Aber Sieglinde, Kafka ist ein Heiliger! Da kannst du nicht einfach einen Page-99-Test machen!“, sagte tell-Mitarbeiterin Agnese Franceschini, als ich ihr von meinem Plan erzählte.

Auch mir ist Kafka heilig. Doch seit meinem Page-99-Test zu Friedrich Hölderlin, einem weiteren Heiligen der Literaturgeschichte, habe ich Lust zu einem weiteren ketzerischen Page-99-Test.

Was gäbe ich darum, wenn ich Kafka lesen könnte, ohne zu wissen, dass es Kafka ist! Ich weiß zu genau, wonach ich suche, und das läuft der Intention des Page-99-Tests entgegen.

Auf den ersten Blick scheint die Seite 99 von Der Process allerdings auffällig unauffällig. Josef K. befindet sich in einer der Kanzleien auf den weitverzweigten Dachböden irgendwelcher Mietshäuser. Offenbar stimmt mit K. etwas nicht, so entnehmen wir dem ersten Satz.

Das Mädchen aber erkannte doch zuerst, daß das Benehmen K.’s in einem leichten Unwohlsein seinen Grund hatte, sie brachte einen Sessel und fragte: „Wollen Sie sich nicht setzen?“

Kafkas Stil zeichnet sich auch dann durch Genauigkeit aus, wenn er vermeintlich schlicht daherkommt.

K. setzte sich sofort und stützte, um noch bessern Halt zu bekommen, die Elbogen [sic] auf die Lehnen.

Wir sehen K. vor uns wie in einem Film. Und nicht nur ihn sehen wir.

Er hatte nun ihr Gesicht nahe vor sich, es hatte den strengen Ausdruck, wie ihn manche Frauen gerade in ihrer schönsten Jugend haben.

(In dieser Gesichtsbeschreibung steckt eine ganze Theorie über Frauen, wie ich gerade merke.)

Das Mädchen hebt zu einer längeren Rede an, ja sie überfällt K. geradezu mit Worten. Was sie sagt, höre ich nun mit den Ohren von Josef K., denn Kafka hat durch den vorherigen Satz dafür gesorgt, dass ich in K.s Bewusstsein bin.

Machen Sie sich darüber keine Gedanken, das ist hier nichts Außergewöhnliches,

sagt das Mädchen. Zwei Zeilen später wiederholt sie diese Worte.

Nun ja, das ist also nichts Außergewöhnliches.

Außergewöhnlich ist dagegen diese Wiederholung. Kafka ist kein Autor, der Dinge zwei Mal sagt. Doch dann ist es auch nicht Kafka, der es zwei Mal sagt, sondern das Mädchen, das er erfunden hat. Sie ist eine Plaudertasche, so schließe ich aus der Wiederholung.

Wortreich erklärt das Mädchen Josef K., warum er sich nicht wundern muss, dass ihm „ein wenig übel“ wurde. Die Sonne brennt aufs Dachgerüst, das „heiße Holz“ macht die Luft „so dumpf und schwer“, überhaupt sei der Ort für „Bureauräumlichkeiten“ (wie seltsam mich dieses Wort anschaut!) nicht sehr geeignet, „so große Vorteile er allerdings sonst bietet“. Die Vorteile werden nicht erklärt, sondern vorausgesetzt.

Aber was die Luft betrifft, so ist sie an Tagen großen Parteienverkehrs, und das ist fast jeder Tag, kaum mehr atembar.

(„Atembar“ – kein schönes Wort, zumal in gesprochener Rede, doch damit halte ich mich jetzt nicht auf.)

Wenn Sie dann noch bedenken, daß hier auch vielfach Wäsche zum Trocknen aufgehängt wird – man kann es den Mietern nicht gänzlich untersagen –, so werden Sie sich nicht mehr wundern, dass Ihnen ein wenig übel wurde.

Der Einschub, „man kann es den Mietern nicht gänzlich untersagen“, zeigt an, in welch repressivem Raum wir uns befinden. Offenbar untersagt man den Mietern alles Mögliche, und auch das Wäsche-Aufhängen würde man ihnen am liebsten untersagen.

In der Rede des Mädchens findet sich eine Steigerung der Ursachen für die schlechte Luft:

  • brennende Sonne
  • heißes Holz
  • großer Parteienverkehr
  • aufgehängte Wäsche

Auf der sprachlichen Oberfläche scheint das Mädchen Josef K. beruhigen zu wollen (Hervorhebungen im Zitat von mir):

– so werden Sie sich nicht mehr wundern, dass Ihnen ein wenig übel wurde.

– Aber man gewöhnt sich schließlich an die Luft sehr gut.

– Wenn Sie zum zweiten oder drittenmal herkommen, werden Sie das Drückende hier kaum mehr spüren.

Auch diese Beruhigungsformeln folgen der Logik einer Steigerung: Zuerst soll sich K. über die schlechte Luft nicht wundern, dann soll er sich daran gewöhnen, bis er schließlich nicht einmal mehr etwas davon merken wird.

Doch der Anschein der Beruhigung ist eine Finte. Die Beruhigung enthält eine Drohung: Das Mädchen lässt keinen Zweifel daran, dass K. noch ein zweites und drittes Mal herkommen wird. Josef K. kann sich seinem Schicksal nicht entziehen. (Es geht ihm ähnlich, wie Josef K. in Das Schloss, der nie auf den Gedanken gekommen wäre, einfach nach Hause zu gehen.)

Zu den Worten des Mädchens fällt mir ein philosophischer Witz von David Foster Wallace ein.

Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: „Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?“ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: „Was zum Teufel ist Wasser?“

Josef K. soll vergessen, was Luft ist, darauf zielt die sprachliche Strategie des Mädchens ab. Er soll sich über die verdorbene Luft nicht mehr wundern, sondern sie als neue Normalität akzeptieren. Die Übelkeit, die Josef K. verspürt, ist existenziell. Er reagiert damit auf das Element, in dem er lebt, die Luft, die er atmet. Sein „Wasser“ ist kontaminiert von seiner Verhaftung, seinem Prozess.

Kafkas Texte sind offen für die Zukunft, sie sagen auch etwas über unsere Gegenwart. Was Josef K. auf der Seite 99 in Der Process erlebt, lässt sich auf die Verschiebung des Sagbaren übertragen, die wir seit einigen Jahren erleben. Es gibt Kräfte in unserer Gesellschaft, die wollen, dass wir nicht mehr merken, wie uns übel wird.

P.S.

Ich erlaube mir einen Blick auf die Seite 98. Und was finde ich da?

Aber sein stummes Dastehn mußte auffallend sein und wirklich sahen ihn das Mädchen und der Gerichtsdiener derartig an, als ob in der nächsten Minute irgendeine große Verwandlung mit ihm geschehen müsse, die sie zu beobachten nicht versäumen wollten.

Das V-Wort wirkt in einem Text von Franz Kafka wie ein Gongschlag. Die Erzählung Die Verwandlung ist 1912 entstanden, also zwei Jahre vor Der Process (1914/15). Etwas von Gregor Samsa steckt auch in Josef K.: Auch er wird aus dem Bereich des Menschlichen ausgeschlossen. Dem unschuldig Angeklagten droht der Verlust der Menschenwürde, wofür der Käfer als Metapher steht.


Nachweis des Zitats von David Foster Wallace:
David Foster Wallace: Das hier ist Wasser / This Is Water. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Köln 2012


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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

3 Kommentare

  1. Agnese Franeschini 15. September 2020 um 10:51

    Kann ein Heiliger noch heiliger werden? Der Text von Sieglinde Geisel zeigt, wie Kafkas symbolisches und semantisches Universum auf einer Seite (und nicht überraschend auf Seite 99) zu finden ist. Ich werde „Der Prozess” von Franz Kafka noch einmal lesen.

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  2. Ihre Idee, S. 99 in scheinbar beliebig ausgewählten Werken einer genauen Inspektion zu unterziehen hat mich zuerst etwas befremdet, weil bei grossen Autoren wie Proust, Kafka, Woolf, Nabokov, Beckett Borges u.a. die Analyse irgendeiner Seite Aehnliches ergeben würde, da fast jede mit der gleichen Aufmerksamkeit und Meisterschaft geschrieben wurde. Ein Argument dafür, nicht Einzelbücher, sondern im Rahmen des Möglichen Gesamtwerke zu lesen. Der aktuelle Text aber zeigt uns F.K. grossartig in a nutshell.

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  3. Danke! Als ich vor über vier Jahren mit dieser Rubrik begann, hatte ich genau diese Bedenken: Ich dachte, spätestens nach dem dritten “Test” würde sich alles wiederholen. Und was, wenn mir zu einer Seite 99 einfach nichts einfällt? Beide Befürchtungen waren unbegründet. Jedes schlechte Buch ist auf seine eigene Weise schlecht, und jeder Klassiker auf seine Weise großartig.
    Ihr Kommentar motiviert mich, noch mehr Klassiker einer Gewebeprobe zu unterziehen – denn das ist das eigentliche Geheimnis: Wie erzeugen sie diesen Raum um sich herum, der auch für spätere Generationen fruchtbar bleibt (ein Gedanke von George Steiner)?

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