Joachim Meyerhoff ist Schauspieler und Schriftsteller in einer Person. Schon seine Brüder hatten ihn die „blonde Bombe“ genannt, als Schauspieler ist er für seine Obsessionen auf der Bühne in der Wiener Burg bekannt geworden. Doch auch als Schriftsteller hat Meyerhoff etwas Obsessives. In dem ursprünglich teilweise für die Bühne konzipierten Zyklus Alle Toten fliegen hoch schreibt er, stilistisch eher konservativ, autofiktional seine Erinnerungen.

Dieser doppelten Obsession setzte 2018 ein Schlaganfall ein vorläufiges Ende. Im fünften Band des Zyklus erzählt Meyerhoff von diesem Schlaganfall: dem erzwungenen Stillstand und den Versuchen, wieder hochzukommen.

Vier Monate und ein paar zerquetschte Tage nach meinem einundfünfzigsten Geburtstag musste ich ins Krankenhaus. Notfall. […] Natürlich wusste ich, dass ein Lebensfaden jederzeit reißen kann. Dennoch möchte ich davon erzählen, wie es ist, wenn die Selbstverständlichkeit der Existenz von einem Moment auf den anderen abhandenkommt.

Das Eigenleben der Gliedmaßen

Von romantischer Krankheitsverklärung, etwa im Sinne von der Krankheit als Weg zur Selbsterkenntnis, findet sich in seinem Buch nichts. Meyerhoff weiß vielmehr sofort, auf welche beängstigende Diagnose die merkwürdigen Symptome hinauslaufen, die aus Lichtblitzen und anderen visuellen Sensationen sowie einer Unkontrollierbarkeit der linken Körperhälfte bestehen.

Die ehemals nicht von der Bühne zu schiebende „blonde Bombe halbiert sich“, so formuliert es Meyerhoff. Die Schilderungen der Symptome sind ein literarisches Meisterstück, das Dostojewskijs Epilepsieschilderungen in nichts nachsteht. Zu den typischen Symptomen gehört, neben der Unmöglichkeit, die betroffene Körperhälfte zu kontrollieren, auch die Empfindung, das betroffene Glied gehöre nicht mehr zu einem selbst.

Meyerhoff beschreibt es so:

Der linke Fuß tapste mal hierhin, mal dorthin, steppte führerlos herum. […] Es sah aus wie in einem Trickfilm, in dem einzelne Gliedmaßen ein Eigenleben führen und beispielsweise nach einem vehementen Richtungswechsel des Oberkörpers die Beine abreißen, weiterrennen und vom Torso wieder eingeholt werden müssen.

Zeit ist Hirn

Hinzu kommt das veränderte Erleben der Zeit. Ein Schlaganfall scheint die Zeit zu dehnen. So schildert Meyerhoff das Warten auf den Rettungswagen und das Suchen nach einer geeigneten Klinik als schier endlos.

Mein Zeitgefühl war ebenso wie mein Raumgefühl verrutscht.

Später im Krankenhaus erlebt er diese Zeitdehnung erneut. Er schreibt:

Jede einzelne Minute musste durchs Nadelöhr.

Die Zeit, oder besser der Zeitfaktor, hat bei einem Schlaganfall auch noch eine ganz konkrete Bedeutung. Durch schnelle Hilfe in Form einer Blutverdünnung kann man den Untergang von Gehirngewebe aufhalten oder zumindest minimieren. Es ist also keine Zeit zu verlieren. „Zeit ist Hirn“, lautet daher ein Slogan in der Medizin. In seinem Buch spielt Meyerhoff damit. Als seine Tochter die Krankenwagenfahrer zur Eile drängt, ruft er selbst „Zeit ist Hirn!“ dazwischen.  

Auf den Schlaganfall herabsehen

Nicht nur über die Zeit übernimmt der Schlaganfall die Macht, sondern auch über Körper und Raum. Der Finger-Nase-Versuch, wie er in der neurologischen Diagnose üblich ist, wird zu einem Leitmotiv des Romans. Der Patient soll im großen Bogen den Zeigefinger zur Nase führen. Aber die betroffene linke Seite „will“ nicht:

Ich bog den Ellenbogen und zitterte den Zeigefinger Zentimeter für Zentimeter Richtung Gesicht. Wie eine irritierte Kompassnadel manövrierte ich ihn durch die Magnetfelder hindurch, die an meinem Arm zerrten. Die Fingerspitze zuckte so wild, als wäre ich ein schimpfender Lehrer oder ein Dirigent.

Der Ich-Erzähler Meyerhoff flieht aus dem Überwachungszimmer, um wieder auf eigenen Füßen zu stehen, doch bleibt ihm nichts anderes übrig, als das Scheitern anzuerkennen. Selbst Handläufe an der Wand – „ein Ballettsaal für schwankende Gestalten“, so nennt er den Stationsflur – helfen nicht.

Ich wollte es nicht zulassen, dass der Schlaganfall auf mich herabsah, ich wollte auf ihn herabsehen.

Hamster im Hirn

Meyerhoff sieht im Park des Krankenhauses Hamster in einem Laubhaufen. Er fragt seinen biologisch versierten Onkel nach den Eigenheiten des Hamsters und erhält zur Antwort, dass Hamster ziemlich egoistische, aggressive Tiere sind, die sich im Notfall auch gegenseitig kannibalisieren. Das „hintere Stromgebiet“ ist die medizinische Bezeichnung für das bei Meyerhoff betroffene Gehirnareal, durch das er nun genau diese Tiere flitzen sieht. 

Dieses hamsterdurchwanderte Gehirn, das „Zielorgan“ eines Schlaganfalls, trainiert Meyerhoff in den endlos gedehnten Nächten auf der Überwachungsstation mit Hilfe von Reiseerinnerungen: Das kann ich noch, das weiß ich noch.

 Gleichzeitig muss er erkennen:

Von der Rampensau zum sterbenden Schwan war es nur ein Katzensprung.

Zwar hat Meyerhoff beständig die Hoffnung, Schauspielerei und Schriftstellerei wieder ausüben zu können. Aber in der Akutphase seiner Erkrankung helfen ihm seine beiden Obsessionen nicht: Der Schlaganfall lässt sich weder wegspielen noch wegschreiben. Als der Neurologe einem Mitpatienten rät, sich „über kleine Erfolge zu freuen“, weiß Meyerhoff, dass auch er gemeint ist. Mit seiner bisherigen Lebensweise hat dies nicht mehr viel zu tun:

Mein Beruf war ganz sicher keiner, den man in Schonhaltung ausüben konnte. Achtsamkeit und Theater waren natürliche Feinde. Mein gesamter Erfolg bestand ja genau darin, mich in psychischen Grenzbereichen auszutoben. Nie würde ich als halbseitig eingeschränkter Pseudocharismatiker an der Rampe rumstehen wollen.

Er erkennt, dass er nun „zu den Hilflosen“ gehörte.

Es war eher unwahrscheinlich, dass ich im Katastrophenfall zu den Überlebenden zählen würde. Diese Erkenntnis drückte mich schwer. Das Schicksalhafte des Schlaganfalls hatte mir das Selbstverständnis geraubt, dass die Dinge gut ausgehen würden.

Schreiben als Therapie

Ob dieses Selbstverständnis zurückkommt, wird sich zeigen. Immerhin steht die “blonde Bombe” inzwischen wieder auf der Bühne – nunmehr in Berlin in der Schaubühne am Lehniner Platz. Und das vollendete Buch zeugt von der wiedererlangten schriftstellerischen Fähigkeit.

Aber auch das Schreiben ist Teil der Rehabilitation. Der letzte Absatz des Buches ist eine Wiederholung des ersten, er lautet auf der ersten wie auf der letzten Seite:

Und ganz nebenbei ist das Schreiben eine gute Übung für meine linke Hand, deren Finger noch zittrig sind. Sie erinnern sich nur vage an die Positionen der Buchstaben auf der Tastatur und geben ihr Bestes, nicht vorbeizufliegen. Somit ist der Parcours gesteckt. Mit der Rechten wird gedichtet, mit der Linken trainiert.

Bildnachweis:
Oliver Wetterauer

Joachim Meyerhoff
Hamster im hinteren Stromgebiet
Alle Toten fliegen hoch, Band 5
Roman
KiWi Verlag 2020 · 320 Seiten · 24 Euro
ISBN: 978-3-462-00024-5

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Von Herwig Finkeldey

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