Vor siebzig Jahren wurde die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet. Ihr Kernversprechen besteht im Gebot der Nichtzurückweisung aller Menschen, denen im Heimatland politische Verfolgung droht. Doch an die illegalen Pushbacks durch die libysche und griechische Küstenwache scheint sich die europäische Bevölkerung inzwischen ebenso gewöhnt zu haben wie an die fortwährende Hölle in den Lagern auf der Ägäis und an das Sterben im Mittelmeer.

Welche Zukunft kann das Abkommen angesichts der permanenten Verstöße in Europa noch haben? Dieser Frage geht der Migrationsforscher Gerald Knaus in Welche Grenzen brauchen wir? nach. Seit seinem Erscheinen im Herbst des vergangenen Jahrs hat das Buch nichts von seiner Aktualität eingebüßt. 

Fehlende Konzepte

Knaus, den die Geschichte seiner eigenen Familie an die Themen Flucht und Asyl bindet, will mit seinem Buch eine „lösungsorientierte Debatte“ stiften im Hinblick auf die Grenz- und Migrationspolitik in Europa und anderswo. Er fragt, welche Möglichkeiten wir haben, die aktuellen Missstände in absehbarer Zeit zu verändern. Das internationale Asylsystem von heute in seinem ruinösen Zustand vergleicht er mit der Kathedrale Santa Maria del Fiore in Florenz: Noch hundert Jahre nach der Errichtung des Kirchenschiffs fehlte dem Bau das entscheidende Element, nämlich die Kuppel.

So stand im Jahr 1400 das Schiff ihrer Kirche, doch bei jedem Unwetter regnete es auf den Hauptaltar. Wo eine Kuppel sein sollte, war ein Loch.

Ebenso verhalte es sich mit dem internationalen System zum Schutz von Flüchtlingen: Zu seiner Fertigstellung mangle es weder an einem Bauplan (der besteht in der Genfer Flüchtlingskonvention) noch an tragenden Strukturen (Institutionen wie dem UNCHR und den nationalen Asylbehörden). Was fehlt, seien Konzepte und Mechanismen, die sicherstellen, dass das Asylsystem den Menschen tatsächlich Schutz gewähren kann, ohne populistischen Anstürmen ausgesetzt zu sein.

Was ist mehrheitsfähig?

In knapp fünfzig kompakten Kapiteln präsentiert Knaus zahlreiche Ideen, wie diese Aufgabe in naher Zukunft politisch angegangen werden könnte. Die Suche führt „von Westafrika bis Südostasien, vom Alpenrhein zur Oder, über die Ukraine und die Türkei nach Libyen und Marokko“, für Knaus gilt dabei fortwährend das Kriterium demokratischer Mehrheitsfähigkeit. Europäische Mehrheiten verlangen von der Politik sowohl einen humanen Umgang mit Schutzsuchenden als auch Kontrolle über Grenzen und Migrationsbewegungen, daher gelte es, politische Ideen zu erarbeiten, die beides verbinden: „Empathie und Kontrolle“.

Knaus präsentiert zahlreiche Vorschläge, die diesem Anspruch genügen sollen:

  • Abkommen der EU mit nord- und westafrikanischen Ländern
  • eine Reorganisation der Seenotrettung
  • eine neue Einigung mit der Türkei
  • eine lösungsorientierte Kooperation europäischer Asylbehörden
  • „faire und schnelle“ Asylverfahren in Europa (die allerdings einen „Abschiebungsrealismus“ zur Bedingung hätten)
  • eine internationale Koalition, um die Neuansiedlung Schutzbedürftiger wiederzubeleben

Rückblick in die Geschichte

Anschaulich stellt Knaus zentrale Episoden aus der modernen Geschichte von Flucht und Asyl dar, häufig anhand von Interviewmaterial und biografischen Einlassungen. Ein humaner Umgang mit Schutzsuchenden stand im vergangenen Jahrhundert selten im Fokus der Politik, das zeigten das brutale Grenzregime der Schweiz im zweiten Weltkrieg und der rassistische Umgang der französischen Regierung mit den algerischen Harkis in den 60ern ebenso wie die bis in die Gegenwart reichenden Pushbacks sowie Abschreckungslager vor den Küsten Australiens.

Als positives Beispiel nennt Knaus dagegen etwa das private Patenschaftssystem, das seit 1979 in Kanada für erhöhte Aufnahmequoten von Schutzsuchenden sorgt, trotz politischem Gegenwind. Daran hätten sich europäische Staaten ein Beispiel zu nehmen, um die Umsiedlung von Flüchtlingen aus Griechenland oder der Türkei im Rahmen von „Resettlement“ voranzubringen und zugleich die irreguläre Migration über die gefährlichen Meeresrouten zu verringern.

Irreführende Rhetorik

Energisch arbeitet sich Gerald Knaus an idées reçues und Mythen zum Thema Grenzen, Flucht und Migration ab. Vehement kritisiert er etwa „die Angewohnheit, Flucht und Migration als Phänomene in der Sprache der Physik und Hydraulik zu beschreiben“. Diese Rhetorik sei nicht nur irreführend, sondern leugne auch die reale Verantwortung der Politik:

Nicht technisches Unvermögen oder irgendein Naturgesetz der Migrationsphysik hält Regierungen davon ab, größere Migrationsbewegungen zu stoppen, sondern ihre Werte und die Interessen, die sie verfolgen.

Kritisch wendet sich Knaus auch gegen die Vorstellung eines angeblichen „Migrationsdrucks“ aus armen Ländern:

Manche Europäer fürchten eine irreguläre Massenimmigration, die es nicht gibt, und sehen nicht, dass reguläre Mobilität aus Afrika nicht nur sehr gering ist, sondern seit einem Jahrzehnt zurückgeht.

Das Sterben im Mittelmeer

Knaus, der seine Argumentation gerne mit Zahlentabellen untermauert, spricht hier von „apokalyptischen Migrationsmythen“. Dagegen setzt er sich für eine „faktengestützte“ Berichterstattung ein sowie für eine Migrationsforschung, die bei der Analyse von Fluchtursachen ins Detail geht und die Erfahrungen kleiner Gruppen anschaulich beschreibt. Prognosen für die nächsten Jahrzehnte seien von diesen Analysen allerdings nicht zu erwarten.  Vielleicht ist das der Grund dafür, dass Knaus mögliche Fluchtbewegungen in der Zukunft (etwa im Zusammenhang mit dem Klimawandel) nicht diskutiert.

Von zentraler Bedeutung ist für den Autor die Frage, wie das Sterben im Mittelmeer beendet werden kann. Seenotrettung allein reiche dafür nicht aus: Im Jahr 2016 ertranken mehr Menschen im Mittelmeer als je zuvor, obwohl durch die Kampagne „Mare Nostrum“ der italienischen Marine eine Rekordzahl Schiffbrüchiger in Sicherheit gebracht werden konnten. Sowohl die australische als auch die europäische Grenzpolitik sei Knaus zufolge in einem „Dilemma“ gefangen: zwischen dem Nichtstun angesichts des Sterbens auf dem Meer einerseits und „Abschreckungslagern“, wie sie an den europäischen Außengrenzen bestehen, andererseits. Schon 2016 sprach sich Sebastian Kurz dafür aus, Schutzsuchende „idealerweise auf einer Insel“ zu internieren.

Abschreckungspolitik

Der von Knaus mitgestaltete EU-Türkei-Deal sollte eine dritte Möglichkeit schaffen. Der Autor analysiert, warum das Abkommen letztlich scheiterte und damit zur Überfüllung der ägäischen Lager führte sowie zu den unter den Augen der EU-Regierungen durchgeführten Pushbacks auf dem Meer.

Die katastrophalen Bedingungen waren das Ergebnis der nie korrigierten Diskrepanz zwischen der Zahl der Ankommenden und der getroffenen Entscheidungen.

So sei Europa auf die australische Option einer „gewollten“ Abschreckungspolitik an der griechisch-türkischen Grenze verfallen. Knaus plädiert für eine Wiederbelebung der Türkei-Vereinbarung, unter der Bedingung fairer und schneller Asylverfahren in Griechenland sowie einer Verbesserung des türkischen Systems durch Unterstützung von Seiten der EU.

Das „Nächstmögliche“

Gegen den Türkei-Deal gibt es verbreitete Einwände – dass Knaus diese kaum kritisch diskutiert, wirkt tendenziös, gerade angesichts seiner eigenen Beteiligung an dem Deal. In einem Satz verweist er zwar auf die „lange Tradition“ der Türkei, Asylsuchenden Aufenthalt zu gewähren, er geht aber an keiner Stelle auf die Tatsache ein, dass Geflüchtete in der Türkei rechtlich nur „temporären Schutz“ genießen und daher den Machtspielen der AKP-Regierung schutzlos ausgeliefert sind. 

Knaus’ Argumentation lässt einen mit solchen Fragen und Einwänden bisweilen allein, wohl auch weil sie zumeist in Erzählform vorgebracht wird. Trodzem liest man das Buch mit Gewinn: Neben zahlreichen Fakten erfährt man viel über die Geschichte von Flucht und Migration im 20. und 21. Jahrhundert. Der Migrationsforscher vermittelt einen Sinn für das „Nächstmögliche“: für das, was in naher Zukunft getan werden kann, um eine Kuppel für das internationale System zum Schutz von Flüchtlingen zu erbauen.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Flüchtlinge bei der Ankunft auf Lesbos (2016) via Wikimedia Commons

Angaben zum Buch

Gerald Knaus
Welche Grenzen brauchen wir?
Zwischen Empathie und Angst – Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl
Piper 2020 · 336 Seiten · 18 Euro
ISBN: ‎ 978-3492059886

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Von Veniamin Itskovich

Veniamin Itskovich studiert Literaturwissenschaft in Berlin, derzeit in Paris.

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