte Stimme eingesetzt hat, ist die Komposition zu Ende und der Kanon dreht sich im Kreis. Es könnte immer so weitergehen.
Wenn jemand schläfrig ist, soll er schlafen.
So formuliert es John Cage zwei Jahrhunderte später in Vortrag über Nichts.