Das Gespräch mit Peter von Matt wurde am 10. April 2017 in Zürich geführt. Ein gekürzte Version ist in Sinn und Form (Heft 5/2017) erschienen. tell veröffentlicht das vollständige Interview in drei Teilen:
Peter von Matt im Gespräch (1)

Sieglinde Geisel: Wie lernt man lesen?

Peter von Matt: Lesen lernt man wie schwimmen, indem man einfach ins Lesen springt. Und wie beim Schwimmen schwadert man zuerst ein bisschen am Ufer herum, und irgendwann merkt man, dass man einen ersten Schwimmzug gemacht hat, und plötzlich merkt man, dass man zwei, drei Züge machen kann, und irgendwann kann man schwimmen. Ins Lesen kommt man, indem man als Kind entdeckt, dass das toll sein kann, ein Buch zu lesen, und dann ist man angefressen. Es gibt natürlich Leute, die waren nie angefressen vom Lesen. Aber man muss ja auch nicht Leser sein, um ein vernünftiges Leben zu führen.

Haben Sie von anderen Lesern lesen gelernt?

Am Gymnasium hatte ich in den letzten beiden Jahren einen sehr guten Deutschunterricht. Damals gab es noch kaum Taschenbücher. An der Klosterschule, wo ich war, haben die Lehrer die Bücher vorgelesen und sie beim Vorlesen kommentiert. „Habt ihr gemerkt, was der da sagt? Habt ihr den Satz gehört? Habt ihr gemerkt, was das für ein Satz ist?“ Das hängt natürlich auch vom geistigen Horizont des Lehrers ab. Ich erinnere mich an einen Moment, als aus Gotthelfs Ueli der Knecht vorgelesen wurde. Ueli ist am Verlottern, er säuft herum und wird dann durch eine Krise ein brauchbarerer Mensch. Dann heißt es im Text: „Und seine Worte hatten eine Bedeutung.“ Dazu der Lehrer: „Habt ihr das jetzt gehört, was das für ein Satz ist, was da dahinter ist? Vorher konnte er sagen, was er wollte, da sagte man: Ist doch egal, was der Säufer sagt. Aber jetzt, da er ein Ansehen gewonnen hat, haben seine Worte eine Bedeutung.“ Ich hätte über den kleinen Satz hinweggelesen. Das Geschehen ist immer banal. Aber wie das Geschehen erzählt wird, das ist etwas ganz und gar Besonderes. Durch den Hinweis erkannte ich plötzlich:  Hinter einem solchen Satz steht ein komplizierter sozialer Zusammenhang. Soziale Anerkennung besteht auch darin, dass man hört, was einer sagt, es zur Kenntnis nimmt und denkt: Wenn der das sagt, dann muss etwas dran sein. Welche Vernetzung von Selbstwert, Fremdwert, Selbstschätzung, Fremdschätzung, sozialer Zustimmung, aber auch sozialem Nutzen! Wenn seine Worte eine Bedeutung haben, dann nützen sie auch jemand anderem etwas. Und das steckt alles in diesem Sätzchen! Das ist mir seither nie mehr aus dem Sinn gegangen.
Solche Dinge habe ich an dieser Schule gelernt. Wir saßen da, und es war hochspannend. Und heute ist es so, dass der Lehrer sagt: Lest diese Geschichte bis morgen, wir reden dann darüber. Dann lesen die Schüler das irgendwie quer durch, und jeder kommt mit irgendetwas anderem im Kopf in die Schule, und dann reden sie über das, was sie irgendwie kraut-und-rübenhaft im Kopf haben. Aber jetzt bin ich wieder ungerecht.

Bei Ihnen ist Lesen ein Vollzug des Textes.

Lesen ist immer ein Vollzug des Textes.

Man kann durchaus lesen, ohne dass man die Worte wahrnimmt!

Die Aufmerksamkeit muss auf dem einzelnen Satz liegen, nicht nur auf der Handlung. Die meisten lesen ja einfach die Handlung: Wer gibt wem aufs Dach, wer krieg von wem aufs Dach, wer gibt zurück und was ist am Schluss. Oder in einem Liebesroman: Wer verführt wen, wer hat was davon, und wer leidet darunter. Das Geschehen ist immer banal. Aber wie das Geschehen erzählt wird, das ist etwas ganz und gar Besonderes, wenn wir es mit einem Autor zu tun haben, der den Namen verdient.

Prosa als rhythmisches Ereignis

Hat dieses Lesen, das auf den einzelnen Satz achtet, auch eine körperliche Dimension?

Der Umgang mit dem Buch hat immer eine bestimmte haptische Qualität. Ich habe sehr gerne Erstausgaben, nicht aus Sammlergründen, sondern weil ich gerne die Bücher in der Hand habe, die die Autoren selbst genauso in der Hand hatten: das Buch, das sie geschrieben und dann das erste Mal aufgeschlagen haben. Ein Text bleibt ja nie, wie er ist. Er verändert sich unentwegt, solange er wieder gedruckt wird. Da entdeckt man in der Erstausgabe Fehler, die später stillschweigend korrigiert wurden, bei Max Frisch zum Beispiel haben die Erstausgaben die kuriosesten Fehler, vor allem bei fremdsprachigen Ausdrücken; in der zweiten, dritten Auflage sind die dann wieder weg, und das sind eigentlich hoch interessante Dinge. Jede ästhetische Erfahrung hat eine körperliche Dimension. Wie das Erschrecken oder die Freude, das trifft einen ja ganz in der Mitte.Ein Kellner verwendet einen kulinarischen Ausdruck, ein spezielles Gericht, das einen schönen Namen hat – und Frisch schreibt ihn falsch. Da entsteht eine Spannung zwischen dem Connaisseur und dem, der nicht weiß, wie man’s schreibt und der das selber auch nicht merkt.

Mit körperlich meine ich auch den Rhythmus eines Texts. „Erzählen ist Arbeit an einem Rhythmus“, heißt es in Ihrem Buch Sieben Küsse.

Jede ästhetische Erfahrung hat eine körperliche Dimension. Wie das Erschrecken oder die Freude, das trifft einen ja ganz in der Mitte. Ich erfahre auch den Textrhythmus körperlich.  Wenn man einmal angefangen hat, sich auf die Qualität einzelner Sätze zu konzentrieren, erkennt man, wie sehr die Prosa ein rhythmisches Ereignis ist. Gute Prosa ist in dieser Hinsicht bis ins Letzte durchgearbeitet.

Der Tschechow-Erzählung mit dem Titel „Der Kuss“ haben Sie in Sieben Küsse ein ganzes Kapitel gewidmet. Wie finden Sie Texte, die zu einem Thema passen?

Ich hatte gesehen, dass Tschechow eine Erzählung geschrieben hat, die heißt „Der Kuss“ (lacht). Da dachte ich, könnte ja was für mich sein!

Wie nähern Sie sich einem solchen Text?

Es hätte sein können, dass ich nach der Lektüre des Textes sage: Das ergibt nichts im Hinblick auf das Buch. Mir ging es ja nicht nur um den Kuss als Ereignis, sondern auch um das Thema vom Glück und Unglück. Das ist ja das Raffinierte an diesem Text: Die Erfahrung ist somatisch in ihn übergegangenDoch dann war diese Erzählung hoch interessant. Die Hauptfigur ist eigentlich ein Esel, ein dummer Kerl, ein Langweiler – doch genau der wird hier zum Gegenstand einer Beobachtung. Das ist ein psychologisch hoch raffinierter Text und umwerfend komisch, weil der Mann so vollkommen widersinnig lebt. Der weiß genau, was für ein Unsinn es ist, dass er jetzt einen ganzen Sommer lang die Erwartung hat, diese Frau wiederzusehen, die ihn aus Versehen geküsst hat, von der er genau weiß, dass sie gar nichts von ihm will, dass es ein Irrtum war, dass sie entsetzt aus dem Zimmer gelaufen ist, weil sie den Falschen geküsst hat. Aber diese Erfahrung ist somatisch in ihn übergegangen. Das ist ja das Raffinierte an diesem Text: Die Erfahrung ist somatisch in ihn übergegangen, obwohl sein Kopf genau weiß, das hat nichts mit mir zu tun. Nach dem Kuss kommen körperliche Phänomene: dieser kleine Kältefleck auf der Wange, wo sie ihn geküsst hat – nach 24 Stunden hat er diesen Kältefleck immer noch, „wie von Pfefferminztropfen“ heißt es, und auch wenn das am nächsten Tag verschwindet, bleibt ihm ein ganz und gar unglaubliches Glücksgefühl. Er weiß, dass er von dieser Frau nicht geliebt wird – aber das ist jetzt geschehen, und jetzt steckt es in ihm, und den ganzen Sommer lebt er damit, als ob er eine Geliebte hätte. Das ist als psychologischer Vorgang hoch interessant.
Natürlich ist so etwas auch mit der Epoche verbunden. Das hätte vor Tschechow wahrscheinlich keiner schreiben können. Flaubert vielleicht, aber das ist ja nicht so viel früher. Dass einer auf so etwas kommt, setzt einen naturwissenschaftlichen Blick voraus.

Lesen und deuten

Wir hatten vorhin von „Verpackungsästhetik“ gesprochen. Ist das nicht auch eine Form von Auspacken, wenn Sie einen Text so lesen?

Ich packe nicht etwas aus. Ich mache es nur sichtbar. Es gibt winzige Szenen, die keine tiefsinnigen Aussagen enthalten, sondern rein körperliche Vorgänge betreffen. Das Berühren beispielsweise in diesem Tschechow-Text: Der Mann berührt später die kalten Tücher, die die Frauen, über die er immer fantasiert, wahrscheinlich beim Baden gebraucht haben; diese Tücher hängen am Geländer, er berührt sie, und sie sind ganz rau und eiskalt – das ist sozusagen die somatische Gegenerfahrung zu dem Kuss. Sobald er die Tücher berührt hat, ist alles weg, was bisher war. Wenn ich das beschreibe, ist das kein Auspacken, sondern ein Aufmerksam-Machen. Es geht mir darum zu sehen, was hier eigentlich passiert.

Ist das auch ein Deuten?

Es hängt mit einem Deuten zusammen. Wenn ich den nächsten Schritt mache und sage, das hängt mit dem Stand der Naturwissenschaften zusammen, ihrem Rang im späten neunzehnten Jahrhundert und mit Tschechow als Arzt und Wissenschaftler, der sich bekennt zur Wissenschaft und der die Politik und die Idee der Revolution ablehnt, der sagt: An den drei Möglichkeiten des Endes erkennt man das Konfliktmuster.Die Naturwissenschaft kann innerhalb der nächsten zweihundert Jahre bessere Verhältnisse schaffen, aber eine Revolution wird in Russland scheitern, weil diejenigen, die eine Revolution machen können, die gleichen sind, die jetzt schon Macht haben und nichts zustande bringen. Wenn ich das sage, dann ist das schon Deutung – wie immer man das nennen will. Es ist die Vernetzung in einem größeren Problemzusammenhang. Der kann soziologisch sein, philosophisch, oder rein historisch, das gehört natürlich auch dazu.

Hochzeit, Mord, Wahnsinn

Sie vertreten die These, dass es nur drei mögliche Schlüsse für einen Roman oder ein Drama gibt: Hochzeit, Mord oder Wahnsinn. Stimmt das überhaupt?

Viele denken, das stimme nicht. Aber es stimmt. Das sind natürlich symbolische Begriffe. Hochzeit steht für die universale Versöhnung, den Übergang des Konflikts in Frieden. Natürlich kann man sagen: Mit der Hochzeit fängt der Krieg erst an, aber das ist eine dumme Antwort, das sind die Leute, die dann sagen: „Wartet nur, bis der Streit beginnt!“ Aber wenn ein Buch an seinem Ende angelangt ist, ist es fertig, dann kommt nachher nichts mehr, auch wenn manche sagen: Ich weiß schon, wie das weitergeht! Bei einem Bild kann ich auch nicht sagen: Da rechts nach dem Rahmen kommt sicher noch ein Baum.
An den drei Möglichkeiten des Endes erkennt man das Konfliktmuster. Es gibt den radikalen Konflikt, er endet mit einem Kampf auf Leben und Tod – Stichwort Mord. Das Andere ist der Friede, das Glück – Stichwort Hochzeit. Und das Dritte ist das Heraustreten aus dem sozialen Ganzen in den eigenen Wahn, in eine Welt, die nicht mehr die aller andern ist. Auch der Suizid kann dafür stehen.

Wie hat sich diese Erkenntnis bei Ihnen eingestellt?

Es war die Zeit der Kommunikationstheorien. Da gab es bei Paul Watzlawick dieses Grundmuster: die gegenseitige Anerkennung, die Ablehnung des Anderen und das Ignorieren des Anderen. Der Satz: „Man kann nicht nicht kommunizieren“, stammt ja aus dieser Zeit. In der Literatur zeichnet sich in der Begegnung zweier Menschen dieses Muster von Bejahen, Verneinen und Ignorieren ebenfalls ab. Die Begrüßung ist die Anerkennung: Es gibt dich. Ich sage dem anderen den Namen, der sagt mir meinen Namen, und damit bestätigt er mir, dass es mich für ihn gibt, und ich bestätige ihm, dass es ihn für mich gibt. Oder ich grüße ihn nicht. Man kann Kinder ja nicht großziehen, ohne ihnen Geschichten zu erzählen.Aber da man nicht nicht kommunizieren kann, bedeutet der verweigerte Gruß eine Negierung der Existenz des anderen. Oder ich grüße ihn in einer Weise, die beleidigend ist, dann weiß er, das war jetzt ein aggressiver Akt. Und das ist immerhin auch noch eine Anerkennung: Dich gibt’s.

Literatur und Welt

Können wir aus der Literatur etwas lernen?

Das Erzählen ist die älteste Form der Weltdeutung, insofern sind alle Probleme und Konflikte immer schon erzählt. In den neuen Werken werden sie wieder neu beleuchtet. Ich lerne Welt kennen, wenn ich lese. Wenn ich nachher wieder in die nicht imaginäre Welt gehe, sehe ich mehr, weil ich gelesen habe – und wenn ich aus dieser zurückkomme, lese ich wieder besser. Das ist ein Zirkel. Mit den Märchen fängt es an. Man kann Kinder ja nicht großziehen, ohne ihnen Geschichten zu erzählen. Heute setzt man sie vor den Bildschirm, aber auch dort laufen Geschichten ab, auch das sind Formen der Weltdeutung.

Das würde heißen, dass Literatur die Welt verändern kann.

Unter Umständen schon. Aber ein Autor kann nicht sagen: Ich schreibe Bücher, um die Welt zu verändern, das ist absolute Hybris. Er kann allerdings damit rechnen, dass irgendjemandem, von dem er nie etwas erfahren wird, etwas aufgeht, was dieser Leser nicht mehr vergisst und was für ihn eine Bedeutung hat bis an sein Lebensende. Aber das kann ein Autor nicht berechnen, sonst macht er wieder in Verpackungsästhetik: Ich schreibe eine Geschichte, in der ich meinen Zeitgenossen sage, was sie für schlimme Kerle sind, weil sie das und das tun oder weil sie dies und jenes nicht tun. Aber niemand wartet auf Erziehung. Man wünscht sich ja im Gegenteil immer das Ende der Erziehung herbei. Trotzdem wird man unentwegt weiter erzogen – wenn es die eigenen Eltern nicht mehr machen, machen es die Kinder.

Vielleicht schon auch die Autoren, die man liest?

Wenn man aufmerksam liest, dann können einem Fenster aufgehen. Ich glaube schon, dass der Erkenntniswert der Literatur groß ist und dass es viele Leute gibt, die deshalb lesen.


Unterstützen Sie uns auf Steady


Beitragsbild: Anselm Bühling, unter Verwendung folgender Bilder:
Foto Peter von Matt: Gelehrter11 [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons
Foto Offenes Buch: Peter Heeling, via skitterphotos.com
Teilen über:

Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

Ein Kommentar

  1. Großartig: ein Reichtum an Einsichten vorgebracht in einer Leichtigkeit, die mich packt. Ich gratuliere zu diesem wirklichen Dialog und danke herzlich. Ich werde die Studierenden gleich am beginn ihres Literaturstudiums damit bekanntmachen, als „Grundkurs (Literatur) Lesen“ sozusagen.

    Weiter so, liebe Sieglinde Geisel, weiter so, liebe Redaktion. Birgit Dahlke

    Antworten

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert