Die Universität Hildesheim ist mit dem Forschungsprojekt Rez@Kultur der Frage nachgegangen, „wie online bewertet wird”. Aus Anlass der Online-Tagung „rezensiv“, an der die Ergebnisse des Projekts vorgestellt wurden, habe ich im Deutschlandfunk Kultur in der Sendung „Lesart“ ein Gespräch über Literaturkritik im Netz geführt.
Dabei ging es auch um tell.
Immer noch gibt es die Gegenüberstellung von traditioneller Feuilleton-Kritik und dem, was im unregulierten Gelände des Internets so sein Wesen treibt. Sigrid Löffler hat auf Deutschlandfunk Kultur unlängst vom „elektronischen Stammtisch-Geschnatter“ gesprochen und, wie zu erwarten, heftigen Widerspruch aus der Bloggerszene erhalten, etwa von Simon Sahner von 54books.
Ein Freiraum für Texte zwischen den Stühlen
Das Online-Magazin tell ist in beiden „Welten“ zu Hause. Einerseits haben wir den Anspruch des klassischen Feuilletons und redigieren unsere Texte in einem manchmal aufwändigen Prozess. Andererseits gilt bei tell die Maxime: Jeder Kopf liest anders. tell versteht sich als Plattform für alle Leserinnen und Leser.
Aus dieser hybriden Anlage ist in den letzten vier Jahren ein Freiraum für Texte entstanden, die im klassischen Feuilleton keinen Platz finden. An den digitalen Stammtisch jedoch gehören sie erst recht nicht. Es sind Texte, die sich intensiv mit einem Phänomen auseinandersetzen: Übersetzungskritik und Gedichtanalysen beispielsweise oder literaturkritische Tiefenbohrungen wie der Page-99-Test, die manchmal eine diskursive Eigendynamik entfalten (so zuletzt bei der Causa Handke).
Der beschränkte Platz im Netz
Dafür, dass viele Texte auf tell nicht ins klassische Feuilleton passen, gibt es viele Gründe. Einer davon ist der Platz: Wenn man in die Tiefe geht, braucht man dafür Raum, das gilt für die Analyse einer Übersetzung ebenso wie für das Erzählen von Literaturgeschichte oder die Deutung eines Gedichts. Dass es im Internet keine Platzbeschränkung gibt, ist allerdings ein Mythos, denn der Platz ist sehr wohl beschränkt, allerdings auf der anderen Seite, nämlich dem Publikum. Deshalb gilt auf tell, dass ein Text sich seine Länge idealerweise durch Qualität und Substanz verdienen muss.
Manches hat im Feuilleton keinen Platz, weil der sogenannte Aufhänger fehlt: Der Stoff ist zwar interessant, nur nicht gerade jetzt. tell erlaubt uns eine Flexibilität, die man bei den großen Medien nicht hat: Wir müssen ein Thema nicht in der Redaktionskonferenz „durchbringen“. Wir machen es einfach.
Was es nur auf tell gibt
Eine spontane, willkürliche und absolut unvollständige Liste von genuinen tell-Texten könnte etwa so aussehen:
- Anselm Bühling: Passagen aus der sowjetischen Literaturgeschichte
- Herwig Finkeldey: Texte zum Coronavirus
- Hartmut Finkeldey: Vers für Vers
- Johannes Spengler: Die Hundertjährigen
- Frank Heibert: Übersetzungskritik (zu Hanya Yanagiharas Ein wenig Leben)
- Sieglinde Geisel: Interview mit Peter von Matt
Reichtum oder Lärm?
Das Feld der digitalen Literaturkritik ist so vielgestaltig, dass beim Hildesheimer Forschungsprojekt gar nicht mehr von Rezensionen gesprochen wird, sondern von „rezensiven Texten“. Dazu gehören Blogs und Online-Magazine ebenso wie Kommentare, Kundenrezensionen, Tweets, Facebook-Posts und Bilderstrecken auf Instagram.
Gibt es Kriterien, anhand derer man dieses unablässige digitale Reden über Literatur beurteilen könnte?
Vielleicht dieses: Es gibt Aussagen zur Literatur, die unsere Welt reicher machen und andere, die nur ihren Lärm vermehren. Das allerdings gilt im Hochfeuilleton genauso wie im digitalen Resonanzraum des Lesens.
Was ist mit den Amazon Rezensionen, sind die auch online-Feuilleton? Auf eine Art ist es dreist von Amazon, den Begriff Rezension für das zu verwenden, was Leute, die ein Buch kaufen, so meinen, denn bei manchen steht in ihrer Rezensionen, die Lieferung habe zu lange gedauert oder das Buch habe einen Knick oder sähe schön aus. Daneben gibt es Rezensionen, die für mich diesen Titel zu recht tragen, denn sie erzählen, was beim Lesen des Buches für Gedanken entstanden sind. Für mich ist das unterhaltsam, z.B. wenn da steht, das Buch habe gut angefangen, dann so schlecht, dass es in der Ecke gelandet sei; oder umgekehrt, der Anfang sei mühsam, dann ginge es los. Und dann gibt es noch goodreads, die sich um Rezensionen bemühen.
Ich würde Amazon nicht zum online Feuilleton zählen. Ein Feuilleton setzt nach meinem Verständnis eine Redaktion voraus, es wird gegengelesn, und es wird ein Niveau an Handwerk und gedanklicher Schärfe gewahrt.
M.a.W.: Es gibt jemanden, der Verantwortung übernimmt. Ich sage ja oft, tell sei kein Blog, sondern ein redigiertes Magazin, und ich erinnere mich an den Moment, in dem mir klar wurde, was ich damit eigentlich meine. “Das kann ich auf tell nicht verantworten”, hörte ich mich sagen, als wir im Team einmal ein riskantes Artikelprojekt besprachen. Seither ist dieser Satz für mich die Definition eines redigierten Mediums.
Die nächste Frage wäre: Ab wann ist eine Lesermeinung eine Rezension? Für mich sind zwei Dinge entscheidend: a) dass die Rezensentin das Buch gelesen hat, b) dass sie ein unabhängiges Urteil dazu fällt.
Diese beiden Dinge sind übrigens auch im “Feuilleton” nicht immer garantiert, dagegen gibt es, wie Sie schreiben, auch auf Amazon ausgewachsene Rezensionen.
Als ich in dem DLF-Kultur-Gespräch sagte, dass die Profis unter den Kritikern zwar meist besser schreiben, nicht jedoch besser lesen würden, habe ich dabei auch an manche Amazon-Kritiken gedacht. Wenn wiedermal ein Buch gehypt wird, mache ich mir manchmal den Spaß, die Amazonkritiken zu lesen. Das ist oft erhellender als der Jubel der Großkritik (z.B. bei “Axolotl Roadkill”, falls sich daran noch jemand erinnert).
Den aus dem römischen Recht stammenden lateinischen Begriff “Causa” auf “Handke” bzw. auf die Literatur Peter Handkes anzuwenden, macht einmal mehr deutlich, dass beim Bewerten seiner Texte nicht literarische Maßstäbe die Grundlage bilden, sondern juristisch-moralische. Bleibt man in der Rechtssprache, dann stellt sich der Page-99-Test als ein Schnellverfahren heraus, das auch als “Kurzer Prozess” bezeichnet werden kann. Solche Verfahren nutzen Diktaturen!
Diesen Test als “literarische Tiefenbohrung” zu bezeichnen,beweist, dass das “elektronische Stammtisch-Geschnatter” nicht ernst zu nehmen ist.
Erst einmal zum Begriff “causa”. Ich muss gestehen, dass ich ihn, ohne viel nachzudenken, einfach umgangssprachlich verwendet habe, im Sinn von “die Angelegenheit Handke”. Wie ich jetzt dank Ihres Kommentars merke, hat das durchaus die Konnotation von “die Verhandlungssache Handke”, was tatsächlich eine Situation vor Gericht evoziert. (Die juristischen Details liegen jenseits meiner Kompetenz, wie ich bei der versuchsweisen Lektüre des betreffenen Wikipedia-Artikels festgestellt habe: https://de.wikipedia.org/wiki/Causa_(Rechtsgrund))
Mit Ihren Schlussfolgerungen bin ich allerdings nicht einverstanden. Handke ist auf tell (und in der Literaturwelt überhaupt) insofern “Verhandlungssache”, als über den Wert, den Rang, die Relevanz etc. seiner Prosa “verhandelt” wird, allerdings nicht vor Gericht, sondern in literaturkritischen Medien (von den Feuilletons bis zu den Blogs und Social Media-Debatten).
Inwiefern dabei moralische Gesichtspunkte eine Rolle spielen und inwiefern literarische, müsste von Mal zu Mal entschieden werden. Gerade der Page-99-Test jedoch ist ein eminent sprachlich-literarisches Werkzeug, um einem Text zu Leibe zu rücken (buchstäblich, eben als Gewebeprobe).
Inwiefern die literarischen Methoden eines Autors eine moralische Dimension haben, ist eine der vertracktesten Fragen der Literaturbetrachtung. “Ästhetik ist die Mutter der Ethik”, sagt Joseph Brodsky in seiner Nobelpreisrede. Ein Satz, der viele Deutungen zulässt, und ich glaube nicht, dass es auf diese Frage je eine gültige Antwort geben wird. Sie kann jedoch ein anregender Lektürebegleiter sein.