Übersetzen ist eine Übertragung von einem Räderwerk in ein anderes: Erstens funktioniert jede Sprache anders (in ihrem grammatischen System, im Gebrauch, in der Stilistik), und zweitens funktioniert auch jeder literarische Text anders. Übersetzen ist Schreiben wie der Autor, aber mit den Mitteln der eigenen Sprache. Bringt dieses Neu-Schreiben den literarischen Text mit seinem Ton im Deutschen zum Funktionieren, zum Leuchten?

Jeder Literaturübersetzer stellt sich bei seiner Arbeit diese Frage, und sie führt direkt zur Übersetzungskritik. Daher läge es eigentlich nahe, dass wir Übersetzer uns selbst der Übersetzungskritik annehmen, unsere über lange Zeit erarbeiteten Kriterien verdeutlichen und zur Diskussion stellen. Wenn ich diesen Ansatz, erprobt im geschützten Raum von Workshops und Kollegendiskussionen, nun in die veröffentlichte Form übertrage, so deshalb, weil ich damit jene fundierte Übersetzungswahrnehmung anstoßen möchte, die wir Übersetzer uns wünschen und die zur Rezeption von Literatur dazugehören sollte, auch und gerade in der Literaturkritik.

Erneut anstoßen, sollte ich sagen. Denn grundsätzliche Überlegungen dazu gibt es schon länger: 1993 nahm Dieter E. Zimmer die heftig umstrittene Übersetzung von Lawrence Norfolks Roman Lemprieres Wörterbuch zum Anlass für einen Grundsatzartikel zur Übersetzungskritik.

Die stilistische Umsetzung literarischer Tonlagen

Bei Ein wenig Leben von Hanya Yanagihara handelt es sich nun keineswegs um einen skandalösen Fall, im Gegenteil. Stephan Kleiners Übersetzung von Ein wenig Leben wird in der Literaturkritik fast durchgehend hoch gelobt, und auch ich finde sie überwiegend gut, teilweise verdammt gut. Trotzdem gibt es Passagen, die mich bei der Lektüre verwundert und irritiert haben, und damit meine ich nicht gelegentliche Schnitzer, sondern sich durchziehende Lösungsansätze. Ohnehin sollte man die Qualität einer Übersetzung nicht am Beispiel einzelner Missgriffe kritisieren, so ärgerlich diese sein mögen – es sei denn, sie würden sich eklatant häufen. Beispiele braucht es natürlich. Aber mir geht es darum, Symptomatisches, Grundsätzliches in den Blick zu nehmen. Die Qualität einer Übersetzung steht und fällt damit, wie literarische Tonlagen stilistisch umgesetzt werden. Und gerade in dieser Hinsicht lohnt es sich, die deutsche Fassung von Ein wenig Leben genauer zu betrachten.

In meiner Stilanalyse habe ich auf die beiden verschiedenen Tonlagen sowie den Gebrauch von Bildern hingewiesen, aus deren Kombination die Sprachkraft von Yanagiharas Roman entsteht. Einerseits pflegt die Autorin eine relativ konventionelle Erzählweise, die für die „Normalität“ der Menschen um die Hauptfigur Jude steht. Sie  benutzt diese stilistische Effizienz auch für die nüchterne Beschreibung der Gewaltereignisse. Andererseits zeichnet sie die innere Selbstergründung der Figuren sprachlich nach: Das Suchen, Tasten und Kreiseln der Gedanken und Gefühle bildet sie in einer zweiten Tonlage ab.

Die Wucht von Yanagiharas erschütternden Bildern setzt Stephan Kleiner semantisch großartig um. Überhaupt fällt seine Wortwahl oft durch subtile Sorgfalt auf, auch in den Details. Für die reichhaltige Lebenswelt der Figuren und die vielschichtig-verschlungenen Innenwelten, die Yanagihara entwirft, findet der Übersetzer einen überzeugenden Wortschatz.

In der folgenden Rückblende – Jude ist im Kloster, in der ausweglosen Routine des Missbrauchs, und scheint erstmals einen Verbündeten zu finden – führt uns Yanagihara in detaillierten Etappen durch das Wechselbad von Judes Gefühlen, und die von ihr hervorgerufene emotionale Wirkung stellt sich dank Kleiners treffsicherer Wortwahl auch in der Übersetzung ein.

ÜbersetzungOriginal

Am Sonntag zuvor hatte er das Tischgebet sprechen sollen, und als er am Fuß von Pater Gabriels Tisch stand, überkam ihn plötzlich der Impuls, sich danebenzubenehmen, eine Handvoll der gewürfelten Kartoffeln aus der Schüssel vor sich zu nehmen und sie durch den Raum zu schleudern. Er konnte schon das Kratzen im Hals von den Schreien spüren, die er ausstoßen würde, das Brennen des Gürtels, der auf seinen Rücken klatschte, die Dunkelheit, in die er hinabsinken, die schwindelerregende Helligkeit des Tages, die ihn beim Erwachen begrüßen würde. Er sah zu, wie sein Arm sich an seiner Seite hob, sah seine Finger sich wie Blütenblätter öffnen und auf die Schüssel zuschweben. Und genau in diesem Moment hatte er den Kopf gehoben und Bruder Luke gesehen, der ihm zuzwinkerte, ohne zu lächeln, so kurz wie das Klicken einer Kamerablende, sodass er zunächst nicht genau wusste, ob er überhaupt etwas gesehen hatte. (207)

The previous Sunday, he was to recite aloud the pre-supper prayer, and as he stood at the foot of Father Gabriel’s table, he was suddenly seized by an impulse to misbehave, to grab a handful of the cubed potatoes from the dish before him and fling them around the room. He could already feel the scrape in his throat from the screaming he would do, the singe of the belt as it slapped across his back, the darkness he would sink into, the giddy bright of day he would wake to. He watched his arm lift itself from his side, watched his fingers open, petal-like, and float toward the bowl. And just then he had raised his head and had seen Brother Luke, who gave him a wink, so solemn and brief, like a camera’s shutter-click, that he was at first unaware he had seen anything at all.

Syntax als Lackmustest

Die Irritationen bei meiner Lektüre hatten aber nun nicht mit der Semantik, sondern mit dem Satzbau zu tun. Wie sind die beiden Tonlagen im Original syntaktisch angelegt, und wie sehen sie in der Übersetzung aus? Zunächst die erste, konventionelle Tonlage.

Dieser Erzählton eignet sich gut dafür, mit leichter Hand Figuren und ihren biografischen Hintergrund vorzustellen und in konkreten Szenen zu beschreiben. Die Sätze sind oft vollgepackt mit Informationen, mit dem Ziel, Beziehungsgeflechte und Lebenssituationen erzählerisch zu verarbeiten, und doch lesen sie sich flüssig, effizient, „natürlich“. Freilich ist das eine kunstvoll hergestellte, eine künstliche Natürlichkeit. Das schließt nicht aus, dass verschiedene Stimmen in dieser Tonlage eine andere „Natur“ haben. Für die Qualität einer Übersetzung ist entscheidend, dass der Übersetzer in seiner Sprache in diesem Sinn so natürlich wie der Autor schreibt, nur dann bleibt er der Wirkung des Originals treu. Wegen der systematischen Unterschiede zwischen den beiden Sprachen muss sich die Übersetzung vom Original lösen.

Die Syntax ist hier wie ein Lackmustest. Wenn sich der Satzbau liest wie eine Reaktion auf das englische Original, wie eine imitierende oder in anderer Weise schematische Reaktion und nicht wie ein eigenständiger deutscher Text, so ändert sich die stilistische Wirkung, das Ergebnis ist dem Original nicht mehr treu. Im Englischen lässt sich viel Inhalt in eleganter Knappheit oder in dichter Folge abhandeln, oft mit Partizipialkonstruktionen. Auch in gehäufter Verwendung sind diese im Englischen völlig natürlich, im Deutschen nicht. Dort wäre die nächstliegende grammatikalische Entsprechung ein Nebensatz, oft ein Relativsatz; ob der jeweils die natürlichste Entsprechung darstellt, ist am Einzelfall zu überprüfen.

Wenn ich im Folgenden Vorschläge zur Lösung einzelner Sätze mache,  soll das nicht heißen: Kleiner falsch, Heibert richtig. Zwar gibt es, allgemein gesprochen, zweifellos „falsche Übersetzungen“. Das angestrebte Gegenteil davon ist aber bei literarischen Texten selten „richtig“, sondern eher: überzeugend oder von gleichwertiger stilistischer Wirkung. In diesem Sinne stelle ich Alternativen zur Diskussion. Abgesehen davon muss jede übersetzerische Entscheidung ohnehin im Kontext des kompletten Werkes, wie es der Übersetzer interpretiert, bewertet werden. Ich möchte mich nicht aufs bloße Kritisieren beschränken, sondern mich mit eigenen Vorschlägen ebenso kritisierbar machen. Gerade in puncto Satzbau ist schnell gesagt: „Auf Deutsch geht das leider nicht so knackig wie auf Englisch – und ich will zeigen, dass auch das Deutsche variable, bei Bedarf knappe syntaktische Strukturen zur Verfügung stellt.

Die Relativsatz-Falle

Relativsätze sind stilistisch heikel. Sie erwecken häufig den Eindruck, dass Zusatzinformationen ausgebreitet werden, die man auch knapper haben könnte. Ketten von Relativsätzen, „Relativsatztreppen“, gelten im Deutschen als stilistisch unschön (außer in syntaktischen Prachtbauten mit ihren vielschichtigen Innenbezügen wie bei Fontane, Thomas Mann oder Thomas Bernhard, wo unter vielen Nebensatzformen auch mal eine Relativsatztreppe vorkommt). Wenn gängige englische Satzgefüge sowohl Relativsätze als auch Partizipialkonstruktionen enthalten, tauchen in deutschen Übersetzungen schnell einmal Relativsatztreppen auf.

(…) a stretch of lower Broadway thick with couples, all of whom were white men and, walking just a few steps behind them, Asian women.

Elegant konzentriert Yanagihara die Informationen über das Abgebildete mit mehreren syntaktischen Verfahren des Englischen: dem nachgestellten erweiterten Attribut (thick with couples), dem Relativsatz (whom) und der Partizipialkonstruktion mit Relativsatzbedeutung (walking). Kleiner übersetzt:

(…) ein Stück des unteren Broadway, das dicht von Paaren bevölkert war, die alle aus weißen Männern bestanden, denen mit wenigen Schritten Abstand asiatische Frauen folgten. (45)

Rein nach der grammatikalischen Logik entsprechen die drei Relativsätze tatsächlich der Inhaltsanordnung im Original.  Nur macht dieses Treppenhaus noch keinen Prachtbau. Könnte so der natürliche Sound eines deutschen Autors klingen? Im Grunde ginge es hier ohne einen einzigen Relativsatz:

(…) ein Stück des unteren Broadway, Paare dicht an dicht, alles weiße Männer und, mit ein paar Schritten Abstand, asiatische Frauen.

 

Nun ein längeres Beispiel mit einer geballten Folge von Beschreibungen. Auf einer Party laufen Malcolm und Willem durch eine Wohnung voller Kunstwerke, und die Erzählung begleitet die beiden, zeigt uns die einzelnen Zimmer aus ihrem Blick. Die Autorin zählt alles auf, jedes Kunstwerk hängt syntaktisch am Haken einer Partizipialkonstruktion; das gilt übrigens auch für die ganze Aufzählung selbst (sie hängt an looking):

As JB talked with his coworkers in the kitchen, Malcolm and Willem had walked through the apartment together (…) looking at a series of Edward Burtynskys hanging in the guest bedroom, a suite of water towers by the Bechers mounted in four rows of five over the desk in the den, an enormous Gursky floating above the half bookcases in the library, and, in the master bedroom, an entire wall of Diane Arbuses, covering  the space so thoroughly that only a few centimeters of blank wall remained at the top and bottom.

Das ist viel Information für einen einzigen Satz, aber die englische Konstruktion wirkt trotzdem flüssig, im Rahmen des gängigen Erzählens. In der deutschen Übersetzung sind die Partizipialkonstruktionen, mit denen die Kunstwerke kommentiert werden, sämtlich durch Relativsätze ersetzt; aus dem looking, von dem die gesamte Aufzählung abhängt, wird ein zweiter Hauptsatz. (Diese syntaktische Umformung ist übrigens die zweite naheliegende deutsche Entsprechung für Partizipialkonstruktionen.)

Während JB sich in der Küche mit seinen Kollegen unterhielt, waren Malcolm und Willem gemeinsam durch die Wohnung gestreift (…), hatten eine Reihe von Edward Burtynskys betrachtet, die im Gästezimmer hingen, eine von Bernd und Hilla Becher fotografierte Serie von Wassertürmen, die in vier Reihen zu je fünf Abzügen über dem Schreibtisch im Arbeitszimmer hingen, einen riesenhaften Gursky, der in der Bibliothek über den halbhohen Bücherregalen schwebte, und eine ganze Wand voller Arbeiten von Diane Arbus, die deren Fläche so gründlich bedeckten, dass nur am oberen und unteren Ende ein paar Zentimeter freiblieben. (18)

Müssen „the Bechers“ erklärt werden („Bernd und Hilla Becher“)? Kann man machen, muss man aber nicht. Warum ist der „master bedroom“ weggefallen? Geschenkt, kann passieren. Wichtiger erscheint mir: Die stilistische Wirkung der Übersetzung ist nicht die des Originals. Die Genauigkeit der Betrachtung wirkt nicht verdichtet, sondern verzettelt. Ließe sich das so lösen, dass man der Originalwirkung näher käme?

Während JB sich in der Küche mit seinen Kollegen unterhielt, streiften Malcolm und Willem gemeinsam durch die Wohnung (…)  und schauten sich im Gästezimmer eine Reihe von Edward Burtynskys an, im Arbeitszimmer eine Fotoserie der Bechers – Wassertürme, in vier Fünferreihen über dem Schreibtisch –, in der Bibliothek schwebte ein riesiger Gursky über den halbhohen Bücherregalen, und im Schlafzimmer hing eine komplette Wand voller Diane Arbus, nur oben und unten blieben ein paar Zentimeter frei.

Auch bei einer Anhäufung von Informationen lässt sich also im Deutschen ein zerfasernder Satzbau vermeiden. Der Satz wird im Übrigen leichtgewichtiger, wenn man das von Yanagihara vorgegebene Plusquamperfekt (had walked) im Deutschen nicht mitmacht.  Man braucht es nicht: Obgleich die ganze Szene in der Vorvergangenheit spielt, sind wir schon mit dem ersten Nebensatz (JB in der Küche) im erzählerischen Präteritum, und die Gleichzeitigkeit des während ruft im Deutschen geradezu nach demselben Tempus für den Hauptsatz, nämlich streiften.

Wobei das Verb streifen ein weiteres Beispiel für Stephan Kleiners semantisches Geschick ist: Im Deutschen mit seinen aussagekräftigen Verben würde ein wörtliches durch die Wohnung gehen geradezu anämisch wirken.



In seltenen Fällen werden Relativsatztreppen auch als bewusster Stileffekt eingesetzt: Jude hat bestimmt, was passieren soll, falls ihm etwas zustößt – eine klar gestaffelte Ereignisfolge; Yanagihara baut dazu eine Relativsatztreppe. Dieser rhetorische Effekt ist in der Übersetzung ebenso überzeugend:

ÜbersetzungOriginal

Der Nachtportier hatte ihn auf dem Boden gefunden und den Sicherheitsdienst des Gebäudes verständigt, der den Vorsitzenden der Firma (…) benachrichtigt hatte, der Lucien angerufen hatte, dem er als Einzigem gesagt hatte, was zu tun war, falls etwas Derartiges passieren sollte. (507)

The night janitor had found him on the floor, and had called the building’s security department, who had called the firm’s chairman, (…) who had called Lucien, who was the only one he had told what to do in case something like this should happen.

Abgesehen von solchen bewussten Ausnahmen bin ich allerdings skeptisch, wenn im Deutschen der Satzbau  in der konventionellen Tonlage ausufert, eben wegen der veränderten stilistischen Wirkung. Das gilt auch für die Passagen, in denen die Autorin von Judes Leiden erzählt, unabhängig davon, ob sie die Beschreibung mit starken Bildern anreichert oder nicht.

Hier wird Judes geschundener Körper aus der Personalperspektive geschildert:

But now, no one could not notice his arms, or his back, or his legs, which are striped with runnels where damaged tissue and muscle have been removed, and indentations the size of thumbprints, where the braces’ screws had once been drilled through the flesh and into the bone, and satiny ponds of skin where he had sustained burns in the injury, and the places where his wounds have closed over, where the flesh now craters slightly, the area around them tinged a permanent dull bronze.

Doch heute könnte niemand mehr seine Arme, seinen Rücken oder seine Beine nicht bemerken, die von Rinnen überzogen sind, wo verletztes Gewebe und Muskelfleisch entfernt worden sind, und daumenabdruckgroßen Vertiefungen, wo die Schrauben der Schienen sich durch das Fleisch hindurch-  und in den Knochen hineingebohrt hatten, und seidige Teiche aus Haut, wo er sich bei der Verletzung verbrannt hatte, und die Stellen, an denen seine Wunden sich geschlossen haben und das Fleisch jetzt leichte Krater bildet, die von einem permanenten stumpfen Bronzeton umgeben sind. (407)

Wieder wäre ein konzentrierter, ‚leichter‘ Satzbau vonnöten, als stilistischer Kontrast zum Horror des schieren Inhalts und der damit kombinierten Metaphern. Doch Kleiner baut wieder Relativsätze und bildet überdies Yanagiharas zusammengesetzte Zeitformen nach, die mit ihren Partizipien und Hilfsverben umständlich wirken (überzogen sind, entfernt worden sind, gebohrt hatten, verbrannt hatte, geschlossen haben, umgeben sind). Zusätzlich wird das Lesen dadurch erschwert, dass die Aufzählung der Male an Judes Körper (Rinnen, Vertiefungen, Teiche, Stellen) nicht grammatisch parallel gebaut ist wie im Original: Rinnen und Vertiefungen stehen im Akkusativ (abhängig von überzogen sind), Teiche und Stellen dagegen im Nominativ, der in einer elliptischen Leere hängt. Hier eine Alternative:

Doch heute müssen seine Arme, sein Rücken oder seine Beine einfach jedem auffallen, mit all den Furchen, wo verletztes Gewebe und Muskelfleisch entfernt wurde, mit den daumenabdruckgroßen Dellen, wo sich früher die Schrauben der Schienen durch das Fleisch bis in den Knochen bohrten, mit den seidigen Teichen aus Haut, wo er bei der Verletzung Verbrennungen erlitten hatte, und all den verheilten Wunden, deren Fleisch jetzt leichte Krater bildet, umgeben von einem permanenten stumpfen Bronzeton.

 

Auch die bildstarke atmosphärische Szene von Malcolms Bahnfahrt, von der Andreas Platthaus in der FAZ schwärmt, ist Yanagiharas erster Tonlage zuzuordnen. Wie ist sie im Original konstruiert, wie in der Übersetzung?

The other aspect of those weekday-evening trips he loved was the light itself, how it filled the train like something living as the cars rattled across the bridge, how it washed the weariness from his seatmates’ faces and revealed them as they were when they first came to the country, when they were young and America seemed conquerable.

Was er an seinen abendlichen Fahrten noch liebte, war das Licht, die Art und Weise, wie es die Wagen füllte wie etwas Lebendiges, wenn die Bahn über die Brücke ratterte, wie es die Müdigkeit von den Gesichtern seiner Sitznach­barn wusch und sie so zeigte, wie sie gewesen waren, als sie in dieses Land gekommen waren, als sie jung waren und Amerika noch für bezwingbar hielten. (40)

„Was er … noch liebte, war“ ist ein sogenannter Spaltsatz, aus dem Englischen in den mündlichen Sprachgebrauch des Deutschen eingewandert. Hier klingt die Beschreibung aber nicht mündlich, sondern literarisch-schriftlich, und auf dieser Sprachebene werden Spaltsätze immer noch als syntaktische Anglizismen wahrgenommen. Außerdem taucht in dem Satz vier Mal das Wort wie auf, in zwei verschiedenen Bedeutungen: zwei Mal für einen Vorgang, zwei Mal für einen Vergleich. Im Original werden how und like verwendet. Wörtlich heißt auf Deutsch beides wie, aber beim Lesen kommen sich die verschiedenen Bedeutungen in die Quere. Die unschöne waren-Kette beschwert den Satz (gewesen waren, gekommen wa­ren, waren). Es ginge auch anders:

Und noch etwas liebte er an seinen abendlichen Fahrten unter der Woche: das Licht und wie es den über die Brücke ratternden Zug erfüllte, als wäre es ein Lebe­wesen, wie es die Müdigkeit von den Gesichtern seiner Sitznachbarn wischte und sie aussehen ließ, als wären sie wieder jung, gerade ins Land gekommen, und glaubten noch, Amerika ließe sich erobern.

Wenn man die Dramaturgie der Beschreibung und die Folge der Gedanken in diesem Satz wirkungsäquivalent inszenieren will, muss sich der Satzbau vom englischen Original lösen. Die wichtige Unterscheidung von how und like lässt sich mit anderen Mitteln des Deutschen erhalten.



Den Windungen im Inneren der Figuren folgen

Hanya Yanagiharas zweite Tonlage in Ein wenig Leben ist stilistisch auffällig. Das Suchen und Tasten der Figuren spiegelt sich in der sprachlichen Gestaltung wider, denn die Äußerungen aus dem Innenleben sind Ausdruck einer ganz anderen Haltung als bei der konventionellen Erzählstimme. Betrachtet man die Übersetzung von Stephan Kleiner nun in Bezug auf die zweite Tonlage, so fällt etwas Faszinierendes auf. Hier entfaltet der Ton – nicht mehr effizient oder leicht, sondern mäandernd, bohrend, grübelnd –, auf Deutsch dieselbe Wirkung wie im Original. Kunstvoll sind die weit ausgreifenden Sätze nachgeschaffen, in denen sich die Hilflosigkeit und Ratlosigkeit der Figuren abbildet und die einen beim Lesen so bewegen. Zum Beispiel in der folgenden Szene, einer berührend liebevollen Situation. Harold und Julia haben gerade noch einmal bekräftigt, dass sie Jude weiterhin adoptieren wollen:

Mit einem Mal wurde ihm bewusst, wie erschöpft, wie ganz und gar ausgelaugt er war, sowohl durch die vergangenen Wochen der Anspannung als auch durch die vergangenen dreißig Jahre der Sehnsucht, des Verlangens, des intensiven Wollens, während er sich zugleich weismachte, es sei ihm gleichgültig, so dass er erleichtert war, als Harold, nachdem sie angestoßen und zuerst Julia und dann Harold ihn umarmt hatten – von Harold in den Arm genommen zu werden, fühlte sich so ungewohnt und so intim an, dass er beinahe zurückgezuckt wäre –, zu ihm sagte, er solle die blöden Teller stehen lassen und ins Bett gehen. (247f.)

Das sitzt, das schwingt, das ist in all seiner Kompliziertheit nachvollziehbar und deshalb großartig übersetzt – was der Blick ins Original bestätigt:

He was aware, suddenly, of how exhausted, how utterly depleted he was, as much by the past few weeks of anxiety as well as the past thirty years of craving, of wanting, of wishing so intensely even as he told himself he didn’t care, that by the time they had toasted one another and first Julia and then Harold had hugged him—the sensation of being held by Harold so unfamiliar and intimate that he had nearly squirmed—he was relieved when Harold told him to leave the damn dishes and go to bed.

Betrachten wir noch eine andere Passage. Auch sie dreht sich um das Glück, ein für Jude schier unvorstellbares Gefühl, und nicht um sein Leiden. Vor kurzem hat Willem ihm zum ersten Mal eine Liebeserklärung gemacht:

When Willem had told him of his feelings, he had been so discomfited, so disbelieving, that it was only the fact that it was Willem saying it that convinced him it wasn’t some terrible joke: his faith in Willem was more powerful than the absurdity of what Willem was suggesting.

Als Willem ihm von seinen Gefühlen erzählt hatte, war er so verwirrt, so ungläubig gewesen, dass nur die Tatsache, dass es Willem war, der ihm dies erzählte, ihn davon überzeugte, dass es sich nicht um einen furchtbaren Scherz handelte: Der Glaube, den er in Willem setzte, überwog die Absurdität dessen, was Willem da andeutete. (599)

Die englische Kette aus drei dass-Sätzen ließe sich im Deutschen flüssiger gestalten, die Übersetzung weist sogar zwei Relativsätze auf statt nur eines einzigen; auch vom Tempus her ist das Plusquamperfekt nicht unbedingt nötig. So könnte man (erneut) argumentieren. Doch machen wir die Probe aufs Exempel: Wie klingt der Absatz in einer flüssigeren Version?

Als Willem ihm von seinen Gefühlen erzählte, reagierte er so verwirrt, so ungläubig, dass er es nur aus einem einzigen Grund nicht als furchtbaren Scherz auffasste: weil Willem es ihm erzählte. Sein Glaube an Willem war stärker als die Absurdität dieser Andeutung.

In diesem Fall stellt die syntaktisch effizientere Formulierung eine Distanz zwischen uns und dem Gesagten her. Der Absatz klingt jetzt wie ein Bericht; beim Lesen erleben wir den Gefühlsaufruhr in Judes Innerem nicht mehr mit. Vom Plusquamperfekt einmal abgesehen, trifft Kleiners Übersetzung die Wirkung des Originals besser.

Stephan Kleiner hat den Mut, den Windungen und Wendungen im Inneren der Figuren mit den Mitteln des Deutschen syntaktisch ebenso aufwändig zu folgen wie das Original. Damit erzeugt seine Übersetzung der zweiten Tonlage einen stilistisch äquivalenten Ton und erzielt auch eine äquivalente Wirkung.

Werkzeug und Wirkung

Das einhellige Lob der Kritik für Stephan Kleiners übersetzerische Leistung ist bei genauem Hinsehen also nicht verwunderlich. Denn Yanagihara erzielt ihre mitreißende Wirkung vor allem in ihrer zweiten Tonlage und mit ihren wuchtigen Bildern. Obwohl sie die konventionelle erste Tonlage ausgiebig einsetzt, steht diese beim Lesen nicht im Vordergrund, denn sie dient als Kontrast zur zweiten: Normalität vs. Extremfall Jude. Der Text rückt einem in der ersten Tonlage weniger auf die Pelle, also reagiert man wohl auch weniger intensiv, wenn Kleiners deutscher Satzbau hier die Wirkung verändert, man „schluckt“ die umständlichen Formulierungen, obwohl sie dem effizienten Erzählen entgegenarbeiten und den Kontrast der beiden Tonlagen abschwächen. Die starke emotionale Wirkung der zweiten Tonlage und der Bilder überdeckt, was in der ersten Tonlage stattfindet – und in deren Übersetzung zuweilen weniger überzeugend gelöst ist.

Die konventionelle Tonlage wird, gerade weil sie so mühelos und natürlich wirkt, leicht in ihrem literarischen Anspruch unterschätzt, bei Yanagihara wie bei anderen Autoren, die so schreiben. Auch für das Übersetzen gilt: „Natürlich“ und „mühelos“ sind hergestellte Wirkungen, kein bisschen weniger herausfordernd als bei einem auffälligeren Stil. Deshalb lohnt es sich, über die dafür geeigneten sprachlichen Mittel nachzudenken.

Das Deutsche ist für uns Sprachhandwerker ein prall gefüllter Werkzeugkasten mit unglaublich vielen Möglichkeiten. Der Werkzeugkasten anderer Sprachen ist ebenso üppig bestückt, teils mit anderen Instrumenten, teils mit denselben. Selbst wenn es dieselben sind, können wir nicht automatisch davon ausgehen, dass ihr Einsatz in beiden Sprachen dieselben Ergebnisse hervorbringt. Die Syntax, eine ganze Abteilung dieses Werkzeugkastens, ist nicht nur eine technische oder handwerkliche Angelegenheit: Die Gestaltung jeder literarischen Stimme steht und fällt auch mit der stilistischen Wirkung des Satzbaus. An der Übersetzung von Ein wenig Leben ist das erhellend zu erkennen.

Angaben zum Buch
Hanya Yanagihara
Ein wenig Leben
Roman • Aus dem Englischen von Stephan Kleiner
Hanser Berlin 2016 • 960 Seiten • 28,00 Euro
ISBN: 978-3446254718
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel

 

Bildnachweis
Beitragsbild: Bikes on mobius strip velodrome, at Riverside Museum

Von Bookpluscoffee (Eigenes Werk) [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons
Siblinger Randenturm – Treppen
Von Tschubby (Eigenes Werk) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons
Psychedelic Trip
Von new 1lluminati [CC BY 2.0] Coverbild: Hanser Literaturverlage
 
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Von Frank Heibert

Übersetzer, unter anderem von Don DeLillo, Willam Faulkner, George Saunders, Lorrie Moore, Boris Vian, Yasmina Reza und Richard Ford. 2006 erschienen sein erster Roman „Kombizangen“ und das Jazz-Album „The Best Thing on Four Feet“ (zusammen mit der Jazz-Combo Finkophon Unlimited).

5 Kommentare

  1. Die Passage „the past thirty years of craving, of wanting, of wishing so intensely even as he told himself he didn’t care“ gehört zeitlich und logisch zusammen, das wird in der Übersetzung nicht klar. Gemeint ist: die vergangenen dreißig Jahre der Sehnsucht, des Verlangens, des intensiven Wollens, IN DENEN ER SICH WEISGEMACHT HATTE, es sei ihm gleichgültig.

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    1. Frank Heibert 6. April 2017 um 17:59

      Liebe Viola, danke fürs genaue Lesen! Mir war die Stelle durchaus auch als überlegenswert aufgefallen, ich finde aber, der zeitliche Bezug von „even as he told himself“ ist offen genug, um beide Lesarten zuzulassen. Man kann diskutieren, ob vom Kontext her das Sich-Weismachen plausibler auf die dreißig Jahre zu beziehen ist oder auf die Erzählgegenwart. Aber mir ging es ja hier um andere Fragen und andere Erkenntnisse als darum, ob ein einzelner Satz eventuell in einer anderen Detailbedeutung verstanden werden kann. So spannend das sein kann, solche Erwägungen hätten selbst das großzügige tell-Format gesprengt.

  2. Lieber Frank, die Kurzfassung der Übersetzung, wie sie im Artikel zitiert wird, würde lauten: Ihm wurde bewusst, wie erschöpft er war, während er sich zugleich weismachte, es sei ihm gleichgültig, so dass er erleichtert war, als Harold sagte, er solle die blöden Teller stehen lassen und ins Bett gehen. Mir scheint das nicht sehr plausibel … Allem anderen stimme ich aus ganzem Herzen zu.

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  3. Ups, *von* ganzem Herzen sollte das natürlich heißen!

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  4. Sehr schön, Frank Heibert! Falls jemand die (seit dem 18. Jh. dahintersteckende) Ästhetik des Literaturübersetzens im systematischen und historischen Zusammenhang kennenlernen möchte, dem empfehle ich mein Buch LITERATURÜBERSETZEN. ÄSTHETIK UND PRAXIS. Peter Lang Verlag, 2019. Mit 45€ etwas zu teuer, aber die Leser sparen immerhin ein paar Semester Studium und kriegen von mir praktische und theoretische Erfahrungen aus fast 50 Jahren.
    Eine winzige kritische Anmerkung zu Frank Heiberts schönem Text: Es geht nicht um Syntax usw., sondern um die Übersetzung der Rhetorik. (Aber ich bin sicher, er weiß und meint das auch, wenn er von der „literarischen Stimme“ spricht.)

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