Zu diesem Page-99-Test hat mich ein Freund mit seinen Einwänden gegen meine Adjektiv-Kritik inspiriert. Die Adjektivjagd sei ein stilkritisches Unkrautvernichtungsmittel, im Dienste der journalistischen Windschlüpfrigkeit. Adjektive seien „fragloser Bestandteil sprachlichen Ausdrucks außer für Subjekt-Prädikat-Objekt-Stalinisten und – gut gesetzt – der leichte Akzent, der den funktionsschweren Rest zum Schweben bringt“, schreibt mein Freund in einer Email. Als Illustration für seine Thesen nannte er Martin Mosebachs Mogador.
Die Adjektive, die sich auf Seite 99 finden, offenbaren Glanz und Elend dieser Wortart.
mit den dunklen Schatten unter den Augen
redundant
schreiend bunt gekleidet
Klischee
verziert mit bräunlich-blutigen Henna-Ornamenten
ein angenehm grusliger Schreckmoment
(Auch ich kenne die Blut-Assoziation bei Henna-Farben, so fällt mir ein – lange ist es her, das waren die Siebziger- und Achtzigerjahre, als sich in der Alternativszene Frauen die Hände mit Henna verzierten.)
brach sie in ein gezügeltes, aber auch etwas hartes Gelächter aus
Verkehrung des Klischees vom „ungezügelten Gelächter“ ins Gegenteil
Während ich noch innehalte, um mir ein gezügeltes Gelächter vorzustellen, lese ich, dass es überdies ein etwas hartes Gelächter war, und ich spüre den Ruck, mit dem die Zügel das Gelächter zurückreißen. Die Frau, die nicht so lachen darf, wie sie möchte, erscheint dank der Adjektive plastisch vor meinem inneren Auge (und Ohr). Ebenso Rachida (wenn auch die Wendung „reifes Mädchen“ einen seltsamen Beigeschmack hat) mit ihrer hängenden Unterlippe, die Rachidas Gesicht selbst dann etwas Vorwurfsvolles gibt, wenn sie animiert über jemanden plaudert. Diese Widersprüchlichkeit macht die Figur lebendig. Widersprüche – die Domäne der Adjektive.
Interessanter als die Adjektive scheint mir bei Mosebach jedoch der Satzbau. Er irritiert mich fast durchweg. Es ist, als würde ich mich beim Lesen ständig mit dem Ärmel in kleinen Widerhaken verfangen.
Inzwischen war allen, die ihn kannten, wohl klar, daß sie sich kräftig in ihm getäuscht hatten, wenn sie nicht immer schon gewußt haben wollten, daß von ihm Bedenkliches zu erwarten sei.
Das heißt: „Wer nicht immer schon gewusst hat, dass Bedenkliches von ihm zu erwarten war, hat sich in ihm getäuscht.“ Eine redundante Aussage, die Mosebach mit scheinbar federleicht ineinander verschlungenen Seidenbändern umspielt.
Sie haben sich nicht einfach getäuscht. Vielmehr ist ihnen inzwischen wohl klar geworden, dass sie sich getäuscht haben. Und getäuscht haben sie sich in ihm nur dann, wenn sie etwas nicht immer schon gewusst haben wollten. Nicht gewusst haben wollten sie wiederum, dass von ihm Bedenkliches zu erwarten sei. Uff!
Diese Katze nun lässt Mosebach nicht aus dem Sack. „Bedenkliches“ – dieses Wort transportiert nichts, es kann alles Mögliche bedeuten. Und vielleicht nicht einmal das. Denn kann man überhaupt von jemandem Bedenkliches erwarten?
Manchmal missachtet Mosebach auch die Gesetze der Grammatik.
Sie war Patrick durch die kleine, geradezu kindliche Hand aufgefallen, die, verziert mit bräunlichen-blutigen Henna-Ornamenten, unerhört geschickt in der Gemüseschüssel eine Kugel aus den Speisen rollen konnte, um sie sich dann in den Mund zu werfen, als füttere sie einen nach den Bissen schnappenden Hund.
Man hat ordentlich zu tun, wenn man dem Satz folgen will, daher bemerkt man den Fehler nicht gleich. Subjekt des Relativsatzes ist nicht Milouda, um die es eigentlich geht, sondern ihre kleine Hand. Mosebach macht diese Hand zu einer handelnden Person, was reizvoll wäre, wenn es durchgehalten würde. Dass der Satz nicht funktioniert, verrät das Reflexivpronomen im Um-zu-Satz. Umformuliert heißt es: „Die Hand konnte eine Kugel aus den Speisen rollen, um sie sich in den Mund zu werfen.“
Natürlich versteht man trotzdem, was gemeint ist, doch das ist in der Literatur kein Argument. Hier biegt sich einer seine Sätze zurecht, und ist die Sprache nicht willig, so braucht er Gewalt. Beim Lesen spüren wir diese Gewalt als Widerhaken, aus denen man sich unbewusst ständig befreien muss, um den Sinn der Sätze freizulegen.
Wenn Sätze durch unsachgemäßes Beladen schwerfällig werden, hilft es allerdings auch nichts, wenn sie grammatikalisch korrekt sind. Im folgenden Satz habe ich das Gerüst fett markiert – dann erst habe ich verstanden, warum ich den Satz mehrmals lesen musste, um ihn zu entwirren:
Alle drei Frauen waren traditionell gekleidet, was das um Haar und Hals geschlungene Tuch und die sackartige Djellaba anging, die nur wenig Rückschlüsse auf die darunter verborgenen Körper erlaubte, aber die Stoffe und Farben waren schreiend bunt gemustert wie die Bademäntel rauchender Kassenpatientinnen im Vestibül einer deutschen Klinik.
Zwischen den beiden fett markierten Satzteilen blähen sich die Nebensätze, nicht nur wegen der uninspirierten Wortwahl („was das Tuch und die Djellaba anging“), sondern vor allem, weil sich das Relativpronomen nicht, wie zu erwarten, auf den ganzen Nebensatz bezieht, sondern nur auf die Djellaba. Überdies ist dieser Relativsatz überflüssig, denn wir erfahren nur, was bei einer sackartigen Djellaba ohnehin zu erwarten ist, nämlich dass sie „nur wenig Rückschlüsse auf die darunter verborgenen Körper erlaubt“.
Am Ende des Satzes werden wir immerhin durch eine überraschende Wendung entschädigt:
wie die Bademäntel rauchender Kassenpatientinnen im Vestibül einer deutschen Klinik
Von einer Sekunde auf die andere werden wir aus der exotischen Szenerie der in ihre Djellabas gehüllten Mädchen in die spießigste deutsche Wirklichkeit versetzt. Den Zigarettenrauch der Proll-Patientinnen können wir riechen, mit der ganzen Trostlosigkeit eines Krankenhauses. Ein schillernder Verfremdungseffekt, bestehend aus Altvertrautem.
Fazit: Ein Autor, der es seinen Lesern schwer macht.
Die erhellende Analyse zeigt einen Autor, bei dem sich die Stimmung vor die Sache schiebt: „Er mag ungenau schreiben, aber es klingt so schön!“ Für ungenau halte ich auch die Konjunktion „aber“ im letzten Satz. Steht das schreiend Bunte im Gegensatz zum Traditionellen (nicht ganz logisch, würde aber zum Autor passen) oder vielmehr zu der Unsichtbarkeit der Körper (als Verschiebung eines sexuellen Signals auf die Oberfläche der Kleidung)? Gegen die zweite Variante spräche allerdings der folgende Bademantelvergleich, der den Eindruck von Erotik wieder zunichte macht, zugunsten einer überlegen-ironischen Position.
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