„Öffnen Sie das Buch auf Seite 99, und die Qualität des Ganzen wird sich Ihnen offenbaren.“ (Ford Madox Ford). Wir lesen mit der Lupe und schauen, was der Text auf dieser Zufalls-Seite leistet.
Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.

Das Gesicht, als Hologramm, wurde immer größer und größer, …

Das Wort „Hologramm“ zeigt, dass wir es auf dieser Seite 99 (hier geht’s zur Ansicht der ganzen Seite) mit Science Fiction zu tun haben. Die Sprache ist dicht gedrängt und sehr rhythmisch. Der Stil lässt uns spüren, dass hier jemand unter Stress steht.

… plötzlich kriegte ich Schluckauf. Ich kriegte keine Luft mehr. Ich wollte atmen, atmen, Luft einsaugen, aber da kam nichts, es ging nichts rein, im Gegenteil, alles wollte wieder raus, der Schluckauf verwandelte sich in Brechreiz.

Auch ich bekomme beim Lesen kaum mehr Luft. Das verdanke ich nicht nur der Autorin, sondern auch der zupackenden Übersetzung von Frank Heibert.

Doch mit dem Punkt nach „Brechreiz“ endet die Atempanik abrupt. Der nächste Satz beginnt ganz sachlich, als wäre nichts geschehen.

Das Video war eine Raubkopie, an die er über unser Untergrund-Netzwerk rangekommen war, aber das Hologramm hatte 1A-Qualität…

Doch gleich ist es mit der schlichten Berichterstattung wieder vorbei, wir geraten auf schwankenden Grund:

… und die Frau sah mich mit Augen an, die ich kannte. Ich kannte sie. Sie war sehr alt, aber das waren meine Augen. Das war ich.

Jeder Satz auf dieser Seite ist mit Wörtern gesättigt, die mir etwas sagen, was ich wissen will.

Das war ich in sehr alt. Das allein fand ich schon höchst merkwürdig. Nachgebastelt, verändert, aufgedunsen und faltenfrei, aber sehr alt und identisch mit mir.

Die Adjektive verrichten „nützliche Arbeit“ (so eine Forderung von Stephen King), denn jedes Adjektiv deckt etwas auf. Zuerst geht es um die äußere Erscheinung der nachgebastelten Ich-Gestalt im Hologramm, dann kommt die Schlussfolgerung in Gestalt von zwei Schocker-Adjektiven:

sehr alt und identisch mit mir.

Im nächsten Satz folgt auch schon die nächste Überraschung.

Mit mir, die nie dieses Alter erreichen wird. Weil ich bald sterben werde, mit den Reststücken, die mir von meinem Körper geblieben sind.

Soviel Drama in so wenigen Worten und in so unterkühltem Ton! Offenbar macht es der Figur nichts aus, dass sie sterben wird, auch die „Reststücke“ ihres Körpers haben für sie keinen Schrecken.

Sonst wäre das hier nicht ihre einzige Sorge:

Deshalb beeile ich mich so mit dem Schreiben.
Schnell.

Wir haben es nicht mit einer handelsüblichen, sondern einer schreibenden Ich-Erzählerin zu tun, die wohl auch weiß, dass sie Teil eines Buchs ist.

Das Schlimmste an dem Hologramm sind die Augen dieser sehr alten Version ihrer selbst. Sie beschreibt diese Augen mit einer geradezu obsessiven Genauigkeit.

… das Schlimmste waren diese Augen. Von jenem ziemlich seltenen Grün, das ins Türkis spielt, mit einem goldenen Rand um die Pupille. Rings um ihr linkes Auge verlief eine feine Narbe, hübsch wie eine Falte, aber ich bin mir sicher, dass diese Narbe sie störte, denn beim Heranzoomen sah man, dass sie versucht hatte, sie mit einer Creme gegen Augenringe zu überdecken.

Diesen leicht süffisanten, selbstironischen Ton kenne ich von Computerspielen, wenn eine Stimme aus dem Off sich über den Spieler lustig macht, der gerade verzweifelt versucht, sein „Leben“ zu retten.

Eine hübsche Narbe. Gelungen.

Sagt die Ich-Schreiberin. Und jetzt wird es surreal, zumindest für die uneingeweihte Page-99-Leserin.

Sie hatten mir nicht nur mein Auge genommen, sondern auch mein Augenlid, mein hübsches, noch straffes Augenlid, hineintransplantiert in dieses aus der Zeit gefallene Gesicht. Mit meinen Wimpernreihen, meinem Tränenkanal.

Wieder diese Genauigkeit. Und jetzt hebt der Text völlig ab:

Ein Auge wie das Meer, genau wie das Meer, wo sie gerade wie eine sorglose Robbe herumtollte.

Keines dieser Wörter habe ich erwartet. Auf einmal ist da das Meer und eine Robbe, und zwar eine sorglose Robbe. Ein gezielt gesetztes Adjektiv, denn eine sorglose Robbe steht im Kontrast zu allem, was auf dieser Seite bisher vorgekommen ist.

Kühn geht es weiter:

Was sah sie? Ich sah das Meer, das sie sah. Das war mein Auge, das Auge, das mir fehlte. In meinem Bauch saß ein Ge-

Noch nie war ich so begierig darauf, weiterzulesen.


P.S.

Nach der Lektüre des ganzen Romans erhält die obsessive Genauigkeit, mit der das türkis-grüne Auge mit seinem Goldrand beschrieben wird, erst ihren eigentlichen Sinn. Auf Seite 55 hieß es nämlich:

Ich habe grüne Augen. Ein ziemlich seltenes Grün, fast schon Türkis, mit einem goldenen Rand um die Pupille. Ich mag meine Augen.

Das ist virtuos komponiert. Vor allem wegen des fiesen letzten Satzes, der in der Reprise auf Seite 99 anklingt.


Veranstaltungshinweis:

22. Februar, 19:30 Uhr, Babylon Mitte (Rosa-Luxemburg-Straße 30, 10178 Berlin)

Literatur Live

Marie Darrieussecq und Helene Hegemann im Gespräch über Unser Leben in den Wäldern
Moderation: Frank Heibert


Angaben zum Buch
Marie Darrieussecq
Unser Leben in den Wäldern
Roman · Aus dem Französischen von Frank Heibert
Secession Verlag für Literatur, 2019 · 110 Seiten · 18 Euro
ISBN: 978-3906910598
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

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