Ein wenig Leben und eine Menge Widerhall: Was ist los mit diesem Buch, dem die einen Leser unvergessliche, erschütternde Leseerlebnisse bescheinigen, die anderen emotionalen Overkill und „sauren Kitsch“ (Sigrid Löffler)? Die Kritik zeigt sich, trotz gelegentlicher Vorbehalte, eher beeindruckt, die Leser greifen zu: In Deutschland ist Hanya Yanagiharas Roman gleich auf Platz 5 der SPIEGEL-Bestsellerliste eingestiegen und hält sich seit Wochen ungefähr dort.
Der Plot ist schnell umrissen. Es geht um vier College-Freunde im New York der Gegenwart, von unterschiedlicher Herkunft, Begabung und Ambition: der Schauspieler Willem, der Architekt Malcolm, der bildende Künstler JB und der Rechtsanwalt Jude. Über kurz oder lang sind sie alle erfolgreich in ihren Berufen, ihre unverbrüchliche Freundschaft zueinander geht ebenso tief wie ihr ziemlich lockeres, metrosexuelles Liebesleben. Yanagihara zeigt uns das soziale und psychologische Panorama einer Generation: Die vier Männer sind typische Figuren einer zeitgenössischen, urbanen US-Normalität, typisch gerade in ihrer bunten Individualität.
Wir lernen den biografischen Hintergrund der jungen Männer kennen, während die Handlung eher anekdotisch in Gang kommt. So oder ähnlich könnte man das auch bei anderen amerikanischen Autoren wie Franzen, Eggers usw. finden: das Abnabeln vom dominanten Vater (Malcolm), das Gezerre um Ateliers und Galeristen (JB), das soundsovielte chancenlose Casting (Willem), der unabdingbare lange Atem des Jurastudenten (Jude). Und dann werden die ersten Köder ausgelegt – denn über Herkunft und Vergangenheit von Jude erfahren wir nichts, erzählt er seinen Freunden nichts. Dunkle Geheimnisse, um die es, so ahnen wir bereits, später gehen wird.
Bloße Unterhaltungsliteratur?
Hanya Yanagihara arbeitet gekonnt mit der Figurenpsychologie, mit Spannungselementen, Cliffhangern und einer thrillerhaften Dramaturgie, doch bald führt die Lektüre auf weniger vertrautes Terrain, und sie setzt einem tatsächlich körperlich zu. Die von vielen Lesern, auch Kritikern, rückgemeldete Erschütterung findet statt, und zwar ganz anders als in blutrünstigen Thrillern à la Simon Beckett oder Jilliane Hoffman, wo man die Brutalität als exotischen Psychopathenhorror von sich wegschieben kann. Dieser Roman jedoch ist kein Psychothriller. Was ist er dann, und wie geht die Autorin vor?
Die Frage nach dem WIE ist in der Literatur immer verbunden mit dem WOZU. Hinter der stilistischen Gestaltung jedes Romans steht eine Haltung, Hier haben wir es mit einer selteneren Form der literarisch erzählten Liebe zu tun.aus der heraus der Autor so und nicht anders schreibt: Der Blick des Erzählers auf die geschilderte Welt drückt sich sprachlich in seiner charakteristischen Tonlage aus, in seinem individuellen, typischen (oder stereotypischen) Stil.
Ein wenig Leben wurde wegen der Spannungselemente und der starken Emotionen von einem Teil des deutschen Feuilletons fast reflexhaft der Unterhaltungsliteratur zugeordnet, also als wenig literarisch abgetan. Typisch für einen handelsüblichen Krimi oder Liebesroman sind konventionelle Elemente in Handlung und Sprache. Spannung und Gefühl werden so abgehandelt, dass sie uns folgenlos vom Alltag ablenken, dass sie uns packen, aber nicht ernstlich erschüttern, denn alles löst sich am Ende so auf, wie man es erwartet.
In Deutschland werden, aufgrund des Bildungsanspruchs der Kultur, die Sparten E und U immer noch hartnäckig voneinander getrennt – wie auch meine Charakterisierung von Unterhaltungsliteratur bezeugt. Wenn eine Lektüre berührt, den Leser womöglich zu Tränen rührt, erregt dies bei der Kritik schnell Verdacht– als wäre es ein Ausweis guter Literatur, zu Gefühlen auf Abstand zu gehen, ob durch Ironie, sezierende Analyse oder sprachliche Verrätselung. Ungebrochene Emotionalität ist dagegen geradezu peinlich, so ein Buch wird schnell in die Kitschecke, zum Emo-Trash geschoben. Oder, noch besser, man stemmt sich mit einer Überlegenheitsgeste wieder aus dem Gefühl heraus, das die Lektüre in einem ausgelöst hat, und hält es der Autorin als Effekthascherei vor. Es soll Rezensenten geben, die bei Ein wenig Leben von tränendurchweichten Buchseiten berichten? Misstrauen wir unseren Tränen, rät ZEIT-Kritiker Ijoma Mangold, der sich manipuliert fühlt und um seine professionelle Distanz fürchtet, wenn er ihnen trauen würde.
Leidenschaftliche Empathie
Nun ist es aber so, dass die beiden Elemente des Romans, die einen bei der Lektüre am stärksten berühren, von Yanagihara keineswegs klischeehaft oder kitschig gestaltet werden, im Gegenteil.
Gemeinhin ist der Rührungsknaller Nr. 1 natürlich die Liebe, in der Unterhaltungs- wie in der Hochliteratur. In Ein wenig Leben haben wir es aber mit einer selteneren Form der literarisch erzählten Liebe zu tun: der tiefen Freundschaft, und später der Liebe, die aus solch tiefer Freundschaft emporwächst. Das Mitgefühl für Jude, das Yanagihara bei uns erzeugt, nehmen wir auch den Figuren ab.Jude ist das geheimnisvolle Zentrum des Romans, er wird von den drei anderen Männern freundschaftlich geliebt, unterstützt, umsorgt (manchmal auch neidisch oder eifersüchtig beäugt, aber selbst dann nicht fallengelassen). Außerdem gibt es seinen Arzt Andy, der mit diesem Patienten so einiges mitmacht, sowie Judes Jura-Professor Harold, der seinen ehemaligen Studenten erst fördert und ihn später, gemeinsam mit seiner Frau Julia, adoptiert. Selbst der Hausbesitzer Richard, der Jude eine Wohnung verkauft, reiht sich in die Armada der Wohlmeinenden ein, stets bereit, ihm zu helfen. Freundschaftliche Liebe, Güte, Großherzigkeit – so stark und in dieser Konzentration kommt das selten vor, weder im Leben noch in der Literatur. Leidenschaftliche Empathie ist kein Klischee: Aus Leben und Literatur kennen wir eher eine Welt voller Eigennutz und Ego-Verwirklichung.
Too much? Unglaubwürdig? Soziales Märchen? Beim Lesen empfinde ich das nicht so. Das Mitgefühl für Jude, das Yanagihara bei uns Lesern erzeugt, nehmen wir auch den anderen Figuren ab. Im Verlauf des Romans kommt noch etwas Ungewöhnliches hinzu. Judes engster Freund Willem begreift irgendwann, nach der x-ten enttäuschten Freundin, dass er Jude liebt und auch begehrt. Er steht zu der Verwirrung seiner sexuellen Identität, und als sich herausstellt, dass Jude zu entspannter, liebevoller Sexualität gar nicht in der Lage ist, zeigt Willem sich sogar bereit, das eigene Begehren zurückzustellen – weil seine Liebe stärker ist, uneigennützig genug jedenfalls. Natürlich geht das nicht ohne innere Kämpfe ab, wer verzichtet schon ohne weiteres auf Sex mit dem geliebten Menschen. Auch dieses Verhalten ist von Klischees meilenweit entfernt. Willem und Jude finden ihren gemeinsamen Weg. Wie Yanagihara Aufblühen und Alltag dieser Beziehung erzählt, gehört zu jenen Passagen des Romans, die in ihrer behutsamen Zuversicht die Lektüre emotional aufladen. In der FAZ spricht Andreas Platthaus, analog zu Science-Fiction, begeistert von „Social Fiction“, und Ijoma Mangold lobt das „intelligente Pathos der radikalen Liebesbotschaft“. Die Kraft des Positiven in diesem Roman kann einen eben doch ergreifen.
Wirklich spürbar wird die kraftvolle Wirkung des Guten im Kontrast zu der zweiten Schiene der Emotion: Im Laufe des Romans erfährt man, dass selbst diese paradiesische Überfülle an Liebe immer wieder scheitert im Kampf gegen Judes psychische Versehrtheit.
Suchtartige Selbstverletzung
Yanagihara beschreibt Judes Leiden so unbeirrt und unbarmherzig, wie er selbst es erlebt. Er ist, so viel darf wohl verraten werden, durch mehrfachen Missbrauch in seiner Kindheit und Jugend so stark traumatisiert, dass er ständig gegen das beschämende Gefühl ankämpfen muss, nichts wert zu sein. Abbauen kann er diesen inneren Druck nur punktuell, durch regelmäßige, suchtartige Selbstverletzung. Das will er zwar nicht, er möchte gern an all die Indizien in seinem Leben glauben, die für seinen „Wert“ sprechen, aber immer wieder sind die inneren Dämonen stärker. Der sisyphoshafte Kreislauf dieses Kampfes, die Selbstverletzung (durch Ritzen mit Rasierklingen) und die perfekte Organisation dieser Selbstverletzung samt nachfolgender Vertuschung – das greift einen beim Lesen wirklich an. Man will dieses verlorene Menschenkind verstehen.
Geschickt führt Yanagihara dieses Verstehenwollen der Leser parallel mit den Reaktionen in Judes Umfeld. Literatur lesen ist keine Rechenaufgabe.Auch seine Freunde wollen zunehmend wissen, was denn bloß mit ihm los ist, und man erfährt es peu à peu, im Rhythmus von Judes Widerstreben. Je mehr es Jude über sich bringt, an die Missbrauchserlebnisse zu denken und später auch davon zu erzählen, desto entsetzter ist man. Neben der leidenschaftlichen Empathie ist es die dreifache Gewalt in Judes Leben, die einen berührt: die früher erlebte Gewalt, die Gewalt, die er sich als Folge der Traumatisierung selbst antut, und die Gewalt dieses inneren Kampfes.
Stellte man eine sachliche Rechnung darüber an, was hier alles an Gewalterfahrungen zusammenkommt, kann man diese Häufung natürlich als klischeehafte Übertreibung bewerten. Literatur lesen ist aber keine Rechenaufgabe, die Haltung und die Sprache des erzählerischen Zugriffs produzieren emotionale und ästhetische Wirkungen. Yanagihara berichtet nicht von Missbrauch und Trauma wie viele andere Bücher. Das wäre ebenso bekannt und nachgerade klischeehaft, wie es Missbrauch und darauf folgendes Trauma nun einmal sind. Ein Bericht (wie literarisch auch immer) geht auf verarbeitende Distanz und lässt damit auch den Lesern einen Sicherheitsabstand. Doch es gibt ja nicht nur die Form des Berichtes, um unsagbare Ereignisse literarisch sagbar zu machen.
Körperliches Lesen
Hanya Yanagiharas Erzählen schaltet in auktorialer Freiheit zwischen den Figuren hin und her, meist in der dritten Person, und es geht immer wieder direkt in das Innere der Figur hinein, die gerade im Fokus steht, Jude oder einer der Freunde, der sich gerade mit ihm beschäftigt. Die Autorin zwingt uns zu körperlichem Lesen, wir sollen die Qual des Traumas regelrecht spüren, die Unsagbarkeit, das Herauszwingen jedes kleinen Stücks Information über die Gewalt und die Scham. Wir sollen die Hoffnungslosigkeit von innen spüren, die Jude und seine Freunde beherrscht.Dass der Roman aus verschiedenen Blickwinkeln so nah an das unverarbeitete Trauma heranrückt, rückt die Lektüre wiederum ebenso nah an die Leser heran. Die psychische Katastrophe wird für die Leser so groß und einzigartig, wie sie es für Jude ist. Über „schon mal gehört“ denkt man nicht nach, weil dafür gar kein Platz ist. Hanya Yanagihara drückt die Leser an die Wand, gewährt ihnen keinerlei Ausweg. Diese Unerbittlichkeit ist eine Zumutung – und ein überaus seltenes Erlebnis in der Literatur.
Das also ist das Programm der Autorin: Wir sollen die Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit von innen spüren, die Jude und seine Freunde beherrscht. Damit das in aller Intensität gelingt, braucht es als Kontrast immer wieder Hoffnungsschimmer, Hilfsangebote. Der Kampf zwischen dem Bösen (Gewalt, Leid) und dem Guten (Hilfe, Liebe) wirkt archaisch, manchmal geradezu schwarzweiß. Auch an diesem Punkt haben einige Kritiker angesetzt: das Leiden werde zelebriert, die Kräfte des Bösen und des Guten seien, wie im Märchen, ohne Abstufung oder Erklärung einfach da, es gebe nichts dazwischen – und diese Extreme seien nicht realistisch.
Der schlimmstmögliche Fall
Das stellt die Frage nach literarischer Wahrheit und Moral. Vorausgeschickt: Es gibt tatsächlich Fälle von Traumatisierung und nachfolgender Depression, die so schlimm verlaufen, wie Yanagihara es am Beispiel von Jude erzählt – Menschen, die trotz aller Hilfsangebote und Möglichkeiten, trotz allen äußeren Erfolgs und aller Zuwendung nicht in der Lage sind, aus ihrer inneren Zerstörung herauszukommen, eine Therapie anzufangen, genauer: sie anzunehmen und damit einen Ausweg aus der inneren Einsamkeit und Kälte zu finden. Und genau so einen Fall will Yanagihara uns in aller Konsequenz zu fühlen geben. Man kann hier durchaus von Versuchsanordnung sprechen. Entscheidend ist, dass das Experiment funktioniert.Judes Unfähigkeit zur Therapie sei ein Trick, ohne den das zelebrierte Leiden nicht mehr funktionieren würde, das verweigerte Heil sei demzufolge Betrug am Leser, behauptet Sieglinde Geisel in ihrer Kritik im Tagesspiegel. Einspruch. Wer sich so etwas bislang nicht vorstellen konnte, lernt es jetzt kennen. Yanagiharas Haltung besagt: Nehmen wir den schlimmstmöglichen Fall an, der sich tatsächlich zutragen könnte; wie schlimm er wirklich ist, erzähle ich euch, indem ich zeige, dass auch die stärksten Gegenkräfte (Freundschaft, Liebe, Erfolg) das Trauma nur vorübergehend wieder gut machen können. Die Gegenkräfte hat Yanagihara ebenso erfunden wie den ‚ewigen Patienten‘ Jude. Man kann hier durchaus von Versuchsanordnung sprechen wie Karin Janker in der Süddeutschen Zeitung. Entscheidend ist, dass das Experiment funktioniert: Das Spiel der Kräfte entwickelt einen Sog, der den Leser in die Welt des Romans hineinzieht. Diese Sog-Wirkung bekunden sowohl die begeisterten wie auch die skeptischen Kritiker. Im Lichte dessen, was sich als Yanagiharas „Programm“ herausschält, werden auch andere Aspekte plausibler.
Von der Außenwelt zur Innenwelt
Vermeintliche Schwächen erweisen sich als Stärken. Die biografische Einführung der vier Freunde zu Beginn des Romans liest sich konventionell? Das ist gewollt. Um das „schwarze Loch“ Jude spürbar machen zu können, muss zunächst alles als normal eingeführt werden, was sich darum herum an Materie, an Normalität befindet. Erst die Lebenspanoramen der Freundesfiguren bewirken, dass uns Judes Schweigen über sich selbst auffällt, eine Leerstelle, die neugierig macht, beunruhigt. Yanagihara arbeitet sich von den Reaktionen der Außenwelt (was ist das für ein rätselhafter, faszinierender Typ?), also von dort, wo auch wir Leser zu Anfang stehen, in die Innenwelt vor, zunächst ins Innenleben der Reagierenden, dann langsam in das von Jude. Das Böse, das ihm zugestoßen ist, bleibt für ihn unerklärlich, und auch die Autorin lässt es unerklärt. Unrelativiert. Übrigens erklärt sie das Gute, die Empathie, die Freundesliebe ebenso wenig – und das muss sie auch nicht: Das Faszinosum von Rätselhaftigkeit und Schönheit versteht sich von selbst, desgleichen das Mitgefühl mit einem gequälten Menschen.
Hanya Yanagihara nutzt Stilmittel, die Spannung erzeugen? Gut so – sie legt einen weiten Weg zurück, zusammen mit ihrer Hauptfigur Jude, den weiten Weg durch die dicken Mauern nämlich, die Jude zu seinem Selbstschutz hochgezogen hat, bis es ihm endlich bröckchenweise gelingt, zumindest den paar Menschen, die sich sein Vertrauen erkämpft haben, von den Schrecken seines Lebens zu erzählen. Äußere Ereignisse sind das weiße Rauschen einer Normalität, zu der Jude trotz allem keinen inneren Zugang findet.Die Weite des Wegs ist sozusagen proportional zur Dicke der Mauern, die Dicke der Mauern wiederum zum Schrecken der Ereignisse. (Dass Jude dies nicht mit einem Therapeuten schafft, ganz gleich, wie versiert dieser sein mag, ist nicht verwunderlich – für Jude ist der Therapeut einfach ein Unbekannter.) Und dass Yanagihara diesen weiten Weg als Spannungsbogen gestaltet – wer wollte ihr das vorwerfen? Im Deutschlandradio Kultur äußert Ursula März, Yanagiharas Virtuosität sei „schwer zu trennen von jener Trivialität, die aus manipulatorischer Suggestion hervorgeht“. Das müsste ja dann für alle Literatur gelten, deren Autoren ihre Mittel beherrschen und die bewirken, was sie offenkundig bewirken wollen.
Höchstens märchenhaft, so wurde abschätzig konstatiert, sei auch der Haupt-Handlungsort New York als „ironiefreie Hochglanzkulisse“ (Claudia Voigt, Literaturspiegel). Vier Jahrzehnte Handlung – und wir erfahren nichts über 9/11, den Irakkrieg, Obama? Für mich ist dies ein weiterer Kunstgriff der Autorin. Sie will ein Leben im Würgegriff der Traumatisierung schildern, und in so einem Leben werden die äußeren Ereignisse austauschbar. Sie sind das weiße Rauschen einer Normalität, zu der Jude trotz allem keinen inneren Zugang findet. Wie könnte die Romanfigur Jude auf 9/11 reagiert haben? Hat ihn die Katastrophe innerlich erreicht, hat sie seine Traumata verstärkt oder verdrängt? Das wäre sicherlich interessant zu erfahren, doch es wäre erzählerisch unökonomisch. Dieses zusätzliche Fass aufzumachen würde die Sogwirkung des immer schneller werdenden Strudels in Judes Innenleben schwächen.
Scheinbare Redundanz
Denn Yanagiharas Dramaturgie dient ihrem Ziel, dem oben benannten „Programm“. Mit literarischen Mitteln arbeitet sie menschliche Wahrheiten heraus – zum einen eine schockierende individuelle Wahrheit (den Einzelfall eines Rettungslosen) und zum anderen eine tröstliche verallgemeinerbare Wahrheit (die Fähigkeit des Menschen zu Empathie und Liebe). Ihre Schreibkunst beginnt beim Stoff und seiner Umsetzung. Die leitmotivischen Floskeln illustrieren das Nicht-Gelingen.Neben die Spannungsbögen treten in Yanagiharas Komposition gezielte Belastungswechsel: Die Leser können immer wieder durchatmen, denn auf eine erschütternde Konfrontation mit Judes Leiden folgen Ereignisse aus dem Leben der anderen Figuren. Indem Yanagihara die Erzählperspektive ändert, ermöglicht sie den Lesern ergänzende Blickwinkel von außen auf Jude. Sie wechselt zwischen den Tempora (Präteritum und Präsens – aber auch Futur, um eine besonders aufwühlende Szene erzählerisch einzubinden). Sie nutzt literarische Konventionen – oder setzt sich über sie hinweg. Und sie arbeitet mit Kreisbewegungen, umkreist offene Rätsel und wiederholt manche Formulierungen, die wie ein Mantra kreiseln: etwa Judes häufig wiederkehrendes „ich kann nicht“ oder „es tut mir leid“ (später auch von Harold und Willem). Diese leitmotivischen Floskeln, von den Figuren tiefernst gemeint, illustrieren das Nicht-Gelingen, das Unrettbare, die Hilflosigkeit. Diese scheinbaren Redundanzen, über die sich manche Rezensionen lustig gemacht haben, zeigen plastisch, dass die beharrlichen Bemühungen immer wieder aufs Neue nicht fruchten, sondern zum selben toten Punkt führen.
Überwältigung durch Sprache
Die körperliche Bedrängnis beim Lesen erreicht Hanya Yanagihara nicht allein durch die dramaturgische Komposition ihres Stoffes, sondern in erster Linie durch ihre Sprache. Passend zum Außen und Innen, das ich zuvor erwähnt habe, nimmt sie beim Erzählen zwei verschiedene Haltungen ein und greift entsprechend auch stilistisch zu unterschiedlichen Mitteln.
1) Konventionelles amerikanisches Erzählen
Wenn von der Oberfläche der Ereignisse, der Normalität im Leben der Anderen berichtet wird, schlägt die Sprache einen beiläufig-leichten, flüssigen, manchmal nüchternen, dann wieder leicht amüsierten Ton an. Die Sätze sind voller detailreicher Beschreibungen und doch syntaktisch elegant. Sie lassen sich dem vertrauten amerikanischen Erzählen zuordnen, dem eine gewisse konventionelle Effizienz zu eigen ist. Die Sprache ist hier so gängig wie die Normalität, die Yanagihara aufbauen will.
Das Pho Viet Huong war nicht besonders gut – die Pho-Suppe war merkwürdig süßlich, der Zitronensaft schmeckte nach Seife, und nach jedem Essen wurde mindestens einem von ihnen übel -, aber sie kamen immer wieder, sowohl aus Gewohnheit wie auch aus Bedürftigkeit. (11)
Denselben Ton nutzt sie raffinierterweise für die Rückblenden in Judes Vergangenheit: Judes Erlebnisse sind alles andere als normal, doch sie werden mit demselben Anschein von Normalität berichtet wie zuvor die ganz normalen Erlebnisse aus dem Leben der anderen Figuren.
Einmal war er in seinem Zimmer, und Pater Gabriel und Bruder Peter waren beide bei ihm, und er versuchte, nicht zu schreien, weil er gelernt hatte, dass es desto schneller vorbeiging, je stiller er war, und er glaubte zu sehen, dass Bruder Luke schnell wie eine Motte den Türrahmen passierte, und er fühlte sich gedemütigt, auch wenn er den Begriff Demütigung damals noch nicht kannte. (205)
Damit wird die lockere bis unterhaltsame Wirkung dieser ersten Tonlage bei den Passagen des Rückblicks ausgehöhlt. Durch die Tonlage der Normalität erreicht Yanagihara, dass man sich die Formulierung „sie waren beide bei ihm“ ohne Widerstreben in die eigentliche, schauderhafte Tatsache übersetzt. Was einen beim Lesen so aufwühlt, ist gerade der Widerspruch zwischen dem flüssig-effizienten Ton und der Monstrosität des Erzählten.
Virtuos dosiert und staffelt Yanagihara den Gebrauch von Bildern. Auf der Ebene des „normalen Tons“ herrschen Vergleiche vor; jedes explizite „A ist wie B“ weist vermittelnd auf das Stilmittel des Vergleichs hin, also darauf, dass hier eine gestaltende Hand am Werk ist. Durch dieses Hinweisen bleiben die Leser im betrachtenden Abstand, das Bild bedrängt sie nicht. In der folgenden atmosphärischen Szene aus Malcolms Sicht entwirft Yanagihara, zur Tonlage passend, die Bilderfolge einer gestaltenden Erzählerstimme.
Was er an seinen abendlichen Fahrten noch liebte, war das Licht, die Art und Weise, wie es die Wagen füllte wie etwas Lebendiges, wenn die Bahn über die Brücke ratterte, wie es die Müdigkeit von den Gesichtern seiner Sitznachbarn wusch und sie so zeigte, wie sie gewesen waren, als sie in dieses Land gekommen waren, als sie jung waren und Amerika noch für bezwingbar hielten. Er sah diesem Licht dabei zu, wie es den Bahnwagen wie Sirup füllte, Stirnfalten fortwischte, graue Haare polierte, bis sie golden leuchteten, das aggressive Leuchten billiger Stoffe sanft auf einen feinen Schimmer reduzierte. (40)
Auch Judes Leidenserlebnisse in der Gegenwart der Erzählung beschreibt die Autorin meist mit Vergleichen:
(…) die erste seiner Schmerzattacken (…) war so fürchterlich gewesen – geradezu unerträglich, so als hätte jemand in ihn hineingegriffen und seine Wirbelsäule wie eine Schlange gepackt, um sie durch grobes Schütteln von ihren Nervensträngen zu befreien (…) (137)
„Ich bin einsam“, sagt Jude laut, und die Stille der Wohnung saugt die Worte auf, wie Baumwolle Blut aufnimmt. (401)
2) Inneres Ringen
Sobald es um die seelisch-gedankliche Beschäftigung der Figuren mit dem Rätselhaften, dem Ungesagten und Unsagbaren rund um Judes Geschichte geht, wird der Ton suchend, tastend, bohrend, nachhakend. Den Anderen oder sich selbst verstehen zu wollen, auch wenn man es manchmal nicht kann – das steht für eine ganz andere Haltung. „Es war unmöglich, den Gesunden die Logik der Kranken zu erklären, und er [Jude] hatte nicht die Kraft, es zu versuchen.“ Yanagihara aber versucht es, auf 958 Seiten, sozusagen als Anwältin ihres Protagonisten. Indem die Autorin ihre Figuren über das Fühlen nachdenken lässt, zeigt sie deren psychische Strukturen von innen. Die Sätze mäandern, werden redundant, manchmal tasten und stolpern sie. Dieses innere Ringen ist nicht effizient wie bei der ersten Erzähl-Haltung, im Gegenteil: Es bildet die verzweifelte Ineffizienz der erzählten inneren Prozesse sprachlich ab. Da man als Leser seinerseits um das Verstehenkönnen ringt, rücken diese Passagen nah an uns heran, sie machen das Quälende mitfühlbar. Mit der zweiten Tonlage in ihrem Roman sorgt Yanagihara dafür, dass die Leser vom Geschehen vereinnahmt werden und sich mit den Figuren und ihrem Ringen um Verständnis solidarisieren oder identifizieren.
Der Mensch, der ich war, wird immer der Mensch sein, der ich bin, begreift Jude. (…) er mag Eltern und Freunde haben, die er liebt. Er mag respektiert sein; im Gerichtssaal mag er sogar gefürchtet sein. Doch im Grunde ist er derselbe Mensch, ein Mensch, der in anderen Abscheu hervorruft, ein Mensch, der existiert, um gehasst zu werden. (453)
Er war dafür geboren. Er war geboren, ausgesetzt und gefunden worden und dann benutzt worden, wie es seine Bestimmung war, benutzt zu werden. (533)
Jude hofft, dass Nicholas nicht erlebt hat, was er erlebt hat, aber er ist sich auch ziemlich sicher, dass er das nicht hat, und diese Gewissheit lässt ihn nur noch stärker weinen. (597)
Als Willem ihm von seinen Gefühlen erzählt hatte, war er so verwirrt, so ungläubig gewesen, dass nur die Tatsache, dass es Willem war, der ihm dies erzählte, ihn davon überzeugte, dass es sich nicht um einen furchtbaren Scherz handelte: Der Glaube, den er in Willem setzte, überwog die Absurdität dessen, was Willem da andeutete. (599)
3) Selbstreflexion, Protokollstil, Bilderwucht
Zur stilistischen Gestaltung des Romans kommt neben den beiden unterschiedlichen Tonlagen als drittes Element die erwähnte, präzise dosierte Verwendung von Bildern (Vergleichen und Metaphern). Indem sie in besonders drastischen Szenen alle drei stilistischen Verfahren kombiniert, orchestriert Yanagihara das Extreme. Zum Beispiel in folgender Passage, in der Judes Verzweiflung und Selbstverletzung mit zunehmender Intensität beschrieben wird, auf einer einzigen Seite. Die Autorin erspart uns nichts, sie schaut mit der Lupe auf alles, was passiert. Zunächst beginnt sie mit Judes Selbstreflexion, in jenem suchenden Ton, der zur solidarischen Nähe einlädt:
Er putzte [manisch, wie zuvor geschildert wurde], um sich nicht schneiden zu müssen, weil er sich so oft schnitt, dass selbst ihm bewusst wurde, wie verrückt, wie selbstzerstörerisch sein Verhalten war; inzwischen machte er sogar sich selbst Angst, sowohl durch das, was er tat, als auch durch seine Unfähigkeit, es zu kontrollieren.
Direkt danach berichtet Yanagihara geradezu protokollhaft von Judes Selbstverletzungen. Die schockierende dokumentarische Kälte des Berichts schiebt den Leser auf Distanz, und gerade weil man aus solidarischer Nähe kommt, wünscht man sich diesen Sicherheitsabstand auch dringend.
Er hatte eine neue Methode entwickelt, bei der er die Rasierklinge senkrecht auf seine Haut stellte und sie dann so weit hinunterdrückte, wie er konnte, so dass, wenn er die Klinge wieder herauszog – sie steckte fest wie eine Axtschneide in einem Baumstumpf – und das Fleisch auf beiden Seiten auseinanderzog, eine halbe Sekunde lang nur eine saubere weiße Furche zu sehen war, die einer fetten Speckschwarte ähnelte, bevor das Blut sich in dem Schnitt zu sammeln begann.
Diese nüchterne Beschreibung reichert Yanagihara mit Bildern an. Bilder bauen Druck auf gegen die erwähnte Distanz, sie rücken uns auf die Pelle. Es beginnt mit inhaltlich drastischen Vergleichen: Axtschneide im Baumstumpf, fette Speckschwarte. Im weiteren Verlauf der Passage nimmt der Druck der Bilder zu, am Ende dieser einen Seite, die ich hier vollständig zitiert habe, bedrängt uns eine umfassende Metapher des Grauens.
Ihm war schwindlig, so als wäre sein Körper mit Helium vollgepumpt; alle Speisen schmeckten wie verfault, und er aß nur noch, wenn es gar nicht mehr anders ging. Er blieb im Büro, bis die nächtliche Putzkolonne geräuschvoll wie eine Horde Mäuse durch die Räume zu ziehen begann, und er ging auch nicht schlafen, wenn er dann zu Hause war; beim Aufwachen schlug sein Herz so heftig, dass er Luft schlucken musste, um sich zu beruhigen. Allein die Arbeit und Willems Anrufe zwangen ihn zu einem halbwegs normalen Leben; andernfalls hätte er das Haus nicht mehr verlassen, hätte sich geschnitten, bis er ganze Pyramiden aus Fleisch aus seinen Armen hätte herauslösen und in den Abfluss spülen können. Er hatte eine Vision, in der er in seinen Körper schnitt – zuerst in die Arme, dann in die Beine, dann in Brust, Hals und Gesicht –, bis er nur noch aus Knochen bestand, ein Skelett, das sich bewegte und seufzte und atmete und auf seinen porösen, brüchigen Stelzen durchs Leben wankte. (259)
Metaphern wirken direkt in ihrer harten, quasi naturhaften Zuschreibung „A ist B“. Stärker als die noch vermittelnden Vergleiche bedrängen sie die Leser mit der uneingeschränkten Präsenz der Gleichsetzung. Ganze Pyramiden schneidet Jude sich aus den Armen heraus! Die Metapher des lebendigen Skeletts als Höhepunkt der Szene vernichtet jeglichen Abstand zum Geschehen. Die stilistische Kombination aus gepeinigter Reflexion, kalt beschriebenem Tun und unentrinnbarer Bildlichkeit sorgt dafür, dass dieser Text, wie in Rezensionen immer wieder bezeugt wird, seine Leser „verschlingt“.
Die fein austarierte Mischung der beiden Tonlagen mit wuchtigen Bildern verhindert, dass wir das Schockierende von uns wegschieben können. Dies bekräftigt die Glaubwürdigkeit der erschütternd dramatischen Szenen, und deshalb gleiten sie auch nicht ab in den Kitsch. Das Kitsch-Risiko existiert natürlich auch an den „schönen“ Stellen, den ebenso erschütternden Momenten von Zuwendung, Güte und Liebe. In diesen Passagen kombiniert Yanagihara die beiden Tonlagen des Erzählens wieder mit starken Bildern. Dank der sprachlichen Gestaltung ist also auch die bewegende Wirkung der großen Empathie, die zwischen den Figuren dieses Romans herrscht, frei von Kitsch.
Reise ins Innere des Menschen
Hanya Yanagihara stellt ihre Sprache in den Dienst ihres Themas und erzielt so mit beidem, Inhalt und Form, eine einzigartige Wirkung. Wer literarisches Kaliber nur Werken zuschreibt, in denen die Sprache wichtiger ist als das Erzählte, mag Hanya Yanagiharas Roman vielleicht nicht dazu rechnen. Doch Ein wenig Leben ist ein großes Stück Literatur. Dieser Roman lotet das tiefste Innere des Menschen aus, bis in alle denkbaren Regungen hinein, die uns antreiben, Neugier, Verstehenwollen, Begehren, Angst, Missgunst, das Böse, Hass, Güte, Liebe. Die äußere Welt des Menschen – die erzählten sozialen Mechanismen – bleibt bei aller Tiefenschärfe der Figuren ganz im Nur-Menschlichen. Wenn sie Fragen an das Schicksal stellen, den Blick also ins Metaphysische richten, dann sehen sie nach dem Willen der Autorin: nichts. Bei Hanya Yanagihara bleibt der Mensch allein, auch wenn ihn im Laufe seines Lebens ein festes Netz an Freunden und Liebenden umgibt. Es gibt keine höhere Instanz, hoffen kann er nur auf das Gute im Hier und Jetzt.
Man fragt sich, woher die Autorin so viel weiß – über Missbrauch (davon handelt auch ihr erster Roman The People In The Trees, allerdings aus der Täterperspektive), über Männer, über seelische Zerstörung, Heilung, Unrettbarkeit. Aber das geht uns nichts an. Es zählt, was bleibt: Wer sich auf diese vielschichtige, intensive, strapaziöse Reise ins Innere eines Menschen einlässt, ist nach der Lektüre nicht mehr derselbe. Ich bin geradezu körperlich mit dem Bösen, dem Leiden und der Empathiefähigkeit des Menschen in Berührung gekommen, auch mit meiner eigenen Empathie. Danach blicke ich behutsamer und zugleich fragender auf meine Nächsten.
PS: Keine Stilanalyse eines übersetzten Werks ohne Übersetzungskritik! Hierzu in Kürze ein weiterer Beitrag.
Ein wenig Leben
Roman • Aus dem Englischen von Stephan Kleiner
Hanser Berlin 2016 • 960 Seiten • 28,00 Euro
ISBN: 978-3446254718
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel
[…] zwei lange Texte zum Roman “Ein wenig Leben” von Hanya Yanagihara geschrieben: eine Stilkritik und eine Übersetzungskritik. Beides ist bei unseren Lesern auf ein lebhaftes Interesse gestoßen. […]