„Öffnen Sie das Buch auf Seite 99, und die Qualität des Ganzen wird sich Ihnen offenbaren.“ (Ford Madox Ford)
Wir lesen mit der Lupe und schauen, was der Text auf dieser Zufallsseite leistet.
(Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.)


Die Seite 99 von Dorothee Elmigers Roman Die Holländerinnen besteht fast gänzlich aus indirekter Rede. Wir sehen das Geschehen nicht vor Augen, sondern hören nur einen Bericht. Im Lauf der Seite vergrößert sich die Distanz zum eigentlichen Geschehen: Es gibt indirekte Rede unterschiedlichen Grades.


Der erste Satz auf dieser Seite, immerhin, spricht direkt zu uns:

Sie verlagert ihr Gewicht und hebt den Blick, kurz nur, als fürchtete sie die Reaktion des Publikums.

Der Rest der Seite besteht aus der Erzählung dieser Frau. Sie spricht zum Publikum – und zugleich zu uns Leser:innen.

Als der Bananenbauer das Küchentuch an einen Nagel gehängt und sich dann endlich zu ihnen umgedreht habe, sei der Dramaturg aufgestanden.

Der nächste Satz nimmt weitere Distanzierungen vor. Zum einen, weil das, was der Dramaturg nun sagt, in eine Art indirekter Rede zweiten Grades verwandelt wird. Zum anderen, weil wir das, was dann geschieht, mit den Augen der anderen sehen:

Er müsse pinkeln, habe er gesagt, und sie hätten ihm nachgeschaut, wie er eilig über das versengte Gras gelaufen und am Rande des Grundstücks im Gebüsch verschwunden sei.

Probehalber übersetze ich diesen Satz in ein direktes Geschehen:

Ich muss pinkeln, sagte er, dann lief er eilig über das versengte Gras und verschwand am Rande des Grundstücks.

Die Wirkung ist eine völlig andere.

Die indirekte Rede ist ein riskantes Stilmittel: Sie verlegt das Geschehen hinter die Bühne. Das bewirkt Distanz und damit möglicherweise auch einen Energieverlust.

Der nächste Satz lässt uns noch mehr Defizite spüren, noch mehr Nicht-Erzähltes. Denn offenbar war der Dramaturg auch der Dolmetscher für den Bananenbauer namens Acuña, der im zweiten Satz das Küchentuch an den Nagel gehängt hatte:

Nun, da sie ohne Dolmetscher gewesen seien, habe ihnen die Sprache gefehlt, um sich mit Acuña zu unterhalten und auf seine Erzählung zu reagieren. Verlegen hätten sie ihn angelächelt, und der schmächtige Mann habe beiläufig noch ein paar letzte, abschließende Sätze gesagt.

Die Unmöglichkeit einer Verständigung mit Acuña wird noch einmal bekräftigt.

Angestrengt habe sie zugehört, und trotzdem sei sie sich später (…) nicht sicher gewesen, was er gesagt habe.

Diese schlichte Aussage wird durch das, was ich hier ausgelassen habe, seltsam aufgeplustert.

Der ganze Satz lautet:

Angestrengt habe sie zugehört, und trotzdem sei sie sich später, als sie bereits wieder durch den Wald gelaufen seien und sich Schritt um Schritt von Acuña und seinen Hunden entfernt hätten, nicht sicher gewesen, was er gesagt habe.

Der Einschub ist redundant: Wenn sie durch den Wald laufen, entfernen sie sich automatisch von dem Bananenbauer (und meinetwegen auch von seinen Hunden). Gesagt wird in dem Satz nur, dass die Erzählerin nichts verstanden hat – ein seltsamer sprachlicher Aufwand.

Der nächste Satz legt nahe, dass dieses Nicht-Geschehen gefilmt wurde.

In ihren Aufzeichnungen finde sich Orfelinas Version, die sie Wochen später, während der Sichtung des Filmmaterials, transkribiert habe.

Es folgt die Beschreibung des Filmmaterials – also ein weiteres nur vermitteltes Geschehen innerhalb einer indirekt erzählten Geschichte.

Orfelina sitzt, so zeigt diese Aufnahme, auf einem weißen Plastikstuhl im Freien, spricht konzentriert in die Kamera und erzählt von dem Anruf einer Frau bei der Polizei.

Die Aussage der Frau ist gewissermaßen eine indirekte Rede dritten Grades:

Sie habe gemeldet, ihr eigenes Kind, ihren Sohn, getötet zu haben.

Den „Beamten“ (dass es zwei Männer waren, erfahren wir erst im nächsten Satz), die dem Anruf gefolgt sind, bot sich ein schrecklicher Anblick: Türen und Fenster standen sperrangelweit offen.

Die Szene sei furchtbar gewesen, ein furchtbares Gemetzel (…)

Von wem diese Einschätzung, das doppelte „furchtbar“, stammt, bleibt ungesagt. Im nächsten Satz begegnen wir einer weiteren indirekten Erzählinstanz:

In Erinnerung sei den beiden Männern, so heiße es, vor allem geblieben, wie still es dort gewesen sei.

Es folgt die Schilderung des schrillen Gezwitschers einiger Vögel, mit dem Zusatz: „und dieses Singen, das Trällern der Vögel, sei kaum auszuhalten gewesen“. Dann bricht die Aufnahme ab (auch die Seite 99 endet hier):

An der Stelle breche die Aufnahme ab, und die folgende Einstellung zeige Orfelina, die noch immer auf dem-

***

Wir erfahren auf dieser Seite fast nichts. Was der Bananenbauer zu sagen hatte, bleibt im Dunkeln, und zwar aus dem alleinigen Grund, weil der Dolmetscher pinkeln musste (echt jetzt?). Wir werden zwar, von weither, Zeugen eines Verbrechens, doch bevor man Näheres erfährt, bricht die Aufnahme ab.

„Literatur ist Sprache, die bis zum äußersten mit Bedeutung aufgeladen ist“, so eine Aussage von Ezra Pound. Dorothee Elmiger hat sich mit der indirekten Rede für ein Stilmittel der konsequenten Entladung entschieden. Die Lektüre ermüdet mich schon auf dieser einen Seite, denn die indirekte Rede verlagert alles ins Hörensagen.

Geht es darum, uns Platos Höhlengleichnis vorzuführen? Will die Autorin uns erleben lassen, dass wir keinen Zugang zur Wahrheit haben? Dass man nie wissen kann, was ist?

Die Kritik ist sich in ihrem Lob für dieses Werk fast völlig einig (mit Ausnahme der NZZ). Auf Amazon dagegen erhält der Roman nur 3,2 Sterne. Von „Zermürbung“ ist die Rede und von „grausamer Kritikerliteratur“. Jemand schreibt: „Es hat bei mir ein Gefühl von fremdem Kaugummi unter der Tischplatte hinterlassen.“

Vielleicht ist es Geschmacksache?


Angaben zum Buch

Dorothee Elmiger
Die Holländerinnen
Roman
Hanser Verlag 2025 · 160 Seiten · 23 Euro
ISBN: 978-3446282988

Bei Eichendorff21 oder im lokalen Buchhandel

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

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