Dies ist der vierte und letzte Beitrag in einer von Reihe von Texten zu Gedichten des altchinesischen Dichters Li Shangyin.

Im letzten Gedicht rückt wieder die Frau in den Mittelpunkt. Hier die Originalfassung mit Interlinear-Übersetzung (bitte auf die jeweilige Zeile klicken):

何處哀箏隨急管
Welcher Ort Trauer Zither / folgen erregt Blasinstrument
櫻花永巷垂楊岸
Kirschen Blüte ewige Gasse / hängende Weide Ufer
東家老女嫁不售
Ost-Haus alte Frau / heiraten nicht absetzen
白日當天三月半
Weisse Sonne am Himmel / dritter Monat Hälfte
溧陽公主年十四
Li-Yang offizielle Prinzessin / Jahr zehn vier
清明暖後同牆看
Qing-ming Wärme danach / genauso Mauer schauen
歸來展轉到五更
Zurück kommen liegen wälzen / bis fünfte Nachtstunde
梁間燕子聞長嘆
Balken dazwischen Schwalben-Vogel / hören lange Seufzer

Auch hier lassen die ersten beiden Zeilen wieder an ein Vergnügungsviertel oder an die Frauengemächer eines Palastes denken. Die Zither gilt im Gegensatz zu den männlichen Blasinstrumenten als weiblich. Die Kirsche blüht am Ende des Frühlings. Die ewige Gasse war ursprünglich der Name einer Gasse innerhalb der Verbotenen Stadt, wo die weiblichen Bediensteten wohnten und sich auch ein Gefängnis für fehlbare Palastbewohner befand.

Zitherspieler. Von Chen Hongshou (17. Jh.)

Zitherspieler. Von Chen Hongshou (17. Jh.)

Der dritte Vers spielt auf eine Rhapsodie des Dichters Song Yu (3. Jh. v. Chr.) an. Die Rhapsodie berichtet von einem Mädchen, dessen Schönheit weitherum bekannt war. Es lebte im östlichen Hof eines kleinen Dorfes lebte und spähte stets über die Mauer, dennoch war es auch nach drei Jahren noch unverheiratet.

Der vierte Vers verweist auf das im sechsten Vers genannte Qingming-Fest (wörtlich: Fest der „klaren Helligkeit“), das 15 Tage nach der Frühlings-Tagundnachtgleiche zum Gedenken der Toten gefeiert wird und meist in den dritten Monat des Mondkalenders fällt. Es ist aber auch das Fest des wiederkehrenden Lebens, mit dem traditionell die Brautwerbung beginnt. Am nächsten Tag wird im Herd symbolisch ein neues Feuer entfacht.

Straßenszene während des Quingming-Fests (Detail der Quingming-Rolle, 12. Jh.)

Straßenszene während des Quingming-Fests (Detail der Quingming-Rolle, 12. Jh.)

Die Prinzessin von Liyang war die Tochter des Prinzen Xiao Gang (503–551), der am Ende seines Lebens kurze Zeit als Kaiser Jianwen den Thron der südchinesischen Liang-Dynastie (502–557) innehatte. Der Prinz machte sich aber vor allem einen Namen als Dichter, Patron der Künste und Auftraggeber der bedeutendsten chinesischen Anthologie von Liebeslyrik, des Yutai xinyong („Neue Gesänge von der Jadeterrasse“), dessen Einfluss auch in Li Shangyins Lyrik stark spürbar ist. Als 548 der General Hou Jing rebellierte und die Hauptstadt Nanjing besetzte, gab Xiao Gang dem General seine vierzehnjährige Tochter zur Frau, um sich dessen Gunst zu sichern. Hou Jing ließ ihn 551 dennoch hinrichten, doch wenig später wurde auch seine Rebellion niedergeschlagen und Hou Jing getötet. Die Prinzessin kehrte als junge Witwe in den Kaiserpalast der Liang zurück. Li Shangyin spielt hier mit dem Dynastie-Namen, der wörtlich „Balken“ bedeutet, während er mit den Schwalben – traditionell ein Symbol der glücklichen Ehe, doch lässt das Chinesische offen, ob hier eine oder mehrere Schwalben gemeint sind – nochmals das Motiv der in eine Schwalbe verwandelten Haarspange aus dem dritten Gedicht aufgreift.

Im dritten Gedicht reitet der Mann allein heimwärts, im vierten Gedicht ist es die Frau, die allein in den Palast zurückkehrt.Der Frühling ist endgültig zu Ende und im vierten und fünften Vers wird die Enttäuschung und „Entzauberung“ der Liebe sogar graphisch verdeutlich, indem der Dichter fast nur solche Schriftzeichen verwendet, die aus wenigen Strichen bestehen. Auffällig ist, dass im zweitletzten Vers wie im zweiten Vers des ersten Gedichts wieder eine einsam bis zur fünften Stunde verbrachte Nacht geschildert wird. Damit schließt sich der Kreis zum ersten Gedicht. Der Kreislauf der Liebe und des Lebens kann von Neuem beginnen.

Auch das Verb „kommen“, das den Zyklus eröffnet hat, erscheint hier wieder, und zwar an derselben Stelle, an der im dritten Gedicht das Verb „fortgehen“ steht. Diesmal sind sie jedoch beide Male mit dem Verb „zurück-, heimkehren“ kombiniert: Im dritten Gedicht reitet der Mann allein heimwärts, im vierten Gedicht ist es die Frau, die allein in den Palast zurückkehrt. Auffallend ist auch, dass das dritte und das vierte Gedicht denselben Reim -an haben.

Eine genaue Lektüre dieser Gedichte zeigt, dass sie weniger dunkel sind, als sie scheinen. Warum Li Shangyin diesen höchst raffinierten Sprachkunstwerken anders, als sonst üblich, offenbar bewusst keinen Titel gab, mag in der allzu erotischen Thematik begründet liegen, die den Rahmen der konventionellen Gelehrtenlyrik sprengte. Denkbar wäre auch, dass Li diese Gedichte für eine Kurtisane geschrieben hat, mit der er verkehrte, deren Namen er aber nicht enthüllen wollte, während es bei Gedichten an männliche Freunde die Regel war, diese im Titel zu nennen.

Wo begleitet die klagende Zither erregte Flötenklänge?
In der Gasse der ewigen Kirschenblüte, am Ufer der hängenden Weiden.
Die alte Jungfer im östlichen Hof findet keinen Bräutigam mehr.
Die weiße Sonne steht hoch am Himmel zur Hälfte des dritten Mondes.

Genauso sah die Prinzessin von Liyang in ihrem vierzehnten Jahr
in der Wärme nach dem Totenfest als Witwe gegen die Mauer.
Sie kam zurück und wälzte sich schlaflos bis zur fünften Stunde.
Die Schwalben im Gebälk des Liang-Palastes hörten sie seufzen und trauern.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Von Gu Kaizhi (c.345-c.406) (Detail from File:Gu Kaizhi 001.jpg) [Public domain], ;via Wikimedia Commons

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Von Raffael Keller

Sinologe, Übersetzer und Bibliothekar. Er hat u.a. einen Band mit Gedichten von Du Fu (Tang-Zeit 618-907) sowie Werke von Xiao Kaiyu (geb. 1960) und anderen zeitgenössischen chinesischen Lyrikern übersetzt.

Ein Kommentar

  1. Vier Gedichte. Namenlos. Acht Zeilen. Mehr braucht es nicht.

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