Putins Angriffskrieg, Trumps Schockstrategie, der globale Angriff auf die Demokratie – bis vor wenigen Jahren hätte man sich das im Traum nicht ausdenken können.
In unregelmäßigen Abständen lesen wir auf tell klassische Texte vor dieser Folie und fragen: Haben die Klassiker Antworten auf die derzeitigen Verwerfungen des politischen und gesellschaftlichen Raums?

1. März 2025: Die Tyrannei der Freiheit. Herwig Finkeldey über Fernando Pessoas „Ein anarchistischer Bankier“

19. April 2025: Die Freiheit, zu ziehen oder nicht zu ziehen. Herwig Finkeldey über Thomas Manns „Mario, der Zauberer“

Friedrich Torberg war 1940 unter dramatischen Umständen die Flucht in die USA geglückt, seine Novelle Mein ist die Rache ist im US-amerikanischen Exil entstanden und erschien 1943 in einem kleinen Emigrantenverlag auf Deutsch, also in der Sprache, in der gerade in Europa die Tötungsmaschine zur Vernichtung der europäischen Juden kommandiert und gelenkt wurde. Die Erzählung handelt von genau dieser Maschine sowie von der Ohnmacht und dem Grauen derjenigen, die dieser Maschine ausgesetzt sind. Wie Anna Seghers Das siebte Kreuz erzählt auch dieses Erzählwerk aus der überrealen Welt der Konzentrationslager.

Ein zunächst namenlos bleibender entflohener Insasse eines Lagers erzählt einem Mit-Exilanten in New York seine Geschichte. Er war zuvor Häftling eines Lagers gewesen, in dem zunächst ein Wechsel des Lagerkommandanten stattgefunden hatte.

Mit diesem Wechsel ändern sich die Verhältnisse im Lager grundlegend. Wagenseil, so der Name des neuen Kommandanten, handelt ganz im Sinne seiner Ideologie. Er glaubt an die nationalsozialistische Kernthese einer jüdischen Weltverschwörung und leitet daraus die Vernichtung der Juden als „geschichtlich notwendig“ ab. So rechtfertigt er „vor der Geschichte“ seine Verbrechen: Er will sie als humane Tat verstanden wissen, als Opfergang.

Sein erstes Ziel ist es, allen Insassen „jegliches Solidaritätsgefühl zu zermürben“.

So habe Wagenseil sofort auf Kollektivstrafen verzichtet.

Denn die Gemeinsamkeit des Leids ist so gut eine Gemeinsamkeit wie jede, sie bekräftigt und tröstet – und Wagenseil wollte uns selbst diese trostloseste aller Tröstungen verwehren.

Über Wagenseils Sadismus sagt der Erzähler:

Er war ein Gourmet, und kein Fresser.

Das höchste Ziel dieses „Gourmets“ war es dabei nicht, die Juden eigenhändig zu töten. Sie sollten vielmehr in den Selbstmord getrieben werden. Und diesen letzten Akt sollten sie darüber hinaus als Ausdruck einer angeblichen „geschichtlichen Notwendigkeit“ begreifen.

Ein Ausdruck dieser Notwendigkeit ist die von Wagenseil initiierte sogenannte Judenbaracke. Bis dato waren die Häftlinge bunt durchmischt gewesen; Wagenseil aber lässt alle Juden in einer Baracke zusammenfassen. Die den Juden zugewiesene Baracke erweist sich sofort als zu eng für 80 Menschen. Aber Wagenseil ‚beruhigt‘ die drei Juden, die es noch wagten, als Delegation die Bitte um mehr Raum vorzutragen. Nachdem Wagenseil den Bittstellern ins Gesicht geschlagen hat, gibt er die unmissverständliche Antwort:

Es wird in Ihrer Baracke noch genügend Platz sein. Das verspreche ich Ihnen. – Wegtreten.

Ein Jude nach dem anderen suizidiert sich dann nach Wagenseils Folter. Spätestens nach dem dritten Selbstmord kennen die Insassen der Judenbaracke ihr Schicksal. Unvermeidlicherweise kommt die eine Frage auf, der junge Seligmann stellt sie des Abends in der Baracke:

Aber warum, warum! Was haben wir denn getan! Warum hassen sie uns so!

Worauf der Rabbinatskandidat Josef Aschkenasy die entscheidende Antwort gibt:

Man haßt uns nicht für das, was wir tun. Man haßt uns für das, was wir sind.

Es gibt eine Szene im Roman, die das traditionelle jüdische Denken fassbar macht: das Vertrauen auf die göttliche Rache als Teil der göttlichen Gerechtigkeit. Torberg exemplifiziert das anhand des jungen Häftlings Hans Landauer.

Landauer erscheint die Überwindung des Suizids als letzte Freiheit, die den Häftlingen noch bleibt. Er meldet sich freiwillig zum ‚Verhör‘ bei Wagenseil, wird entsprechend gefoltert, verweigert aber den ihm zugedachten Suizid. Zerschlagen und sterbend kommt er zurück in die Baracke.

Noch einmal erwacht er und denkt an seinen Folterer:

Aber dem zeig ich‘s noch. Der soll nur warten. Ich zeig‘s ihm noch.

Diese Sterbeszene ist schriftstellerisch ungeheuerlich. Die jüdischen Häftlinge diskutieren, was Hans Landauer wohl damit gemeint haben könnte. Ob er Wagenseil hätte umbringen wollen? Josef Aschkenasy sorgt dann für Erstaunen, indem er sagt:

Es ist gut, daß er es nicht getan hat. Es ist gut, daß sein Opfer rein geblieben ist vor dem Herrn. Mein ist die Rache und die Vergeltung, spricht der Herr.

Und wenig später sagt Aschkenasy in Bezug auf die Peiniger:

Und Er wird ihnen ihr Unrecht vergelten und wird sie um ihrer Bosheit vertilgen!

Damit beschwört der Rabbinatskandidat das jahrtausendalte Gesetz, das den Juden ihr Überleben sichern soll.

Dann aber wird der Ich-Erzähler zu Wagenseil gerufen. Und erleidet alles, was seine Vorgänger auch erlitten haben. Dieses Leiden lässt ihn Aschkenasys Worte noch einmal durchdenken – und damit auch die jüdische Tradition:

Es ist nicht so, wie Aschkenasy gesagt hat: daß wir keine Wahl haben. Nur unsere Feinde glauben das […]. Und das ist es auch, was sie so sicher macht: daß wir immer nur auf die göttliche Rache vertrauen, immer nur, immer wieder, immer noch, seit Jahrtausenden.

Der Ich-Erzähler redet weiter zu sich und ruft im Selbstgespräch zugleich Gott an. In seiner Vorstellung lässt er Gott antworten:

Ihr solltet manchmal für meine Rache einstehen, oder solltet doch zeigen, daß ihr dazu bereit seid.
[…]
Mein ist die Rache, und Ich werde sie üben, wenn es Mir gefällt. Aber ihr sollt nicht glauben, dass ihr nichts weiter zu tun braucht, als um Rache zu rufen, damit es mir gefiele. Denn ich bin nicht mehr sicher, ob ihr aus Gehorsam und aus Treue zum Gesetz so handelt – und nicht aus Feigheit und Furcht, und weil ihr schwach und weich geworden seid im Vertrauen auf Meine Rache.

Mit diesen Fragen im Kopf wird der Gefolterte sich Wagenseils Manipulation zum Selbstmord widersetzen – und mit der ihm von Wagenseil hingehaltenen Waffe nicht sich, sondern Wagenseil erschießen, der geglaubt hatte, Juden würden sich nicht wehren.

Darauf kann der Ich-Erzähler fliehen und seine Geschichte erzählen. Die Folgen seiner Rache aber sind grausam: Das nationalsozialistische Terrorsystem rächt sich seinerseits, nun doch mit einer Kollektivstrafe.

So kommt es, dass der Ich-Erzähler am New Yorker Pier steht und bei jedem aus Europa anlandenden Schiff vergebens auf einen Mithäftling wartet. Sein eigenes Überleben und seine Rache haben mutmaßlich den Tod aller anderen bewirkt.

***

Friedrich Torbergs Erzählung Mein ist die Rache hallt, wie alle großen Literaturwerke, über die letzte Zeile hinaus nach, denn sie wirft Fragen auf, die moralisch kaum lösbar sind. Wie handelt man richtig? Was darf man tun, wenn der eigene, zunächst gerechte Widerstand andere an Leib und Leben gefährdet?

Friedrich Torberg hatte die existenzielle Dimension dieser Fragen erkannt. Nach der Vollendung von Mein ist die Rache erklärte er alle seine früheren Werke für null und nichtig.

Bildnachweis:
Beitragsbild: A.Greeg
via iStock

Angaben zum Buch

Friedrich Torberg
Mein ist die Rache
Novelle
dtv 2008 · 106 Seiten · vergriffen
ISBN: 978-3423136860


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Von Herwig Finkeldey

Ein Kommentar

  1. Ein Stück zum Nachdenken – sehr interessant! Dankeschön!

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