Aus Anlass von Marcel Prousts 150. Geburtstag berichten wir eine Woche lang von unseren geglückten und gescheiterten Versuchen der Lektüre von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
Bereits erschienen:
In der Jugend traut man sich alles zu und kommt gar nicht zu der selbstzweifelnden Erkenntnis, dass man sich vielleicht überhebt. Für mich als Romanistikstudent stand „Proust“ im Raum. Und da ich mit einem Literaturliebhaber zusammen war, der sich besser auskannte als ich, gab es ein klares Lektüreprogramm: Der Himalaya der neueren europäischen Literatur musste gelesen werden. Die Recherche, der Ulysses, Der Mann ohne Eigenschaften, um nur die Achttausender zu nennen.
Proust-Lektüre in Rom
1981, mit fast 21, ging ich für ein Jahr nach Italien, ursprünglich hatte es Paris werden sollen, und als wollte ich das irgendwie ausgleichen, nahm ich mir die Recherche auf Französisch mit nach Rom. Und las sie durch. Zurück in Deutschland, las ich sie noch einmal auf Deutsch, um auch wirklich alles zu verstehen. Beide Male komplett, wenn auch, zugegeben, nicht durchgehend mit derselben Aufmerksamkeit. Es war mehr als eine Pflichtübung, es war keine verlorene Zeit.
Aber was habe ich damals verstanden? Anders gefragt, was drang zu mir durch? Denn natürlich begriff ich nicht alles, weder sprachlich (im Original) noch inhaltlich. Das lässt sich am besten testen durch die Frage danach, was hängengeblieben ist – noch einmal gelesen habe ich Auf der Suche nach der verlorenen Zeit nämlich nicht.
Schwuler Selbsthass?
Schon damals fand meine Wahrnehmung ganz offensichtlich auf den beiden Ebenen statt, die ich später in meinem Versuch, Literatur zu verstehen, als abstrakte Kategorien begriff: Einerseits reagierte ich auf die Haltung, die den Ton des Ich-Erzählers prägt. Ich mochte seine Genauigkeit im Beschreiben (auch wenn ich irgendwann vieles diagonal las) und seine Verbissenheit im Ergründen seiner Gefühle (das fand ich endlos spannend). Was ich nicht mochte, war seine seltsame Trägheit und Passivität gegenüber all dem, was ihn quälte.
Und noch etwas störte mich an der Haltung: Ich war enttäuscht, wie verschwiemelt und eher negativ Charlus und die anderen Homosexuellen wegkommen (verständlich für einen jungen Schwulen Anfang der 80er, der gerade lernte, dass ein Leben ohne dauerhaftes Verstecken vielleicht doch möglich war, zumindest in der Großstadt); welches Liebesleben Marcel Proust seinem Ich-Erzähler mitgibt, lässt sich auch als Monument des schwulen Selbsthasses lesen. Mit der Naivität des 20jährigen hoffte ich auf eine Auflösung, eine Erlösung, die aber ausblieb. Gemischte Gefühle also der Haltung dieses Luxusfaultiers gegenüber.
Rhythmus und Prosodie
Andererseits aber reagierte ich auf den Stil, auf die berühmte Sprache Prousts, den Sound. Ich hatte noch keines der notwendigen Analyseinstrumente bei der Hand, um mir ganz genau anzuschauen, wie Eva Rechel-Mertens das in ihrer Übersetzung löste. Aber ich merkte bei der direkt aufeinanderfolgenden Lektüre von Original und Übersetzung, dass diese Übersetzerin eines konnte: auf der sinnlichen, ästhetischen Seite der Sprache einen Rhythmus, eine Prosodie schaffen, wodurch ich als Leser über die Marathonstrecke des Textes getragen wurde. Ihr Deutsch ist geschmeidig, schön, fließend, eine große Einladung, sich einfach von dem Strom davontransportieren zu lassen. Das hat für mich beim Original funktioniert und, im schönsten Sinne wirkungsäquivalent, bei ihrer Übersetzung eben auch.
Die Übersetzung von Bernd Fischer hatte ich immer mal analysieren wollen. Ich kenne sie nur in Auszügen, ebenso wie die Teilübersetzung von Michael Kleeberg. Dass ich es nie geschafft habe, liegt aber nicht nur an dem notorischen Zeitmangel des Literaturliebhabers und -arbeiters. Die Auszüge haben nie richtig Lust auf die Lektüre geweckt, ich fand sie spontan spröde und manchmal hölzern; was sich hinter diesen Eindrücken verbirgt, müsste ich natürlich eigentlich analysieren, bevor ich es so verkünde, aber vielleicht nicht in diesem Beitrag, in dem ich summarisch bleiben darf.
Bei Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gehören Rhythmus und Prosodie des Werks, noch mehr als ohnehin immer in literarischen Texten, zur zentralen Substanz. Und die Fischer-Übersetzung wirkte in den Auszügen nicht so auf mich, als wäre da eine Verbesserung von Rechel-Mertens‘ Arbeit gelungen.
Mir scheint, ich habe Prousts Recherche ausgekostet, obwohl ich damals zu jung war, um den Roman richtig zu verstehen. Von der Besteigung dieses Achttausenders habe ich die Erfahrung mitgenommen, dass Rhythmus und Prosodie Genussmittel sind – und die Erkenntnis, dass mich Literatur fesselt, wenn sie die Verästelungen des menschlichen Gemüts ausleuchtet.