„Öffnen Sie das Buch auf Seite 99, und die Qualität des Ganzen wird sich Ihnen offenbaren.“ (Ford Madox Ford). Wir lesen mit der Lupe und schauen, was der Text auf dieser Zufalls-Seite leistet.
Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.
Eine schwierige Seite 99 (hier kann man die Seite lesen), denn der Stil ist geradezu penetrant von Relativierungen geprägt. Der erste vollständige Satz beginnt, in der deutschen Übersetzung von Stephan Kleiner, schon mit einem syntaktischen Mittel der Relativierung, nämlich zwei aufeinanderfolgenden Relativsätzen. Um diese Relativsatztreppe zu kaschieren, hat der Übersetzer das zweite “den” durch ein “welchen” ersetzt.

Ich war ihr am Silvesterabend 1999 begegnet,

den ich bei einem Krisenkommunikationsexperten verbrachte,

welchen ich bei der Arbeit kennengelernt hatte –

ich arbeitete damals bei Monsanto, und Monsanto befand sich fast permanent in einer Situation der Krisenkommunikation.

Eigentlich sind das zwei Sätze, nur endet der erste mit einem Gedankenstrich statt mit einem Punkt. Dies ist der erste von drei Gedankenstrichen auf der Seite 99 – eine Häufung, die mir nicht zufällig scheint, denn auch der Gedankenstrich eignet sich als Stilmittel der Relativierung: Man kann an ihm das zuvor Gesagte in der Luft baumeln lassen, um es dann zu relativieren oder gar zu widerlegen.

Ich weiß nicht, woher er Claire kannte,

tatsächlich glaube ich, er kannte sie gar nicht, schlief aber mit einer ihrer Freundinnen –

wobei „Freundin“ nicht das richtige Wort ist,

sagen wir, einer anderen Schauspielerin, die im selben Stück mitspielte.

Der Erzähler nimmt alles wieder zurück, was er sagt. Der Krisenkommunikationsexperte hat Claire gekannt, doch dann hat er sie nicht gekannt, sondern nur mit einer Freundin von ihr geschlafen. Und diese Freundin ist keine Freundin, sondern nur eine Schauspielkollegin.

In diesem Stil geht es weiter:

Claire stand also am Anfang ihres ersten großen Theatererfolgs –

der im Übrigen auch ihr letzter sein sollte.

Diesmal ist die Relativierung nach dem Gedankenstrich eleganter, und zugleich fieser.

Es folgt erste Satz auf dieser Seite 99 ohne Gedankenstrich, ein etwas überladener Hauptsatz:

Bis dahin hatte sie sich mit Nebenrollen in französischen Filmen mit geringem bis mittlerem Budget und einer Handvoll Hörstücken auf France Culture begnügen müssen.

Im nächsten Satz sind wir wieder beim bewährten Muster:

Diesmal hatte sie die weibliche Hauptrolle in einem Theaterstück von Georges Bataille erhalten –

wobei es sich nicht direkt und eigentlich sogar überhaupt nicht um ein Theaterstück von Georges Bataille handelte,

der Regisseur hatte sich einer Bearbeitung auf Grundlage verschiedener sowohl fiktionaler als auch theoretischer Texte Batailles gewidmet.

Solche Lektüre ermüdet, es ist, als würde man im Zickzack lesen. Im Page-99-Verfahren erschließt sich nicht, wovon diese Seite eigentlich handelt und wozu die Relativierungen gut sind. Es geht zwar um eine Schauspielerin namens Claire, doch gerade über sie erfahren wir fast nichts.


P. S.: Inzwischen habe ich das Buch zur Hälfte gelesen. Obwohl die Seite 99 kein Schlüssel zum Werk ist, gibt der Befund einen Hinweise auf die Machart des Ganzen. Houellebecq kultiviert in Serotonin das uneigentliche Sprechen, und er tut dies auf unterschiedliche Weise. Neben dem Trick mit den Gedankenstrichen gibt es die Klammerbemerkung (auf Seite 68 sind es fünf!), überhaupt scheint dieser Roman fast nur aus Abschweifungen zu bestehen.

Und selbst wenn der Ich-Erzähler beim Thema bleibt, wirkt es, als erzähle er uns etwas nur, um etwas anderes nicht zu erzählen. Zum Beispiel wenn er uns einen umfassenden Überblick über den exquisiten sexuellen Leistungskatalog seiner japanischen Ex-Geliebten Yuzu verschafft, wenn er detailversessen eine Autofahrt durch Paris beschreibt oder uns die Erörterungen normannischer Käsesorten zumutet. Houellebecq füttert seine Sprachmaschine mit jedem beliebigen Sujet, doch wir lesen im Leerlauf.

Wollte ich diesem literarischen Verfahren etwas abgewinnen, könnte ich als wohlerzogene Germanistin darin eine Übereinstimmung von Form und Inhalt erkennen. Wir schauen in diesem Roman einem Mann beim Verschwinden zu, und das obsessiv uneigentliche Sprechen wäre dann gewissermaßen ein Vollzug des Verschwindens.

Nur: Wozu das alles?

Angaben zum Buch
Michel Houellebecq
Serotonin
Roman · Aus dem Französischen von Stephan Kleiner
Dumont 2019 · 336 Seiten · 24 Euro
ISBN: 978-3832183882
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

7 Kommentare

  1. Liebe Frau Geisel, mag sein, dass das in der Luft hängen bleiben ermüdend ist – aber, ehrlich, das Dasein ist es auch oder es darf zumindest so beschrieben werden, wenn man an der Kultur krankt. Wer krankt denn nicht. Mit den 7 Literaturkritikern, die das Fernsehen kennt und all den erwartungsfrohen Germanisten, die sich gerne an einer geradlinigen story (wie die Zahlen zeigen ist es eine Story a la Seethaler) erfreuen würden. Nur, ist das uns umzingelnde Sprechen eher uneigentlich, schwammig, hohl and what not und gering ist die Zahl der Schreiber, die es wagen, die Wirklichkeit einholen zu wollen. Gerade erst enttäuscht mich der Wagemut der Inger-Maria Mahlke. Immerhin, sie hat ihn. Monsieur Houllebeque hat ihn ganz bestimmt und die Seite 99 lese ich anders, sagen wir: im Uneigentlichen finde ich was wieder . Mit besten Grüßen Hans-Werner Bott

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  2. Dem Herrn Bott möchte ich mich da nur anschließen.

    Was den Gedankenstrich betrifft, so ist dieser nicht nur ein Stilmittel der Relativierung, sondern genauso der Präzisierung und ebenso verweist er auf Nebenaspekte, die ein Autor gleichsam in die Klammer setzen möchte. Perspektiven, die er vielleicht nicht fürs Wesentliche hält, die aber ebensowenig zum Verschwinden gebracht werden sollen. Parenthese heißt dieses Zeichen nicht umsonst.

    Der vorletzte Absatz scheint mir das principium stilisationis des Romans recht gut zu bezeichnen und ich werte dies als positiv: „Übereinstimmung von Form und Inhalt (..). Wir schauen in diesem Roman einem Mann beim Verschwinden zu, und das obsessiv uneigentliche Sprechen wäre dann gewissermaßen ein Vollzug des Verschwindens.“

    Und was kann man Besseres tut als dieses Verschwinden in dieser Form dazustellen. Wir erinnern, insofern ist dies ein sehr guter Satz, liebe Sieglinde Geisel, und man erinnert sich auch noch, wie jene Frau in der Wand verschwand. Da aber war es Mord. Und auch bei Bachmanns “Maline”-Roman funktionierte diese Art der Darstellung, wo nach einer Identität gefragt wird. Genauso scheint mir dies bei Houellebecq konsistent eingelöst – zumindest nach dem, was ich bisher las.

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  3. Grundsätzlich bin ich mit Hans-Werner Bott einverstanden: Literatur muss nicht gradlinig erzählt sein, deshalb interessieren mich ja Autoren wie Thomas Harlan oder William H. Gass so sehr. Doch nicht alles, was der Abschweifung, dem “umzingelnden” und uneigentlichen Sprechen huldigt, ist deswegen schon bemerkenswerte Literatur im Sinn eines Jean Paul oder Laurence Sterne. Nicht einmal das Zusammenfallen von Form und Inhalt garantiert für sich genommen schon Kunst von Rang.
    Es gibt halt auch den Kitsch der Avantgarde. Und ich fürchte, Houellebecq geht sehr in diese Richtung.
    “Unterwerfung” fand ich stark: Dort ist der Protagonist zwar auch das, was man gemeinhin ein Arschloch nennt, aber er ist es so, dass er mich als Figur trotzdem interessiert, ich habe, naiv gesagt, meine Freude an ihm, obwohl ich ihn ablehne. DAS ist für mich ein viel verlässlicheres Kriterium für Kunst: Dass es Lebenskraft hat, rein durch die Sprache, die Energie, mit der es aufgeladen ist. Und das vermisse ich in “Serotonin”.

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  4. Beide Relativierungen führen ins Schwächere, Verwaschenere hinab. Mit der Bekanntschaft von Claire und dem Krisenkommunikationsmanager ist es nicht weit her und das Theaterstück von Bataille ist mehr vom Regisseur. Zu optimistische Annahmen werden auf den Boden der Realität zurückgekullert. Die kaskadierten Relativierungen zeigen im Kleinen Niedergang auf. Affektiv mögen sie Enttäuschung ausdrücken, Anklage oder wollen uns zum Lachen bringen.

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  5. charakteristisch scheint mir hier weniger die (abschwächende) Relativierung, sondern mehr die neben- oder untergeordnete Ergänzung zu sein. Houellebecq ist wild entschlossen, seine Leser mit seiner eigenen langen Weile zu langweilen. Dass es ihm gelingt, ist aber nicht gerade ein Kunststück. Belanglose Sachverhalte werden um weitere, noch uninteressantere ergänzt (“wobei”). Form- und Inhaltsleere kommen über das Mittel der formalen Redundanz zur Deckung. Relativierung würde irgendeine – und sei es eine noch so schwache – Wertung voraussetzten. Als könnte die eine Langweiligkeit durch eine weitere – ironisch – relativiert oder gesteigert werden. Langeweile ist einfach lange Weile, sie kann nicht gesteigert oder ironisiert werden. Besonders fordert sie nicht einmal einen Houellebecq.

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  6. Das sind erhellende Beobachtungen zur Langeweile, die man durch die Langeweile selbst erzeugt…
    Inzwischen habe ich das ganze Buch gelesen, und was mir beim Page-99-Test aufgefallen ist, trifft vor allem auf die erste Hälfte zu. Als sich der Ich-Erzähler aus Paris absetzt in die Normandie, verändert sich der Duktus. Nun ist es eine solide Erzählung, mit einem Abstecher in journalistisches Gelände (dort, wo es um den Protest der normannischen Milchbauern geht). Nur brauche ich für EU-Kritik keine Literatur, dafür lese ich Zeitung…).
    Seltsam zusammengeschustertes Werk.

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  7. In welcher Zeitung wäre je etwas über die Lage der Normannischen Milchbauern gestanden?- Ich ess’ dauernd deren Käse, aber wie es ihnen geht, lese ich erst via Houellebecq – und seh’ es an den Gelbwesten-Protesten – Chapeau an diesen Romancier mit der kalten Hand am heißen Puls der Zeit! – Er hat diesen Volksauftsand kommen sehen.
    Mit Jordan B. Peterson zu enden: SEROTONIN!

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