Li Shangyin (813–858) gilt als einer der dunkelsten und schwierigsten Dichter der chinesischen Literatur. Berühmt sind seine Gedichte Ohne Titel, erotische Gedichte, die in ihrer anspielungsreichen, auf den ersten Blick oft rätselhaften Symbolik ein wenig an europäische Barocklyrik oder die Sonette Mallarmés erinnern mögen. Darunter findet sich auch ein kurzer Zyklus von vier Gedichten, von denen jedoch in Auswahlbänden und Anthologien meist nur das erste oder die ersten beiden präsentiert werden, was insofern bedauerlich ist, als diese vier Gedichte die vier Stufen einer Liebesbeziehung schildern:
– Sehnsucht, Begehren
– Erfüllung
– Erkalten, Trennung
– Einsamkeit, Tod
Die ersten beiden und das letzte dieser streng geformten Gedichte sind Achtzeiler zu je sieben Schriftzeichen (bzw. Silben), mit einer Zäsur nach der vierten Silbe; die ebenfalls acht Zeilen des dritten Gedichts bestehen nur aus fünf Zeichen/Silben. Hier das erste Gedicht, zunächst in der Originalfassung mit Interlinearversion (bitte auf die jeweilige Zeile klicken):
Auffallend ist, dass – wie in der klassischen chinesischen Lyrik üblich – Personalpronomen fehlen, d.h. es wird nicht explizit gesagt, von wem hier die Rede ist, wer spricht, wer träumt oder einen Brief schreibt. Als einzige Person ist ein Junker Liu genannt: Dahinter verbirgt sich eine Anspielung auf Kaiser Wudi (reg. 141–87 v. Chr.) der Han-Dynastie, der mit eigentlichem Namen Liu Che hieß und bereits als Fünfzehnjähriger inthronisiert wurde. Wie viele andere Kaiser widmete er sich auch der Suche nach Unsterblichkeit, wofür ihm kein Aufwand zu groß war. Die Unsterblichen lebten angeblich in den Penglai- oder Peng-Bergen, einem sagenhaften Inselgebirge, das im Gelben Meer situiert wurde. Kaiser Wudi soll einst versucht haben, mit Hilfe eines daoistischen Zauberers einer verstorbenen Palastdame wieder zu begegnen, doch wurde ihm beschieden, dass er sie erst in vierzig Jahren in den Penglai-Bergen wiedersehen könne.
Das im dritten Verspaar geschilderte Interieur spricht immerhin eher für eine Frau, deren Situation geschildert wird: Eisvögel und Lotosblüten waren beliebte Dekorationsmotive, sei es auf Wandschirmen, Decken oder Kleidung, und wecken erotische Assoziationen: Eisvögel symbolisieren ein glückliches Liebespaar, Lotosblüten die Schönheit einer Frau.
Eine Frau scheint also eine Nacht lang (im alten China wurde die Nacht in fünf Doppelstunden eingeteilt, die fünfte ist die letzte vor Sonnenaufgang) auf ihren Geliebten zu warten, von dem sie kein Lebenszeichen hat und der versprach, zu kommen, ohne dieses Versprechen zu halten. Die Nacht vergeht, ein Traum weckt neue Ängste, die sie dazu drängen, einen Brief zu schreiben, was so schnell geschehen muss, dass keine Zeit bleibt, auf dem Reibstein die gepresste Tusche solange mit Wasser zu reiben, bis sie genügend dickflüssig ist. Doch die Kerze brennt nieder, der Duft verraucht, die (Lebens-)Zeit verrinnt, ohne dass sich etwas ändert. Der Geliebte scheint ferner zu sein als die elysischen Berge, die gleichsam ins Unendliche vervielfacht zwischen den Liebenden aufragen, was durch die auffällige zweimalige Verwendung des Zeichens 遠 (fern), im Traum des dritten Verses und im siebten Vers, noch unterstrichen wird. Auch die nur „zur Hälfte“ in den Kerzenschein gehüllten Eisvögel im fünften Vers illustrieren die Trennung des Liebespaars.
Typisch für die klassische chinesische Lyrik ist, dass sich uns der Mensch hier nur indirekt offenbart. Wie es die ostasiatischen Kulturen insgesamt kennzeichnet (und wie es auch in der konfuzianischen Beziehungsethik zum Ausdruck kommt), stehen nicht die Individuen, die eine Beziehung eingehen, im Vordergrund, sondern die Beziehung selbst steht im Zentrum: Sie ist es, welche die Menschen und ihre Gefühle erst schafft und formt und damit der Gemeinschaft Struktur verleiht.
Die Beziehung, die hier mit Bildern subtil umschrieben wird, ist die unterbrochene, durch Ferne gekennzeichnete, die sich im Gefühl des Begehrens, der unstillbaren Sehnsucht nach der geliebten Person äußert. Der Reiz für den Übersetzer besteht nun darin, auch im Deutschen auf Personalpronomina zu verzichten und das Verlangen selbst in den Fokus zu rücken, auch wenn das nicht ganz gelingt und im letzten Vers sich ein „uns beiden“ nicht vermeiden lässt. Anspielungen, wie jene auf den „Junker Liu“ lassen sich natürlich, will man die Form des Gedichts nicht zerstören, nur in einem Kommentar unterbringen, doch kann man versuchen, unter Verzicht auf für den deutschen Leser nichtssagende Eigennamen möglichst viel Information im Gedicht selbst zu vermitteln. Im Original enden jeweils der erste, zweite, vierte, sechste und achte Vers auf denselben Reim. Im Deutschen wurde der Reim dort verwendet, wo er sich anbot, ohne den Sinn zu sehr zu verzerren.
Der Mond neigt sich über die Dächer, die fünfte Stunde schwindet.
Im Traum ein Abschied in die Ferne, den kein Weinen wendet.
In fliegender Hast entsteht ein Brief, die Tusche viel zu dünn.
Die Kerze hüllt die goldenen Eisvögel zur Hälfte in ihren Schein.
Durch Lotosblütenzierden dringt ein Moschusräucherhauch.
Ein junger Kaiser verwand es kaum, dass die elysischen Berge so fern.
Zehntausend elysische Berge müssen wohl zwischen uns beiden sein.
Lyrik- bzw. Gedichtübersetzungen gehören zu schwersten Dienstleistungen, die ich kenne. Ich persönlich spreche lieber von Übertragungen als von Übersetzungen, weil ich nicht an eine intersprachliche Synonomie glaube. Die vielen Erläuterungen zu den wenigen Zeilen machen die sprachlichen Schwierigkeiten deutlich. Ich habe eine Frage zu der Formulierung: “Im Original enden jeweils der erste, zweite, vierte, sechste und achte Vers auf denselben Reim. Im Deutschen wurde der Reim dort verwendet, wo er sich anbot, ohne den Sinn zu sehr zu verzerren.” Weshalb wird in der Übertragung nicht auf Reim verzichtet? Reime bilden doch eine Formalie, bereits im Original, eine Formalie, die gar nicht durchzuhalten ist.
Man kann den Wein aus der Flasche in ein Glas gießen oder einfach auf den Tisch. Auch die Weinlache hat eine Form, die aber weniger zum Genuss einlädt als der Wein im Glas, denn auch die Freiheit (ob von Reimen oder anderen Gestaltungsregeln) ist eine Form, die aber nicht unbedingt die nachhaltigsten und schönsten Resultate zeitigt, wie man gegenwärtig an unseren die Freiheit verherrlichenden westlichen Gesellschaften wieder gut beobachten kann. Form und Inhalt bedingen einander und lassen sich nicht voneinander trennen, am wenigsten in der Lyrik, weshalb meiner Meinung nach die Übertragung eines Gedichts auch einen Eindruck von dessen Form vermitteln sollte. Oder: Je höher die Hürde, die man sich setzt, desto beeindruckender der Sprung, wenn er gelingt, und desto spektakulärer der Sturz, wenn sie sich als zu hoch erweist. Blaue Flecken sind ja in dieser Disziplin zum Glück keine zu befürchten. Als ich vor 15 Jahren angefangen habe zu übersetzen, habe ich darüber allerdings auch noch etwas anders gedacht, wie Sie an diesem kleinen Aufsatz sehen können: http://dx.doi.org/10.5169/seals-147554
Falls Ihnen Freiheit Sorgen bereitet, nehme ich mir mal die Freiheit heraus, Ihnen im Rahmen Ihres Bildes zu demonstrieren, welche Freiheit Sie sich in Bezug auf Reime herausgenommen haben: Sie stellen mir ein aus China stammendes Weinglas auf die Theke Ihrer Bar, halbieren es jedoch mit einem wuchtigen Schlag, um nachhaltige Effekte ermöglich zu können, wie sie mir mit einem Lächeln erläutern. Nun schütten Sie Wein auf die gespaltenen Trümmer und fragen mich nebenbei: “Ist das nicht schön?”
Scherben bringen Glück, und ein Trankopfer besänftigt die Götter! Aber vielleicht sollte ich mir in Zukunft die Freiheit nehmen, den Li Shangyin 847 oder einen anderen edlen Tropfen direkt aus der Flasche zu saufen, indem ich selbstgenügsam darauf verzichte, anderen davon ein Glas einzuschenken (denn der Wein stammt aus China und nicht das Glas).
Das chinesische Glas: “Im Original enden jeweils der erste, zweite, vierte, sechste und achte Vers auf denselben Reim.”
Ich dachte, das sei nur eine Formalie?
Auf Seite 86 übersetzt Bill Porter (Finding Them Gone) ein weiteres Gedicht (“Ohne Titel”) von Li Shangyin, welches auch Eingang in die 300 Tang-Gedichte gefunden hat. Damals war er 15.
http://imgur.com/VdGn0lG
@ Anselm Bühling: Ich denke weiterhin, dass es sich bei den Reimen um eine Formalie handelt; ich nutzte aber Raffael Kellers Bild, um etwas zu demonstrieren. In der Übertragung auf Reime zu verzichten, würde ich eher präferieren, als dem Scherbenhaufen (“Im Deutschen wurde der Reim dort verwendet, wo er sich anbot, ohne den Sinn zu sehr zu verzerren.”) zu vertrauen.
Raffael Keller hat hier seine Arbeit vorgestellt, seine Vorgehensweise erläutert und auf Ihre Nachfrage hin seine Entscheidung begründet – freundlich und professionell. Ich finde es schade, dass Sie auf seine Gründe nicht eingegangen sind, sondern stattdessen das von ihm verwendete Bild für einen polemischen Tiefschlag zweckentfremdet haben.
Die Diskussion darüber, wie mit Reimen umzugehen ist, wird seit langem geführt – mit guten Argumenten von jeder Seite. Hier wäre durchaus Gelegenheit, daran anzuknüpfen und eine anregende, auch kontroverse Debatte zu führen. Das kann aber nur gelingen, wenn jeder auf die Gründe des anderen eingeht und seine eigenen erläutert. Ich würde mich sehr freuen, wenn auch Sie das mit Freundlichkeit und Respekt tun könnten.
Sorry, an einen polemischen Tiefschlag kann ich mich nicht erinnern. Im Gegenteil: ich bin ohne Umschweife ins Detail gegangen, sowohl in Bezug auf ‘Freiheit’ als auch auf die Frage nach ‘Form und Inhalt’ (im Rahmen des Bildes), und ich frage mich nun, was daran hätte abwegig sein können, oder wird nicht verstanden, was ich sagte? Vielleicht äußerte ich nicht einige der wohlbekannten Ansichten; werden die vermisst?
Vorsichtshalber betone ich noch einmal meine Ansicht bilderlos: Man würde die längst genutzte Freiheit verkennen, in einer Übertragung von der originalen Reimform abzuweichen. Offensichtlich geht es jedoch nicht anders. Gerade der Versuch, von dem Schema ‘etwas zu retten’, könnte jedoch nur verbliebene Reste des Originalschemas anzeigen. Deshalb würde ich auf das Schema verzichten. Mehr sagte ich nicht.
Danke. Das Problem war das unglückliche und unnötige Bild des Scherbenhaufens, nicht Ihre Ansicht. Über die lässt sich bilderlos sehr viel besser reden. Lassen wir also das Scherbengericht einfach hinter uns.
Hallo,
leider bin ich erst jetzt auf diese interessante Diskussion gestoßen. Darf ich dennoch meinen Senf dazugeben?
Bei der Übersetzung chinesischer Lyrik wird die strenge formale Struktur, der sie unterliegt, meist übersehen und nicht berücksichtigt. Die Qualität eines klassischen chinesischen Gedichtes definiert sich aber weniger durch den Inhalt als durch die Form. Bei allem Verständnis sollte sich ein Übersetzer bemühen, diesen formalen Aufbau des Originals nicht ganz unter den Tisch fallen zu lassen. In vielen Fällen geschieht jedoch genau dies, dadurch geht für den westlichen Leser ein wesentlicher Reiz chinesischer Lyrik verloren.
Das deutlichste Kennzeichen der formalen Struktur der Gedichte ist der Reim. Das Vorhandensein eines Reimes im Original zu negieren, ist sicher die radikalste Form der Reimkritik, nachdenklichere Übersetzer führen andere Argumente an, die meines Erachtens dennoch nicht greifen. So verzichtet Rainald Simon bei seiner neuen Shijing-Übersetzung bewusst
„auf eine der originalen Struktur folgenden Reimung,…weil dazu weitgehende und damit verzerrende Eingriffe nötig wären, um die Strukturen adäquat wiederzugeben.
Den Kompromiss zu finden zwischen Wörtlichkeit, inhaltlicher Korrektheit und Nachahmung formaler Gesichtspunkte, ist allerdings genau die Aufgabe des Übersetzers. Wer dann einfach auf den Reim verzichtet, der macht es sich doch zu einfach. Dass eine übertriebene Reimung jedem Gedicht etwas „Leierhaftes“ verleiht, ist unbestritten und kann am besten bei den Übersetzungen Alfred Forkes nachempfunden werden, der mitunter der einzelnen Verszeile gleich zwei Reime (je ein Teil vor und nach der Zäsur) angedeihen lässt. Dennoch, die Nachempfindung des im Original ja unzweifelhaft vorhandenen Reimes
„eine Art Zwangseinbürgerung ins Reich deutscher Reimung, die das Original verzerr(t) “ (R. Simon)
zu nennen, ist schon etwas abwegig. Und auf den Reim zu verzichten aus der Befürchtung heraus, dass dem heutigen Leser von Lyrik der Reim verstaubt und oft schon fast ein wenig verschroben vorkommt,“ (R. Simon)
kann ja wohl nicht die angemessene Reaktion sein. Sprachlich befremdlich erscheinen dem heutigen Leser auch die Meisterwerke in der Sprache Goethes, Schillers oder Lessings. Aber wäre es die angemessene Reaktion darauf, den „Faust“ umzuschreiben in die Sprache der Smartphone-Nutzer von heute? Im Falle der chinesischen Gedichte halte ich es lieber mit Volker Klöpsch, der „die Gebundenheit der Sprache durch Strophe und Reim“ beibehält, da „jede sprachliche Beliebigkeit irreführend“ wäre.
Will man nur ein Mindestmaß an Berücksichtigung der formalen Strukturen bei der Übersetzung walten lassen, darf man meines Erachtens am allerwenigsten auf den Reim verzichten. Deshalb habe ich bei meinen Übersetzungen ein durchgehendes Reimschema im Deutschen angewandt, ohne dass die Wörtlichkeit der Übertragung zu kurz kommt. Der Gefahr, bei der Suche nach einem passenden Reimwort Charakter und Poesie des Gedichtes zu beeinträchtigen, muss man sich dabei natürlich bewusst sein. Das Reimschema im Original, das in der Regel im ganzen Gedicht jeweils nur einer Silbe folgt, kann in der deutschen Sprache kaum nachvollzogen werden. Nur in ganz seltenen Fällen kann dies gelingen. Zumindest bei den einstrophigen nur vier Verse langen Kurzgedichten habe ich mich bemüht, das im Original angelegte Reimschema aaba auch im Deutschen zu erreichen. In mehr als 80 Prozent der Fälle ist dies gelungen. Dem Gedicht in der Übersetzung grundsätzlich ein bestimmtes Reimschema zu verpassen, halte ich für absolut alternativlos; nicht vorrangig deswegen, weil das Original auch mit einem Reim arbeitet, sondern weil ein Reimschema, es sehe aus wie es wolle, am ehesten einen Eindruck einer formellen „Zwangsjacke“ vermitteln kann, in der die Dichter eingepackt waren und unter deren Einschränkungen sie dichten mussten. Ein Verzicht auf den Reim würde eine dichterische Freiheit und Ungebundenheit suggerieren, die am allerwenigsten in der chinesischen Dichtkunst anzutreffen ist, er würde nahelegen, bei den chinesischen Gedichten handele es sich um im freien Rhythmus formlos und ungezwungen dahin plätschernden Versen, die von ebenso freien und in der Natur sich tummelnden Menschen künden. Genau das Gegenteil ist aber der Fall, und genau, um diesen Gedanken zu vermitteln, ist der Reim so wichtig. Dabei scheint es völlig unerheblich zu sein, in welchem Schema der Reim in der Übersetzung auftaucht, 1:1 dem Original folgen kann er ohnehin nicht. Warum dann also nicht hin und wieder einen umfassenden Reim (abba) auswählen, wenn es gerade sprachlich passt, oder einen Kreuzreim (abab) oder einen komplizierteres Reimschema.