Die Ich-Erzählerin von Marie Darrieussecqs neuem Roman Unser Leben in den Wäldern versteckt sich unter Rebellen in Erdlöchern im Wald und fragt sich mit schwarzhumoriger Verzweiflung, was in ihrer Welt eigentlich los ist. Sie lebt in einer Zukunft, die dermaßen brutal mit ihren Menschen umspringt, ausschließlich nach der eigenen Profitlogik, dass einem schwindlig wird. Dank fest implantierter Verbindung sind in dieser Welt alle immer online und dadurch stets unter Kontrolle. Die Menschen verfügen über Organersatzlager in Form ihrer Klone: Ihre „Hälften“ werden in „Erholungszentren“ im Dauerschlaf gehalten, bis ein Organ von ihnen gebraucht wird. Marie, die Erzählerin, hat bereits eine Lunge und eine Niere von ihrer Hälfte (ebenfalls: Marie) bekommen, zu der sie schon in ihrer Jugend eine geradezu obsessive Beziehung aufgebaut hatte.

Ein subtiler Gongschlag

Wenn man nicht untertaucht wie die Rebellen und durch eigenhändige blutige Entfernung der Chips offline geht, stellt die Sprache den letzten Hort einer möglichen Freiheit dar. Das Programm des Großcomputers lässt sich nämlich durch den Gebrauch von Metaphern ablenken, denn Vieldeutigkeit verwirrt die Software. Und so tauchen in diesem Roman, ganz en passant, anregende Reflexionen über die Vielschichtigkeit der Sprache auf. Eine Herausforderung für den Übersetzer.

Wie bewusst die Autorin ihre Worte setzt, zeigt sich gleich beim ersten Satz: ein regelrechter Gongschlag mit subtilen Schwingungen.

J’ai ouvert l’oeil et boum – tout m’est apparu.

Auf den ersten Blick eine klare Sache:

Ich schlug die Augen auf und peng, alles trat zutage.

Das ist meine Ausgangsfassung. Dass der Gedankenstrich diesen Satz im Deutschen aus dem Gleichgewicht bringen würde, ist eine intuitive Überzeugung, die ich abstrakt schwer begründen könnte, aber das nur nebenbei. Im weiteren Verlauf dieses Auftakts wird klar, dass die Ich-Erzählerin nur noch ein Auge hat. Die französische Redewendung „ouvrir l’oeil“ bedeutet tatsächlich „die Augen aufschlagen“, ganz normal, nur dass der Singular in der Redewendung hier wortwörtlich stimmt, sie schlägt nur ein Auge auf. Das muss ich auch so sagen. Würde ich aber schreiben „Ich schlug das Auge auf“, dann würde einem die schockierende Information viel deutlicher ins Auge fallen als im Original – ha, da haben wir auch im Deutschen diesen idiomatischen Singular, auch wenn beide Augen gemeint sind! Passt hier nur leider inhaltlich nicht. Eine direkt analoge Redewendung, die das Augenaufschlagen mit dem Singular ausdrückt, sozusagen ohne dass man es als Leser merkt, haben wir im Deutschen nicht. Ich entscheide mich für ein Umspielen des Problems. In der Redewendung „kein Auge zutun“ kommt die Singularform ebenfalls vor, und ich präge mal eben das Antonym dazu, „das Auge auftun“.

Ich tat das Auge auf und peng, alles trat zutage.

Auch wenn es diese Redewendung nicht gibt, zähle ich darauf, dass „kein Auge auftun“ fest genug im Wortschatz verankert ist, so dass man beim Lesen „das Auge auftun“ erst einmal schluckt und die leichte Seltsamkeit der Formulierung als kleine offene Frage im Unterbewussten mitnimmt. Eine  halbe Seite später wird die Frage beantwortet:

Ich habe wenig Zeit. Das spüre ich in den Knochen, den Muskeln. Dem Auge, das mir geblieben ist.

Ach so, klar, sie hat ja nur noch eins. Die Übersetzung ist hier eine Spur auffälliger als das Original – der Gongschlag des ersten Satzes trägt das hoffentlich mit –, aber anders gelingt es mir nicht, den kleinen Aha-Moment zu erhalten.

Die falsche Form wird richtig

An einer anderen Stelle bringt Darrieussecq mit Hilfe eines bewussten grammatischen Fehlers das Hauptthema des Buches auf den Punkt. Als Jugendliche sollte Marie in der Therapie, bei der ihre Fixierung auf die Klon-Marie bearbeitet wurde, für jedes bisherige Lebensjahr ein Bild malen. Für das erste Jahr zeichnet sie sich und ihre Hälfte nebeneinander. Zunächst sagt sie: „Je me suis dessinée moi et Marie“ („Ich habe mich und Marie gemalt“). Wenn ein Verb im Französischen reflexiv gebraucht wird, muss das Perfekt immer mit dem Hilfsverb „sein“ gebildet werden, anders als im Deutschen. Wenn etwas anderes gemalt wird, ein Objekt außerhalb der Malenden, kommt im Französischen das Hilfsverb „haben“ (etwa wenn man sagen würde: „J’ai dessiné mon école“ („ich habe meine Schule gemalt“). Der Sinn des nächsten Satzes im Roman („Ich habe uns gemalt“) würde grammatisch korrekt lauten: „Je nous ai dessinées.“ Die Autorin schreibt aber:

Je nous suis dessinées.

Sie bleibt beim identitätsbezeichnenden Verb „sein“, um die doppelte oder überlagerte Identität zwischen Mensch und Klon auch grammatisch abzubilden. Die falsche Form wird also durch den Kontext richtig – und so eine falsche und doch richtige Form braucht es hier auch im Deutschen. Doch das geht nicht über die Hilfsverben der Perfektformen: „ich bin uns gemalt“ kann sich nicht auf ein inkorrektes „ich bin mich gemalt“ rückbeziehen. Daher habe ich einen anderen Weg eingeschlagen:

Auf dem Bild für Jahr 1 bin ich mit meiner Hälfte. Auf dem Bild bin wir.

Dieser schmale, intensive Roman beschreibt, wohin eine unkontrollierte technologische Entwicklung führen kann und was mit unserer Seele geschieht, wenn wir uns der eigenen Identität nicht mehr sicher sein können. Marie Darrieussecq schafft einen Spagat zwischen der Intelligenz, die das ernste Thema verlangt, und der ihr eigenen Situations- und Sprachkomik.  Meine Übersetzung steht und fällt damit, wie glaubwürdig ich die Stimme dieser Erzählerin und ihre Sprachspiele ins Deutsche bringe.

Beitragsbild: pixabay.com

Veranstaltungshinweis:

22. Februar, 19:30 Uhr, Babylon Mitte (Rosa-Luxemburg-Straße 30, 10178 Berlin)

Literatur Live

Marie Darrieussecq und Helene Hegemann im Gespräch über Unser Leben in den Wäldern
Moderation: Frank Heibert


Angaben zum Buch
Marie Darrieussecq
Unser Leben in den Wäldern
Roman · Aus dem Französischen von Frank Heibert
Secession Verlag für Literatur, 2019 · 110 Seiten · 18 Euro
ISBN: 978-3906910598
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel

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Von Frank Heibert

Übersetzer, unter anderem von Don DeLillo, Willam Faulkner, George Saunders, Lorrie Moore, Boris Vian, Yasmina Reza und Richard Ford. 2006 erschienen sein erster Roman „Kombizangen“ und das Jazz-Album „The Best Thing on Four Feet“ (zusammen mit der Jazz-Combo Finkophon Unlimited).

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