Lieber Wolfgang Hegewald, liebe Sieglinde Geisel, liebe Regina Moths, lieber Rainer Moritz als Gastgeber dieses Abends und liebe Freunde und Gäste, ich freue mich ganz besonders, mit einem Preis ausgezeichnet zu werden, dessen Namensgeber ich 1978 über ein ihm gewidmetes Heft der Zeitschrift Akzente kennenlernte und den ich dann seit Beginn der Werkausgabe im Rowohlt Verlag hingerissen gelesen habe, mit Wiederholungslektüren und auch der Rezeption der Neuübersetzungen von Barbara Kleiner.

Hingerissen von diesen passiven, handlungsgehemmten und hochkomischen Helden, die sich erst über mehrere Seiten selbst analysieren, bevor sie auch nur irgend etwas unternehmen. Hingerissen von den falschen Entscheidungen, die sie treffen, wenn man sie überhaupt Entscheidungen nennen kann, und die sich im Nachhinein dann plötzlich doch als die richtigen herausstellen. Eine Konstellation, die Svevo selbst in dem spät verfassten Text Autobiographisches Profil, in dem er über sich selbst in der dritten Person schreibt, so zusammenfasst: „Alles in allem war sein Leben schließlich nicht so unglücklich, wie er befürchtet hatte.“

Hingerissen schließlich auch vom unverbrüchlichen Festhalten vieler seiner Protagonisten an der Literatur, obwohl sie als Autoren über Jahrzehnte völlig erfolglos bleiben. Der autobiografische Aspekt dieses Motivs ist bekannt und muss hier nicht noch einmal erläutert werden. Ebenso wissen wir, dass Svevo im Kontrast zu seinen Helden, meistens kleine Angestellte, ab 1899 durch Eintritt in die Firma seiner Schwiegereltern ein erfolgreicher und weltgewandter Geschäftsmann wurde, der mit der Unbeholfenheit seiner Helden wenig gemein hatte. Dieser Idealtypus eines Bourgeois, dessen Werk gleichwohl eine deutliche Ahnung der Dämmerung des bürgerlichen Zeitalters verrät, dieser Prototyp des realitätstüchtigen und erfolgreichen Bürgers konnte nach eigenem Bekunden auf sein „tägliches Gekritzel“ nicht verzichten. „Kurzum“, heißt es in der bekannten Notiz vom 2. Oktober 1899, „außerhalb der Feder ist kein Heil.“ Das heißt, wörtlich übersetzt: Die Literatur ist größer als das Leben.

Was ein Buch lebendig werden lässt

So sieht es auch für sich der Angestellte Mario Samigli in der späten Erzählung „Ein gelungener Scherz“ aus dem Jahr 1925. Dieser wird gleich im ersten Satz als Schriftsteller vorgestellt, dessen Werk im zweiten Satz so charakterisiert wird: „Vor vierzig Jahren hatte er einen Roman veröffentlicht, den man wohl mit Recht hätte tot nennen dürfen, wenn sterben könnte, was nie gelebt hat.“ Da er den Glauben an den kommenden Ruhm nie aufgibt, wird er Opfer eines üblen Scherzes seitens einer seiner Bekannten, der in seiner Jugend selbst literarische Ambitionen hatte, seinen Traum dann aber entschlossen tötete und Geschäftsreisender wurde.

Er haßt Mario dafür, dass dieser an seinen Träumen festhält, denn der Desillusionierte will immer auch Desillusionierer sein; sind die eigenen Träume gestorben, gönnt er sie auch den anderen nicht. Deshalb bietet er sich als Agent an und schwindelt von einem deutschen Verleger, der eine sagenhafte Summe für Marios 40 Jahr alten Roman zahlen wolle. Wie sich diese Geschichte weiter entwickelt und für Mario am Ende wenigstens finanziell als Glücksfall endet, der mit dem wechselhaften politischen Schicksal Triests am Ende des Ersten Weltkrieges zusammenhängt, muss hier nicht weiter referiert werden.

Wichtig ist, dass in dieser Novelle alle Teilnehmer des Literaturbetriebs entweder real oder zumindest in Marios Imagination vorhanden sind: der Autor, der Verleger, der Agent und der Literaturkritiker. Das literarische Quartett ist also komplett, und wie immer fehlt jene geheimnisumwitterte Figur, die man den Leser oder die Leserin nennt. Gemeint ist natürlich die Leserin, die nicht betriebsbedingt liest, weil sie lektorieren, jurieren, rezensieren oder Klappen- und Vorschautexte schreiben muss, in denen davon die Rede ist, dass ein Buch einen Sog entwickele oder ein Lesevergnügen sei. Gemeint ist jene Gestalt, die Virginia Woolf the common reader nannte und die ich mit dem Begriff der richtige Leser oder die richtige Leserin bezeichnen möchte. Ich gendere hier nicht, sondern beschränke mich nur in diesem Fall nicht aufs generische Maskulinum, weil man weiß, dass die Mehrzahl der Leser Leserinnen sind.

Es geht mir hier also um das, was überhaupt erst die Literatur zum Atmen bringt und ein Buch lebendig werden lässt: das richtige Lesen. Wir sind uns einig, dass ein Buch, das nicht gerade irgendwo auf der Welt gelesen wird, von einem richtigen Leser, mausetot ist. Einig sind wir uns vermutlich auch, dass das richtige Lesen eine der denkbar asozialsten Tätigkeiten überhaupt ist, denn wenn wir lesen, können wir keine Gesellschaft gebrauchen, zumindest keine menschliche, und ob unser Lesen jemals der Gesellschaft zugute kommt, steht dahin. Es ist eigentlich auch keine interessante Frage – so wenig übrigens wie die Frage, was man lesen soll.

Der geschätzte Harold Bloom hat vorgeschlagen, nur die besten Bücher zu lesen, und dem schließe ich mich vorbehaltlos an. Die Schwierigkeit besteht nur darin herauszufinden, welche das sind. Die Kanonbildung ist eigentlich nicht mehr en vogue, und das ist gut so. Dasselbe trifft für Versuche der negativen Kanonbildung zu. Mit Bloom kann man allerdings konstatieren, dass über die Qualität von Literatur allein ästhetische Kriterien entscheiden können. Nicht die Aktualität oder die Dignität des Stoffes entscheiden darüber, ob ein Buch zu den besten gehört, vielleicht sogar zur Weltliteratur. Selbstverständlich auch nicht die Systemrelevanz, um eines der Unwörter des vergangenen Jahres zu nennen. Als Autor würde ich mich geradezu schämen, wenn man mir Systemrelevanz nachweisen und mich damit in eine Reihe mit VW oder der Deutschen Bank stellen würde. Schon gar nicht taugt der Begriff der kulturellen Aneignung, der es mir verbietet, aus einer anderen Perspektive als der des weißen alten Mannes zu erzählen, der ich bin.

Wie umarmt man eine Zwirnspule?

Wären diese Kriterien entscheidend, hätte nämlich mein Lieblingstext aus der Weltliteratur keine Chance. Es sind die zwei Seiten über das zwirnspulenartige Wesen namens Odradek, die Franz Kafka unter dem Titel „Die Sorge des Hausvaters“ immerhin für wert befand, sie noch zu seinen Lebzeiten in dem Band Ein Landarzt zu veröffentlichen. Es ist nicht schwer, mehrere sinnstiftende Lesarten für diesen trotz seines Titels wunderbar heiteren Text zu finden, und dagegen ist nichts einzuwenden. Daran arbeiten Literaturwissenschaftler, und das sollen sie auch tun.

Was mich aber beim ersten Lesen bezaubert hat und bei jedem wiederholten Lesen am meisten einnimmt, was bei mir jedesmal geradezu eine Welle der Sympathie für Odradek erzeugt, den Drang, ihn zu umarmen – aber wie umarmt man eine Zwirnspule? –, das ist die folgende Passage:

Er hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gängen, im Flur auf. Manchmal ist er monatelang nicht zu sehen; da ist er wohl in andere Häuser übersiedelt; doch kehrt er dann unweigerlich wieder in unser Haus zurück. Manchmal, wenn man aus der Tür tritt und er lehnt gerade unten am Treppengeländer, hat man Lust, ihn anzusprechen. Natürlich stellt man ihm keine schwierigen Fragen, sondern behandelt ihn – schon seine Winzigkeit verführt dazu – wie ein Kind. „Wie heißt du denn?“ fragt man ihn. „Odradek“, sagt er. „Und wo wohnst du?“ „Unbestimmter Wohnsitz“, sagt er und lacht; …   

Die titelgebende Sorge des Hausvaters besteht nun in der Frage, ob ein Wesen wie Odradek überhaupt sterben könne.

Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche.

Wie gesagt, diese Geschichte ist anschlussfähig für die verschiedensten Lesarten, die sich sogar überlagern und überschneiden können und alle ihre Gütligkeit haben. Es gibt zudem ein Wikipedia-Stichwort zu Kafkas Erzählung, und im Netz kann man den Anfang einer mit 1,0 benoteten Seminararbeit im Rahmen der Fachdidaktik Deutsch aus dem Jahr 2007 dazu nachlesen. In der analogen Welt existiert in Berlin eine Buchhandlung Odradek und in Chemnitz ein Lesecafé gleichen Namens. Die Wirkmächtigkeit dieser zwei Seiten scheint erheblich zu sein, auch beim common reader, also dem richtigen Leser.

Den Kopf heben, um zu träumen

Dieser ist,

wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können.

Unzählige Male sind diese Sätze von Marcel Proust zitiert worden. Sie stehen nicht irgendwo in der Recherche, sondern im letzten Band Die wiedergefundene Zeit, als Marcel selbst bereits auf dem Weg ist, endlich zu dem Schriftsteller zu werden, der er von früh an sein wollte. Wohlgemerkt, ich spreche hier nicht von Marcel Proust, sondern von der Figur Marcel in dessen Hauptwerk. 

Der richtige Leser, es sei wiederholt, liest, um etwas über sich selbst zu erfahren, was er noch nicht wusste. Er liest nicht, um sich seine Meinungen oder sein Wissen bestätigen zu lassen, um danach etwa rufen zu können: Habe ich doch gesagt! Oder: Ganz genau so ist es!

Fünfzig Jahre nach Proust schreibt Roland Barthes in einem Text für den Figaro littéraire, dass „wir uns seit Jahrhunderten maßlos für den Autor und überhaupt nicht für den Leser interessieren.“ Und dann der entscheidende Satz:

Man versucht herauszufinden, was der Autor sagen wollte, und mitnichten, was der Leser versteht.

Das ist es: was der Autor sagen wollte, können wir nicht wissen, und daran scheitern zwangsläufig alle Interpretationsaufsätze und -übungen in der Schule. Es ist im Übrigen auch völlig unerheblich, was er sagen wollte. Was er geschrieben hat, steht dagegen nachlesbar im Buch. Was nun der Leser damit anfängt, hängt wesentlich davon ab, ob er jene Lust am Text entwickelt, über die derselbe Roland Barthes ein großartiges Buch gleichen Titels geschrieben hat.

Denn selbstverständlich ist das richtige Lesen nicht nur eine einsame Tätigkeit, sondern auch eine, die von der Lust und dem Begehren gesteuert wird und nicht von der Autorität des anfangs beschriebenen literarischen Quartetts. Das schließt auch ein, dass der richtige Leser, so sehr er der Lust folgt, sich nicht überwältigen lässt und ohnmächtig dahinsinkt, dass er einen Roman keineswegs „verschlingt“. Diese gefräßige Lektüreart ist ihm zuwider, selbst dann, wenn ein Spannungsbogen ihn vorwärts treibt.

Der richtige Leser liest nie, um zu wissen, „wie es ausgeht“. Er liest, indem er laut Barthes „fortwährend den Kopf hebt, um zu träumen“, sein „Lesen löst sich vom Buch, um die Welt zu erforschen: ihre Zeichen, ihre kleinen Sätze, ihre Bilder, ihre Mythen“ und kehrt dann zum Buch zurück, bis zum nächsten Mal, da er aufblickt.

Er hat sich längst vom Autor emanzipiert und ist der eigentliche Protagonist, der dominierende Part bei diesem erotischen Akt, den man Lesen nennt. Dominant ist er auch gegenüber den Protagonisten des Buches. Wenn wir Flaubert lesen, wissen wir immer schon mehr über die arme Emma Bovary als sie selbst und als das, was der Autor bisher erzählt hat. Wenn wir richtige Leser sind, wissen wir sehr früh, dass es keinesfalls „gut ausgeht“. Da das aber nicht unsere Hauptsorge ist, lesen wir dennoch weiter und blicken ab und zu vom Buch auf, um zu träumen.

Ich habe über den unbekannten Leser, das geheimnisvolle Wesen gesprochen, weil ich zuverlässig weiß, dass heute ein paar Exemplare davon in diesem Raum sind. Von einem weiß ich sogar, dass Svevos handlungsgehemmte und entschlussunfähige Figuren ihn zum Wahnsinn treiben und er Svevo deshalb nicht weiterlesen kann. Aber immerhin, das ist doch ein sehr starker Affekt!

Ich danke Wolfgang Hegewald als dem Schöpfer dieses Preises, und ich danke der Jury, dass sie ihn mir zugesprochen hat, gerade diesen Preis. Ich danke dem wahren Mäzen, der ihn finanziert und der ungenannt bleiben und ihn nicht mit einem Sponsorensiegel versehen will. Und ich danke all jenen unbekannten Leserinnen und Lesern, die bisher geneigt waren, sich mit meinen Büchern zu beschäftigen und sich hoffentlich mit ihnen auf eigene Wege gemacht haben. Vielen Dank.

Bildnachweis:
Beitragsbild: CC0 Public Domain via PxHere

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Von Jochen Schimmang

Jochen Schimmang ist Schriftsteller und lebt in Oldenburg.

2 Kommentare

  1. a) Die neue Subjektivität als literarische Geschmacks-Schule, sozusagen. Ja, warum nicht.
    b) Die Bedeutung der Literatur schrumpft indes und schrumpf und schrumpft. Vermutlich unaufhaltbar. c) Schwer zu sagen, ob der Geschmacks-Individualismus, den Sie oben aufblättern, eine Folge des Bedeutungsschwunds ist oder der Bedeutungsschwund vielleicht auch mit solch’ geschmacksbasiertem Superindividualismus zusammenhängt. Vermutlich beides.
    Als irgendwie blau gestimmter Leser, nedwahr, Ihrer Bücher gratuliere ich Ihnen jedenfalls zu diesem Preis!

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  2. Zum Bedeutungsverlust der Literatur:

    Die Jungen lesen noch halb soviel wie 1984

    https://twitter.com/SteveStuWill/status/1461514569847873536/photo/1

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