Vom Sterben der Demokratie
Ein Weihnachtstipp von Herwig Finkeldey
Jens Biskys neustes Buch Die Entscheidung erzählt aus sehr vielen Blickwinkeln die Jahre des Scheiterns der Weimarer Republik: von 1929 bis zur endgültigen Etablierung der totalen Macht Adolf Hitlers 1934, nach dem Röhm-Putsch und dem Tod Hindenburgs.
Bisky findet in diesem Buch natürlich keine das bisherige Geschichtsbild umstürzenden neuen Erkenntnisse – zu auserzählt und ausgeforscht ist diese Episode der deutschen Geschichte. Aber was dieses Buch leistet, muss man bewundern. Ohne Phrasen und ohne billige Anklagen erzählt Jens Bisky das Sterben der Demokratie. Er macht klar, dass der Weg nicht notwendigerweise zum schrecklichen Ende hätte führen müssen. Man hätte es verhindern können.
Wer heute auf das Ende Weimars zurückblickt, weiß: Es ist politisch leichtfertig, nicht mit dem Schlimmsten zu rechnen.
Eine Aussage, die nicht nur historisch zu verstehen ist.
Jens Bisky
Die Entscheidung. Deutschland 1929-1934
Rowohlt Berlin 2024 · 640 Seiten · 34 Euro
ISBN: 978-3737101257
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Very creative non-fiction
Ein Weihnachtstipp von Sieglinde Geisel
Zora del Buonos preisgekröntes Buch ist kein Roman, aber es liest sich, als wäre es einer. Ich würde es als „very creative nonfiction“ bezeichnen. Zora del Buono erzählt die Geschichte einer Recherche: Als ihr Vater mit 33 Jahren bei einem Autounfall starb, war sie noch ein Baby. Fast sechzig Jahre später macht sie sich auf die Suche nach dem Chevrolet-Fahrer, der an dem Unfall schuld war. Diese Spurensuche ist der rote Spannungsfaden einer Collage, zu der schonungslose Selbstanalyse („Liste der eigenen Deformationen“) ebenso gehört wie Wissenswertes über die Frauenbewegung der Schweiz und Besuche im Pflegeheim, denn ihre Mutter ist inzwischen dement, sie hat auch den Vater vergessen, um den sie ein Leben lang getrauert hat. In den Intermezzi „IM KAFFEEHAUS“ unterhalten sich die Ich-Erzählerin, ein Mann namens Munz und Isadora über philosophische Themen, zum Beispiel über das Schweigen.
Zunehmend glaube ich, dass es hochkompliziert ist, was sprachlich geht und was nicht, sagt Isadora. Du lernst von Anfang an, worüber du reden kannst […]. Die halbe Welt besteht aus Tabus und heißen Zonen. Generationen haben über die Nazis nicht geredet, da konnten die 68er fragen, so viel sie wollten, da kam nichts.
Zora del Buono
Seinetwegen
C. H. Beck 2024 · 204 Seiten · 23 Euro
ISBN: 9783406822407
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Das 20. Jahrhundert in einem Brennglas
Ein Weihnachtstipp von Hartmut Finkeldey
Ich empfehle eine kleine Wiederentdeckung: Manés Sperbers autobiografische Trilogie All das Vergangene.
In Manès Sperbers Leben zeigt sich das 20. Jahrhundert wie in einem Brennglas gebündelt. Ich belasse es bei Stichworten: aufgewachsen im Schtetl (er schreibt „Städtel“, aber keine Sorge: uns wird kein verlogener Anatevka-Kitsch angeboten!), im ersten Weltkrieg verarmt in Wien, dort früh politisiert, nicht zuletzt durch die zionistische Jugend; Justizpalastbrand, dann Alfred Adler, Berlin, Brecht, die KP, die obligate Moskaureise 1931, dort beginnende Desillusionierung, die faschistische Bedrohung, der 30. Januar 1933 (Sperbers Erinnerung an die „Machtergreifung“ gehört in unsere Schullesebücher!), Exil, Münzenberg.
Sperber erzählt analytisch und leidenschaftlich zugleich. Ein Intellektueller des 20. Jahrhunderts, der erleben musste, wie alle Utopie an menschlicher Schwäche scheitert.
[…] ob ich es dem Leser nicht zu schwer mache, mein damaliges Verhalten zu verstehen; dieses beschränkende, verschränkende Ineinander von Wissen und Nichtwissen, von Verzweiflung über die getäuschte Hoffnung und von Begeisterung für alles, was auch nur im Entferntesten einer Erfüllung nahe kommen konnte.
Manès Sperber
All das Vergangene. Ausgewählte Werke
Sonderzahl 2023 · 609 Seiten · 44 Euro
ISBN: 9783854496281
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