Dies ist der zweite von vier Texten zu Gedichten des altchinesischen Dichters Li Shangyin.

Das erste Gedicht begann mit dem Verb „kommen“ und endete mit den zehntausend Bergen, die sich zwischen den Liebenden erheben. Im zweiten Gedicht endet der erste Vers mit demselben „kommen“ (das auch den Reim auf -ai für dieses Gedicht vorgibt). Es ist zunächst der Wind, der aus dem Osten kommt – also von dort, wo sich die elysischen Berge befinden –, und Regen bringt. Der Ostwind ist in der chinesischen Lyrik gleichbedeutend mit dem Frühlingswind. Zu Beginn des zweiten Verses begegnen wir den „Lotosblüten“ wieder, die bereits den sechsten Vers des ersten Gedichts beschließen. Nun sind es jedoch offensichtlich nicht mehr gestickte Blüten, sondern richtige Blumen in einem Teich. Der dritte Vers schließlich beginnt mit dem „Gold“, das im ersten Gedicht die Eisvögel charakterisiert.

Hier die Originalfassung dieses zweiten Gedichts mit Interlinear-Übersetzung (bitte auf die jeweilige Zeile klicken):

颯颯東風細雨來
„Sa sa“ (Windgeräusch) Osten Wind / feiner Regen kommt
芙蓉塘外有輕雷
Lotos-Blüten Weiher jenseits / vorhanden leichter Donner
金蟾齧鎖燒香入
Goldene Kröte zubeißen Verschluss / brennender Duft hinein
玉虎牽絲汲井回
Jade Tiger ziehen Strang / schöpfen Brunnen zurück
賈氏窺簾韓掾少
Jia Tochter erspähen Vorhang / Han Schreiber jung
宓妃留枕魏王才
Fu Fei überlassen Kissen / Wei Prinz talentiert
春心莫共花爭發
Frühling Herz soll-nicht gemeinsam / Blumen wetteifern blühen
一寸相思一寸灰
Ein Zoll sich sehnen / ein Zoll Asche

Das dritte Verspaar spielt auf zwei bekannte Geschichten an: Die Tochter des Generals Jia Chong (217–282) verliebt sich in Han Shou, den gutaussehenden jungen Sekretär ihres Vaters, nachdem sie ihn hinter einem Türvorhang hervor erspäht hat. Zwischen den beiden entspinnt sich ein heimliches Verhältnis, bis die Tochter eines Tages einen kostbaren Duft ihres Vaters stiehlt, um damit ihren Liebsten zu beschenken. Als der General den ihm wohlbekannten Duft an seinem Sekretär wahrnimmt, kommt er der Sache auf die Spur – und gibt Han daraufhin seine Tochter zur Frau.

Fu Fei ist der Name der Göttin des Flusses Luo. Dem Dichter Cao Zhi (192–232) soll sie im Traum erschienen sein, als er an diesem Fluss rastete, worauf er seine berühmte Rhapsodie über die Göttin des Luo schrieb. Cao Zhi war der talentierte Sohn des Feldherrn und Dichters Cao Cao (155–220), der in den Wirren gegen Ende der Han-Dynastie die Herrschaft über Nordchina erlangte. Cao Zhi stand in einer rivalisierenden Beziehung zu seinem älteren Bruder Cao Pi, der sich ebenfalls dichterisch betätigte und nach dem Tod des Vaters und dem Untergang der Han-Dynastie zum ersten Kaiser des neuen Reiches Wei wurde, das in der „Zeit der drei Reiche“ (220–280) mit den Staaten Shu und Han um die Vorherrschaft in China kämpfte. Cao Zhi hatte angeblich ein unglückliches Liebesverhältnis mit Zhen Luo, der Gattin seines Bruders. Als Cao Pi später eine andere Frau bevorzugte und ihm Zhen Luo lästig wurde, habe er diese zum Selbstmord gezwungen und daraufhin ihr Kissen seinem Bruder Cao Zhi geschenkt, um ihm zu zeigen, dass für seine Liebe nun keine Hoffnung mehr bestand. Hinter der „Göttin des Luo“ in Cao Zhis Rhapsodie soll sich daher eigentlich seine verstorbene Liebe verbergen, deren Geist ihm im Traum erschien. Das „Gewähren des Kissens“ suggeriert dabei die sexuelle Vereinigung.

Eigenartig erscheint in diesem Zusammenhang zunächst das zweite Verspaar. Mit der goldenen Kröte ist ein Gefäß für Räucherduft gemeint. Diese waren oft kunstvoll in Tierform gestaltet, wobei die Kröte in China nicht mit Hässlichkeit assoziiert wird. Der „zubeißende Verschluss“ ist vielleicht das Maul der Kröte oder eher noch eine bewegliche Öffnung im Unterleib des Tiers, durch die der „brennende Duft“, d. h. ein Räucherstab, in das Gefäß eingesetzt wird. Weshalb jedoch folgt darauf nun das Bild des Brunnens, aus dem mit Hilfe der in Form eines Tigers aus Jade gestalteten Winde Wasser geschöpft wird? Um dieser Frage nachzugehen, müssen wir nochmals auf den Kontext zurückkommen, in dem das zweite Verspaar steht. Im ersten Verspaar ist die Rede vom Frühlingswind, der Regen und Donner bringt – eine Wetterlage, die erotische Konnotationen heraufbeschwört, wobei der leise Donner auch als Herannahen des Wagens des Geliebten gedeutet wird. Zusammen mit den Liebesgeschichten des dritten Verspaars scheint nun hinter den beiden Handlungen, die in einem vornehmen Anwesen alltäglich sind, noch eine zweite Bedeutungsebene auf, besonders wenn man im Hinterkopf hat, dass die Wendung „Wolken und Regen“, wie sie im ersten Verspaar angedeutet wird, die konventionelle Metapher für den Beischlaf ist – das Bild geht auf die Sage eines Königs zurück, der an einem Berg seinen Mittagsschlaf hält und von einer Fee träumt, die mit ihm das Lager teilt. Zum Abschied sagt sie ihm, dass sie am Morgen in Gestalt der Wolken am Berghang weile und sich am Abend in den treibenden Regen verwandle.

Im zweiten Verspaar verbirgt sich also mit dem glühenden Stab, der in die bewegliche Öffnung der (weiblichen) Kröte geführt wird und dem (männlichen) Jadetiger, der den Strang aus dem Brunnen zieht, die Vereinigung der Geliebten in Bildern von geradezu pornographischer Deutlichkeit – wären sie nicht äußerst raffiniert als alltägliche Handlungen getarnt, welche die Liebesnacht gleichsam einrahmen: Zum Auftakt wird Räucherduft entfacht und am nächsten Morgen wird im Brunnen Wasser geschöpft. Diese Doppeldeutigkeit, die es in der Übersetzung zu bewahren gilt, rückt die Szene zudem in eine ironische Distanz, die typisch ist für Li Shangyin, der sich in vielen seiner Gedichte als meisterhafter Satiriker zeigt. Verse dieser Art sind es, die oft einen vielstimmigen Chor teilweise abstruser Deutungen produziert und wesentlich zu Li Shangyins Ruf eines hermetischen Dichters beigetragen haben, wobei in diesem Fall der sexuelle Hintersinn auch von chinesischen Interpreten kaum erkannt oder aber für so delikat befunden wurde, dass man vornehm darüber hinweg las.

Das letzte Verspaar greift noch einmal die Motive des Räucherstabs und der Blumen auf, die um die Wette blühen, und nimmt nach der Erfüllung bereits das Vergehen der Liebe vorweg, das sich auch schon im Wort „zurück“ am Ende des ersten Teils angedeutet hat. Der Dichter spielt hier mit der Mehrdeutigkeit von „Asche“, das im Chinesischen auch die Bedeutung „niedergeschlagen, enttäuscht“ hat. Wer verzweifelt und entmutigt ist, hat ein „aschenes Herz“. Auch die beiden Geschichten im dritten Verspaar rahmen die Flüchtigkeit der Erfüllung ein. Die erste Geschichte bezeichnet den Beginn des Liebesglücks, die zweite bereits dessen Ende.

Die letzte Zeile dieses Gedichts sowie zwei Verse der beiden folgenden Gedichte haben sogar in den Song Set the controls for the heart of the sun der englischen Rockband Pink Floyd Eingang gefunden, in der Übersetzung durch A.C. Graham (“Poems of the Late T’ang”, New York 1965).

Der Ostwind säuselt, weht herbei zarte Regenschleier.
Ein leises Donnern ist zu hören jenseits der Lotosweiher.
Das Schloss der goldenen Kröte nimmt den schwelenden Duftstab auf.
Der Jadetiger zieht den Strang aus der Tiefe des Brunnens zurück.

Jia Chongs Tochter erspähte durch den Vorhang den hübschen Gelehrten.
Die Flussnymphe gewährte ihr Kissen dem begnadeten Prinzen der Wei.
Hüte dich, o Frühlingsherz, mit den Blumen um die Wette zu blühen,
muss jede Spanne Sehnsucht doch zu gleich viel Asche verglühen!

Bildnachweis Beitragsbild: Gemeinfrei, via Wikimedia Commons

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Von Raffael Keller

Sinologe, Übersetzer und Bibliothekar. Er hat u.a. einen Band mit Gedichten von Du Fu (Tang-Zeit 618-907) sowie Werke von Xiao Kaiyu (geb. 1960) und anderen zeitgenössischen chinesischen Lyrikern übersetzt.

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