Ich tue so, als schreibe ich über Fußball, aber ich schreibe, wie immer, über die Zeit, die verrinnt.

Die Fußball-Europameisterschaft rückt näher, und die fußballbegeisterten Intellektuellen – selten wie ein vierblättriges Kleeblatt – legen sich schon wieder ihre Begründungen zurecht, um die Freude am Fußballgucken zur Notwendigkeit zu erklären. Argumentationshilfe könnte hier ein schmales Buch der Frankfurter Verlagsanstalt geben: Jean-Philippe Toussaints Fußball. Diese autobiographischen Skizzen über seine Fußballleidenschaft sind Toussaints erstes Buch nach der Fertigstellung des Marie-Zyklus, der Tetralogie über die Modeschöpferin Marie, seinem opus magnum.

Nun also Fußball. Beinahe eine Fingerübung nach der epischen Anstrengung – und doch insgeheim mit dieser korrespondierend. Denn im Vierjahresrhythmus des Fußballverfallenen erzählt Toussaint, wie er die Weltmeisterschaften von 2002 bis 2014 erlebt hat, genau der Zeitraum, in dem der Marie-Zyklus entstanden ist.

Somit führt das Buch fußballerisch im Jahr 2002 zunächst nach Japan und Südkorea. In Kyoto verbringt Toussaint die Vorrunde, und dort sieht er den Fluss Kamo als Sinnbild der vorbeijagenden Zeit durch die Stadt fließen. Dieses Bild der Vergänglichkeit ruft Geister hervor, die kaum zu bändigen sind: die Angst, das nackte Wissen um das Ende allen Daseins. Aber aller vanitas und Unvermeidlichkeit zum Trotz – da ist ja noch das Spiel!

Toussaints Sprache ist sperrig – zumindest in der Übersetzung seines Verlegers Joachim Unseld. Der spröde Stil wirkt wie ein Kontrapunkt zu seiner Leidenschaft:

Niemals habe ich so wie damals in Japan 2002 eine derartig perfekte Übereinstimmung der Zeiten erlebt, wo die abstrakte und heilende Zeit des Fußballs für die Dauer eines Monats die wirkliche Zeit zwar nicht ersetzte, aber in ihren weit größeren Fluss geglitten und hinein geschmolzen war und ich das Vergehen der Zeit wie eine lange und schützende Liebkosung wahrnahm, wohltuend, beschützend, apotropäisch.

Denn, so schreibt Toussiant weiter:

…gleichsam wie in wohltuender nächster Nähe des Geschlechts einer Frau bei bestimmten Stellungen des Liebesaktes […] so hält der Fußball, während wir ihn betrachten, uns radikal auf Distanz zum Tod.

Das Spiel als Geisteraustreiber, als Ghostbuster. Dieses Erleben der WM 2002 bleibt zunächst unwiederholbar. Toussaint schreibt am Marie-Zyklus, und das Fußballspiel tritt in den Hintergrund. Die Weltmeisterschaften 2006 und 2010 streifen ihn nur am Rand. Bei der WM 2006 sieht er nur ein Vorrundenspiel, 2010 gar keines.

…2010: ein Jahrhundertjahrgang für den Bordeaux und ein saurer Tropfen für den französischen Fußball.

Das ist sein einziger Kommentar zur WM 2010 in Südafrika.

Der Marie-Zyklus ist 2013 fertiggestellt. Ende des Jahres stirbt Toussaints Vater. Der Autor findet sich „in einer Krise wieder“, wie er schreibt:

Zwei Arten von Niedergeschlagenheit haben das Schreiben der Romane meines Marie-Zyklus begleitet. Die eine, dass der Roman, an dem ich gerade schrieb, nicht meine Erwartungen erfüllen würde […] und die andere, ganz im Gegensatz dazu, dass das Buch sehr gut war, aber eben so gut, dass die wirkliche Welt im Vergleich zu ihm ihren Reiz verlöre…

Eine depressive Stimmung befällt ihn – zum einen die innere Leere nach dem Ende eines umfänglichen Werkes und zum anderen die Trauer um den Vater. Es ist die erste WM ohne seinen Vater, und Toussaint hat sich vorgenommen, weder etwas über die WM zu schreiben, noch auch nur ein Spiel zu schauen. Anfangs hält er sich daran.

Und dann siegt doch das Spiel, das die Zeit anhalten kann. Der Fußball, der alte Geisteraustreiber, der Traumtrigger, der Rausch! Zunächst klickt sich Toussaint, der in seiner Wohnung auf Korsika keinen Fernseher hat, im Netz durch die Ergebnisse der WM, dann streamt er eine Übertragung, schließlich bucht er ein Abo: für das Halbfinale zwischen Argentinien und den Niederlanden! Er schaut es alleine am Schreibtisch, wo heute viele Fernsehabende stattfinden. Und schon ist die Magie wieder da.

Aber es kommt, wie es kommen musste: ein Unwetter über Korsika, der Strom fällt aus! Was tun? Da hilft nur noch das alte Transistorradio.

Wie Toussaint das schildert, wie er, der doch gar kein Spiel mehr schauen wollte, durch die Dunkelheit tappt, stolpert, aufsteht und tastet, um das Radio zu finden, wie er dann in völliger Dunkelheit auf Italienisch das Elfmeterschießen hört, unterbrochen von Frequenz­modulationen, wie dann die Entscheidung aus dem alten Transistor herausbricht, genauso wie zeitgleich die Blitze und der Regen aus dem Himmel – das ist große Literatur. Seine Schilderung hält die Zeit an wie ein gutes Spiel.

Angaben zum Buch
Jean-Philippe Toussaint
Fußball
Aus dem Französischen von Joachim Unseld
Frankfurter Verlagsanstalt 2016 • 128 Seiten • 17,90 Euro
ISBN: 978-3-627-00227-5
Bei Amazon oder buecher.de
Bildnachweis Beitragsbild:
Stadion von Toulouse am 22.3.2008 (nach dem Spiel Toulouse – Rennes)
Fotografiert von Luc-Éric Manneville Lucio [GFDL, CC-BY-SA-3.0 oder CC BY-SA 2.52.01.0], via Wikimedia Commons

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Von Herwig Finkeldey

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