Zu einem Skandal reicht es nicht, dazu ist der Anlass zu läppisch. Doch der Streit, den Jürgen Kaube am 2. September in der FAZ vom Zaun gebrochen hat, gewährt einen seltenen Einblick in den Maschinenraum der literarischen Öffentlichkeit. Es geht um eines der wichtigen Bücher dieses Herbsts: Christian Krachts Die Toten. Wichtig ist das Buch nicht so sehr wegen seines Stoffs: Laut Verlagswerbung handelt es sich um einen historischen Künstlerroman, der uns „in die gleißenden, fiebrigen Jahre der Weimarer Republik“ führt, wo ein Schweizer Filmregisseur 1933 einen UFA-Tycoon in Japan zur Finanzierung eines Gruselfilms überreden will. Als wichtig gilt das Buch, weil sein Autor umstritten ist: Krachts letzter Roman Imperium (2012) stand unter dem Verdacht, „rechtes Gedankengut“ zu verbreiten.

Jürgen Kaube ärgert sich darüber, dass bereits im Vorfeld zwei Beiträge zu Buch und Autor erschienen sind, obwohl die Rezensenten sich per Unterschrift zur Einhaltung der Sperrfrist hätten verpflichten müssen. Denis Scheck ist zum Autoren-Interview für seine Sendung „Druckfrisch“ nach Los Angeles gereist, Ijoma Mangold wiederum hat Christian Kracht für die „Zeit“ im Odeon in Zürich interviewt. Mehr noch als die Umgehung der Sperrfrist moniert Jürgen Kaube in seinem Artikel Freundschaftsdienst und Small-Talk-Journalismus: In Krachts Verlag hieß es, man habe zwei Vorab-Interviews genehmigt, und da sich Scheck und Kracht gut kennten, sei die Wahl auf ihn gefallen. In der Tat: Denis Scheck hat Christian Kracht bereits 2009 und 2012 für „Druckfrisch“ interviewt. Auch Ijoma Mangold kennt den Autor: 2013 hat er ein Gespräch mit ihm in der ZEIT veröffentlicht. Dass man sich im Betrieb kennt, ist nicht zu vermeiden. Gefährdet es die Unabhängigkeit der Kritik?

Denis Scheck vermag Christian Kracht in den acht Minuten Sendezeit, ausgestrahlt am 29. 8., keinen Satz zu entlocken, der die Reise wert gewesen wäre. Dafür lässt er uns wissen, was er von Die Toten hält:

– brillanter Roman
– fulminanter Reigen
– tolles Buch

Für die Literatur sei dieses Buch gar das, was der Tonfilm für den Film gewesen sei, nämlich

– eine Revolution.

Ijoma Mangold steht Denis Scheck in seinem Lob nicht nach: Die Toten sei „ein Wunderwesen von einem Roman“, die Sprache preziös und präzis, verspielt und anmutig.

Ihr Sound macht süchtig, weil sie den Wirklichkeitsfetischismus der deutschen Gegenwartsliteratur radikal hinter sich lässt.

Fazit:

Mit seiner präraffaelitischen Sehnsucht ist Christian Kracht die individuellste Stimme der deutschen Gegenwartsliteratur.

Ijoma Mangolds Porträt-Rezension ist am 1.9. erschienen, danach geht es Schlag auf Schlag: Jürgen Kaubes Kollegenschelte kommt am 2.9., am 3.9. missachtet er im eigenen Feuilleton seinerseits die Sperrfrist: Fünf Tage vor dem Roman erscheint in der FAZ die erste Rezension von Jan Wiele, zwei Tage später, am 5.9., folgt die nächste in der “Welt” von Jan Küveler.

Laut Jan Wiele ist Krachts Sprache „so antiquiert wie eine Talgkerze“, der Autor sei „längst bei einem ridikülisierten Dandy-Stil der vorvorigen Jahrhundertwende“ angekommen:

Manchmal wirkt er einfach überzuckert, manchmal beeindruckend witzig und komisch.

Verstörend sei dieser Stil im Zusammenwirken mit dem Grundkonzept des Romans: Wiele konstatiert eine „Ästhetisierung des Schrecklichen“.

Für Jan Küveler ist das Buch

eine Echokammer der Motive, ein Spiegelkabinett der Erinnerungen.

In Krachts letztem Roman Imperium ging es laut Küveler

um die Rückeroberung eines ironischen Pathos, einer Großartigkeit im Sinne einer ausladenden Geste, eines Panoramas der Stimmungen und Gefühle.

Dies werde nun in Die Toten fortgesetzt –

ganz großes Daumenkino,

heißt es im Teaser des Artikels.

Die Leser allerdings, die nachprüfen wollen, wer Recht hat, müssen sich gedulden. So gern die Buchhändler uns das Buch verkaufen würden, es ist erst am 8. 9. lieferbar.

Es gibt keinen vernünftigen Grund für die Missachtung der Sperrfrist. Unvernünftige Gründe dagegen gibt es sehr wohl. Bei wichtigen Autoren wird hinter den Kulissen hart um das ius primae noctis gekämpft. Es geht um Deutungshoheit: Wer in einem Leitmedium als erster seine Meinung zum Buch kundtut, setzt den Ton, und wer die Bühne gar mit einem Vorab-Interview betreten darf, hat einen doppelten Startvorteil: Artikel, die in Richtung Celebrity-Journalismus gehen, werden nun einmal lieber gelesen als Rezensionen, die sich mit dem Text auseinandersetzen. Fürs Casting eines Vorab-Interviews kommen natürlich nur Kritiker in Frage, die dem Autor wohlgesonnen sind – man darf darüber spekulieren, inwiefern dies wiederum zu einer Beißhemmung gegenüber als wichtig geltenden Autoren führt.

Was bei solchen Entscheidungen keine Rolle spielt, ist das Buch. Deshalb ist es auch egal, wann es erscheint.

Beitragsbild:
Maske aus dem japanischen Nō-Theater.
Quelle: Wikipedia, gemeinfrei

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

5 Kommentare

  1. Es gibt übrigens noch einen weiteren Rezensenten, der das Buch vor dem Erscheinungstermin besprechen durfte:

    » Die Toten ist eine großartige Mephisto-Faust-Fabel, ein brillantes literarisches Unterfangen, das wir wohl von jetzt an als krachtianisch bezeichnen dürfen.« Karl Ove Knausgard

    Ein Urteil, das wir wohl von jetzt an als knausgardianisch bezeichnen dürfen. Vor allem aber dürfen wir Kiepenheuer & Witsch zu dem großartigen Presse-Coup gratulieren – brillant, fulminant, toll! Wer braucht da noch das Buch?

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  2. Ein „Daumenkino” muss man rasch durchblättern und sollte nicht beim Einzelbild verweilen. Will uns der Kritiker (bzw. die Verlags-PR, so genau weiß man das häufig nicht) damit den subtilen Hinweis geben, dass es sich bei Krachts Werk um einen Trivialroman handelt? Denis Scheck wiederum als „Embedded Journalist” zu bezeichnen, dürfte nun keine ehrverletztende Äußerung mehr sein. –
    „Wenn ein neues Buch erscheint, lies Du ein altes.” (Arno Schmidt)

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  3. Vielleicht wollte Kiepenheuer und Witsch nach dem luchterhandschen Dauercoup mit Hausautor Weidermann im Literarischen Quartett (Dauerlob des Gastgebers für alle Luchterhandbücher repektive der Imprintverlage in “seiner” öffentlich-rechtlich finanzierten Show) einfach auch ein mal modern sein? Wenn Luchterhand in der ARD wildert, dann KiWi eben im ZDF. Kann man doch so sehen, oder?
    Wie sind diese offenkundig merkantil motivierten Mechanismen (schöne Alliteration nicht wahr?) in Zukunft zu unterlaufen? Oder ist das kaum noch möglich? Wir haben Diskussionsbedarf und nicht zu knapp.

    Einziger Trost: Die Nachprüfung im Schmidtschen Sinn – sehr schön von Jürgen Kiel – ergeben häufig eine gewaltige Revision des Urteils und der Summenvektor auf dem Qualitätsdiagramm muss nach unten korrigiert werden. Nicht selten in den negativen Bereich hinein.
    Denn was da bleibet, mögen Dichter gestiftet haben; die Entscheidung darüber trifft aber erst die übernächste Generation. Da können die Verlage ihre Produkte noch so geschickt auf der Poleposition platzieren, die Zeit frisst jedes Machwerk auf.

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    1. Bemerke gerade meinen inhaltlichen Fehler: Auch Weidermann publiziert bei KiWi. Das ist allerdings schon ziemlich monopolistisch.

  4. Was augenfällig ist: dass der Literaturbetrieb aus welchen Gründen auch immer Kracht als literaturöffentliche Person immerzu problematisieren muss. Seine Persona wurde in den letzten Jahren derart angereichert mit Mutmaßungen, Vorbehalten, Verehrungen und Warnungen, dass das Feuilleton scheinbar nicht anders kann, als reflexartig bei der “krachtianischen” Aura Schnappatmung zu bekommen und loszuhaspeln. Womöglich ist das einer der Effekte, den Krachts manipulative (Lebens-)Stilistik zeitigt. SG hat leider Recht: Der Fokus wird vom Buch weggenommen, und der Literaturbetrieb beschaut sich lieber wieder mal selbst – eventuell auch aus Angst davor, dieses sehr intelligente Buch und seine schelmische Autorfigur literaturkritisch einfach nicht in den Griff zu bekommen. Die Kritiken in der FAZ und der WELT sind jedenfalls mäßige Versuche, die immer wieder aufblitzen lassen, dass sie ständig an KRACHT denken müssen, wo sie doch eigentlich dessen ROMAN als eigenständiges Kunstwerk vor sich haben.

    Samuel Hamen

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