Wer sich an Prousts opus magnum machen will, hat im Deutschen die Wahl zwischen der bereits klassisch gewordenen Übersetzung von Eva Rechel-Mertens von 1957 (1994 revidiert von Luzius Keller und Sibylla Laemmel), erschienen bei Suhrkamp, und der Neuübersetzung von Bernd-Jürgen Fischer von 2013-2016, erschienen bei Reclam.
Ich nehme die Seite 99 der Fischer-Übersetzung, bei Rechel-Mertens findet sich der Text (abzüglich dreier Zeilen) auf Seite 101. Beim ersten Lesen kommt mir Rechel-Mertens eleganter vor, die Syntax läuft rund, die Wortwahl scheint mir eher edel als altmodisch. Fischer liest sich stachlig, Manches muss ich zwei Mal lesen, und Monsieur Legrandins „Hallo, Freunde“, befremdet mich ein wenig, da gefällt mir Rechel-Mertens’ „Seid gegrüßt, meine Freunde!“ besser. Ein Blick ins Original scheint allerdings Fischer recht zu geben: „Salut, amis!“
Beginnen wir mit dem ersten Satz der Seite 99.
Die ältere Übersetzung wirkt literarischer: „ein Gefühl, das meine Großmutter so unfähig war zu hegen und beinahe auch zu verstehen, daß…“. Dafür ist Fischer im Satzbau effizienter: „eine Empfindung, die meine Großmutter so wenig nachvollziehen, ja kaum verstehen konnte, dass…“. Allerdings stört mich das Wort „nachvollziehen“ – ein Gefühl „hegen“ ist sprachlich schöner, ein aparter Einfall (Original: „ressentir“).
In der Mathematik gilt eine Formel dann als elegant, wenn sie eine abstrakte Erkenntnis ohne Umweg mit möglichst wenig Zeichen darstellt. In gewisser Weise gilt das auch für die sprachliche Übersetzung: „mit solcher Heftigkeit bekämpfen“ ist stärker als „so viel Eifer in die Bekämpfung legen“, auch finde ich „ganz unnütz“ stärker als „ziemlich nutzlos“.
Ebenso scheint mir im nächsten Satz die Wendung „mit einem normannischen Edelmann verheiratet“ (Rechel-Mertens) gelungener als „mit einem Landedelmann aus der unteren Normandie verheiratet“ (Fischer), ich muss weniger Energie dafür aufwenden (Original: „mariée […] avec un gentilhomme bas-normand“).
Überhaupt hat dieser Satz es in sich.
Aus Rechel-Mertens’ eleganter Infinitiv-Konstruktion „sich zu Angriffen hinreißen zu lassen“ wird in Fischers biederer dass-Konstruktion „sich zu Angriffen verstieg“. Auch beim Verb entscheidet sich Fischer für die umständlichere und daher schwerfällige Variante: Wo Rechel-Mertens einfach das Verb „vorwerfen“ benutzt, heißt es bei Fischer „zum Vorwurf machen“ (das verhält sich analog zu “bekämpfen” vs. “in die Bekämpfung legen”).
Der größte Unterschied findet sich im letzten Satzteil. Bei Rechel-Mertens wirft Monsieur Legrandin der Revolution vor, „daß sie nicht alle aufs Schafott geschickt habe“, wobei sich das „alle“ auf den Adel bezieht – erstaunlicherweise hat mich der Wechsel von Singular („Adel“) zu Plural („alle“) nicht gestört, er ist mir im normalen Lesetempo gar nicht aufgefallen. Bei Fischers „dass man ihn nicht ausnahmslos guillotiniert hatte“ bin ich gestolpert, ich musste noch einmal nachschauen, worauf sich das „ihn“ bezieht. Es ist ebenfalls der Adel gemeint, doch war es paradoxerweise gerade die Übereinstimmung des Singular, die mich irritiert hat. Adel ist nur grammatisch Singular, es ist ein Oberbegriff und im Kontext des Satzes sind natürlich viele gemeint. Das Wort ist ein Abstraktum: Einen Adel, der guillotiniert wird, sehe ich nicht vor mir, bei der Wendung „alle aufs Schafott schicken“ dagegen sehe ich Bilder. (Im Original ist beides Plural, sowohl der Adel, „les nobles“, als auch das Objekt der Todesstrafe, „de ne les avoir pas tous guillotinés“.)
Andere Unterschiede zwischen den beiden Übersetzungen sind zwar weniger markant, doch sie bestätigen den Befund: Rechel-Mertens ist geschmeidiger, Fischer umgangssprachlicher. Heißt es bei Rechel-Mertens: „Sie haben Glück, dass Sie hier so ausgiebig leben können“, übersetzt Fischer fast flapsig: „Sie sind fein raus, dass Sie sich hier so viel aufhalten können“ (Original: „vous êtes heureux“), und statt in seinen „Winkel“ kehrt der Sprecher bei Fischer zurück „in meine Hundehütte“ (Original: „ma niche“).
In seinem Haus habe er alle möglichen „unnützen“ (Rechel-Mertens) bzw. „überflüssigen“ (Fischer) Dinge. „Es fehlt nur das Notwendigste“, sagt Monsieur Legrandin in der Fischer-Übersetzung mit dem Nachdruck des Superlativs, während Rechel-Mertens ihn sagen lässt: „Es fehlt nur das, was notwendig ist.“ Das ist schöner, noch schöner allerdings fände ich die wörtliche Übersetzung, für die sich seltsamerweise niemand entschieden hat: “Es fehlt nur das Notwendige.” (Original: „Il n’y manque que le nécessaire.“)
Insgesamt ist Bernd-Jürgen Fischer vielleicht näher am Original, zumindest in den Dialogen. „Gerade bei der direkten Rede hatte ich oft den Eindruck, dass die Leute in Prousts Text bei Weitem nicht so literarisch reden, wie in den bisherigen Übersetzungen“, so Fischer seinerzeit auf Deutschlandfunk Kultur. „Natürlich der erzählende Text, Proust selbst, der ist ja hochgradig literarisch, aber die Leute selbst sprechen, das ist nicht direkt Alltagsjargon, aber es ist eben doch der Umgangssprache sehr viel näher. Und diesen Unterschied sollte man eben auch deutlich machen.“
Daher ein letztes Beispiel aus der Rede von Monsieur Legrandin:
„Künstlernatur“ vs. „Natur eines Künstlers“: Der Unterschied ist minim, und doch verändert er den Habitus des Sprechenden. Der letzte Teil des Satzes ist schwierig, das französische Original „ne la laissez pas manquer de ce qu’il lui faut“ widersetzt sich einer zwanglosen Wiedergabe im Deutschen. Rechel-Mertens erfindet die Wendung „es an etwas darben lassen“, während Fischer das unauffällige „es an etwas fehlen lassen“ verwendet. Überraschenderweise endet der Satz bei Rechel-Mertens mit dem alltagstauglichen „was sie braucht“, während Fischer sich mit „was ihr nottut“ für eine altmodischere Variante entscheidet.
Bernd-Jürgen Fischers Übersetzung mag näher an der Wörtlichkeit des Originals sein, doch wirkt sie manchmal etwas steif. Ich gebe Rechel-Mertens den Vorzug. Mit ihrem Gefühl für Rhythmus und Prosodie hat sie den Sound des deutschen Proust so überzeugend geprägt, dass ich davon nicht loskommen möchte.
Marcel Proust
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Herausgegeben von Luzius Keller. Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens. Revidiert von Luzius Keller und Sibylla Laemmel. Drei Bände in Kassette
Suhrkamp Verlag 2017 · 5200 Seiten · 49,95 Euro
ISBN: 978-3-518-46830-2
Marcel Proust
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Übersetzt von Bernd-Jürgen Fischer. 3 Bände in Kassette
Reclam Verlag 2020 · 4325 Seiten · 44 Euro
ISBN: 978-3-15-030070-1
Die Fischer-Übersetzung ist “stacheliger” – wunderbar auf den Begriff gebracht, liebe Sieglinde Geisel ! Fischers Übersetzung ärgert mich hartnäckig, ABER: sie steigert dadurch den Genuß von Rechel-Mertens:
Es ist ein merkwürdiges Privileg, zwei deutsche Übersetzungen von Proust zur Hand zu haben und (jeweils in Absätzen/Seiten/Szenen) wechselweise zu lesen, was ich seit einer Weile (Weile ?, nunja…) tue: ich hatte, nach Jahrzehnten mißlungener Anläufe mit der originalen Rechel-Mertens Übersetzung, dank der ‘Frankfurter Ausgabe’ die ‘Suche’ vor ein paar Jahren endlich zuende gelesen – um schließlich festzustellen, dass die Lektüre eigentlich nie enden dürfte! Sie müßte so umfangreich sein, dass jeder Leser stürbe, bevor er zum Ende gelangte.
Was ist eigentlich mit der Übersetzung von Hans Wollschläger, ebenfalls Suhrkamp, warum wird sie nicht erwähnt?
Da haben Sie zwei Titanen verwechselt: Wollschläger hat Joyce übersetzt.
Vielen Dank für diese erhellende Gegenüberstellung, ich war auf der Suche nach genau so einer Analyse und Bewertung der beiden Übersetzungen – und werde mich für meine Erstlektüre wohl für die Frankfurter Ausgabe entscheiden.