Vier Prosaarbeiten und einige Texte für das Theater hat der aus Luzern stammende Schriftsteller Flavio Steimann (*1945) in den letzten 35 Jahren vorgelegt. Das jüngste Werk, der Roman Krumholz, ist für seine Verhältnisse mit knapp 200 Seiten schon fast ein Schwergewicht. Und der Roman folgt vergleichsweise rasch auf das dritte Werk: Nach dem Roman Passgang (1986) und der Erzählung Aperwind (1987) hatte Steimann mehr als ein Vierteljahrhundert an dem Roman Bajass gearbeitet, der 2014 erschienen ist.
Taubstumm geboren
An das Setting dieses Romans knüpft der Autor nun an: Wiederum erkundet Steimann die ländliche Schweiz zu Beginn des 20. Jahrhunderts an der Schwelle zum Ersten Weltkrieg mit ihrer Bigotterie, ihrem Aberglauben, der bitteren Armut der Bauern und ihrem täglichen Kampf ums Überleben.
Der erste Teil des Romans ist dem Leben Agathas gewidmet. Sie kommt taubstumm zur Welt, die Mutter stirbt bei ihrer Geburt. „Auch das Kind werde nicht lange leben“, so prophezeit der junge Dorfarzt in jenen dunklen Morgenstunden im Mai. Der Vater, ein schweigsamer und fortan von seiner Trauer niedergedrückter Bauer, zündet in einer Winternacht den Hof an und erhängt sich im Stall. Agatha ist da noch sehr klein, unberührt vom Lärm und dem Trubel der Feuerwehrleute schläft sie in der Nacht des Unglücks „in dem kleinen Chaisenwagen“, den der Vater als ihr sicheres Versteck erkoren hat.
Verhängnisvolle Begegnung
Als einziges Kind wächst Agatha in der „Allgemeinen Armen- und Idioten-Anstalt St. Ottilien zum Fang“ auf, unter der strengen Obhut der Schwestern und umgeben von den seltsamsten Gestalten. Mit sechzehn Jahren verlässt sie das Heim und findet Arbeit und Unterkunft in einer Fabrik zur Herstellung von Seidenwaren. Sie erkrankt an Tuberkulose und wird zur Erholung auf einen Bauernhof geschickt. Damit beginnt – so könnte man glauben – eine glückliche Epoche für die junge Frau.
Doch dann geschieht etwas Unfassbares: In einer verhängnisvollen Begegnung trifft Agatha auf Innozenz Hilar Torecht, einen jungen Mann, der in den Wäldern haust. Auch ihm hat das Leben übel mitgespielt, so erfahren wir im zweiten Teil des Romans; schon in jungen Jahren auf sich selbst gestellt, vagabundierend, versucht er dennoch, dem Leben Gutes abzugewinnen. Die Begegnung zwischen Agatha und Torecht (der sich selbst Zenz nennt) bleibt die leere Stelle der Erzählung. Was wir erfahren ist, dass Agatha von Torecht in einem unergründlichen Akt des Kontrollverlusts missbraucht und getötet wird.
Wunsch nach Unabhängigkeit
Die Geschichte basiert auf einem Mordfall, der sich 1914 im Kanton Luzern ereignet hat, und ihre besondere Tragik liegt darin, dass zwei junge Menschen aufeinandertreffen, die beide gleichermaßen von der Gesellschaft wie Ausgestoßene behandelt werden. In ihrer verhängnisvollen Begegnung manifestiert sich die Unausweichlichkeit einer Entwicklung, die auf der unausgesetzten Erfahrung individuellen Leidens basiert. Torecht agiert das Gefühl der eigenen Ohnmacht aus: Wie Agatha ist auch er seit seiner Kindheit das Opfer struktureller Gewalt und sexueller Übergriffe.
Dass Agatha im Roman – anders als es die Gerichtsakten tun – nicht nur als Objekt einer Straftat betrachtet, sondern dem Leser vom Moment ihrer Geburt an in ihrem ganzen traurigen Lebensweg nahegebracht wird, lässt diese grauenvolle Tat zwar einerseits noch schockierender erscheinen. Andererseits jedoch nehmen wir teil an einer Entwicklung, die Agatha zu innerer Stärke und Selbstvertrauen führt, die einen Lebenswillen erkennen lässt und den Wunsch nach Unabhängigkeit, den die junge Frau trotz oder gerade aufgrund der hartherzigen Obhut der Schwestern ausgebildet hat.
Im Gegensatz zu Agatha bleibt Torecht ein „Irrlicht“, wie der Autor es in einem Gespräch formuliert. Torecht versucht sich gegen jeden Widerstand seinen Teil vom Leben zu erstreiten, unstet und unwillig zum Sesshaftsein, immer wieder ausgebeutet und fallengelassen.
Literarisches Tafelbild
Flavio Steimann beschreibt seinen Roman als ein „literarisches Diptychon“ ; in der Tat gleicht Krumholz einem Tafelbild aus zwei Elementen, die durch ein Scharnier verbunden sind. Dies erfordert einen formal strengen Aufbau: In der Mitte endet der erste Teil des Textes, welcher der Lebensgeschichte Agathas gewidmet ist. Die raum-zeitliche Konstellation der Lichtung bildet das Scharnier, das das Leben der beiden Hauptfiguren miteinander verbindet: Dort ereignet sich das tragische Geschehen, in dessen Folge Agatha ums Leben kommt.
Formal betrachtet, ist das Scharnier eine Leerstelle im Text, ein drastischer Schnitt, mit dem die Perspektive des Erzählens umschwenkt auf den Landstreicher Torecht. Das Schreckliche, das kommt, sehen wir nun nicht mehr durch Agathas Augen. Nahezu unmerklich entschwindet sie aus dem Text, was dem Leser erst im Nachhinein bewusst wird.
Die letzten Sätze, die ihr gewidmet sind, zeigen sie nicht mehr als das Subjekt der Wahrnehmung, sondern zuerst als Objekt der Suche, die einsetzt, als sie nicht pünktlich zum Essen ins Bauernhaus zurückgekehrt ist, und schließlich als Objekt der polizeilichen und gerichtlichen Untersuchung. Die Lichtung als Bild für seelische Vorgänge ist ambivalent: Verborgenes kommt ans Licht, wird damit manifest und zeigt sich in seiner determinierenden Kraft. Die Lichtung, vielleicht auch ein Bild für den neuen und besseren Lebensabschnitt, der für Agatha unmittelbar zuvor begonnen hatte, wird zum Ort ihres Verhängnisses.
Reduzierte Wahrnehmung
Was die Darstellung der Lebenswege von Agatha und Torecht miteinander verbindet, ist die Reduktion ihrer Wahrnehmung auf bestimmte Sinneskanäle. Im Falle der taubstummen Agatha ist es das Sehen, Riechen und Fühlen, über das sie die Welt wahrnimmt und deutet. Paradoxerweise lernt sie mit dem Gesichtssinn auch, sich der Welt und ihrer Grausamkeiten zu erwehren, denn das Auge ist nicht nur Rezeptor, sondern als Blick ebenso Ausdruck. Was Agatha also bleibt, ist das intensive Erleben von Bildern und der Schönheit kleiner Dinge, darüber entwickelt sie auch einen Sinn für das Ästhetische, ja Poetische.
Torecht hingegen, bald nach seiner Tat gefasst und in einer Gefängniszelle isoliert, bleibt im Wesentlichen das intensive Wahrnehmen von Geräuschen außerhalb und innerhalb seiner Zelle:
Das Kratzen des blindgescheuerten Löffels auf dem Boden der Gamelle ist ihm verhasst geworden, die Geräusche, wenn er sich beim Essen zuhört, das Knacken und Mahlen machen ihn lächerlich und widern ihn an; sein Gluckern, wenn er mit halbvollem Mund vom schalen Wasser schluckt, geht nicht selten über in ein irres Lachen und Prusten, so dass er Hose und Boden verdreckt.
Entlegene Helvetismen
Das Zitat mag es bereits veranschaulichen: Was die Lektüre – insbesondere für Nicht-Schweizer – zu einer Reise ins Unbekannte macht und nicht selten auch eine Herausforderung darstellt, sind die zahlreichen, oftmals schon lange nicht mehr gebräuchlichen Worte und Wendungen, die detailreichen und kunstvollen Beschreibungen und die Helvetismen, die in eine geschichtliche Vergangenheit verweisen, die dem Leser heutigen Tags nicht immer leicht greifbar ist.
Neben der „Gamelle“ ist von der „Krimmermütze“ die Rede, vom „Ziger“, der „geliderten Haut“, dem „Scheckenbalg“, der „Gant“ und dem letzten „Schottisch“, die Felder „verganden“, etc. Diese fremdartigen Worte sind keineswegs bloße Zierde, sie neigen dazu, die Gedanken und Assoziationen des Lesers mit sich fortzunehmen. Überlässt man sich ihrem Sog, dann entfalten sie ihre ganze Kraft.
Sprachfluss
Steimanns Sprache ist eine der Verknappung, der lyrischen Verdichtung. Insbesondere Alliterationen fallen auf, sie geben den oftmals langen, dahinfließenden Sätzen eine Binnenstruktur, regen zum Innehalten und Nachhören an. Bilder, die zeitlos erscheinen, bleiben im Gedächtnis, so etwa das Bild der vierjährigen Agatha am Tag ihrer Ankunft verlassen auf den Stufen der Anstalt. Plastische Figurenzeichnungen und sprechende Namen lassen die Charaktere deutlich hervortreten, so beispielsweise den Priester Helferich, dessen Zeichnung bisweilen ins Groteske kippt.
Auffallend ist auch der häufige Gebrauch indirekter Rede. Sie erzeugt einen Sprachfluss, einen Rhythmus, der bisweilen, bei aller Verschiedenheit, an die Texte der Schweizer Autorin Dorothee Elmiger erinnert. Die indirekte Rede schafft Distanz zum Geschehen und macht die Vielfalt der Perspektiven und Wahrnehmungsweisen bewusst. Sie wirkt entlarvend, legt kollektive Bilder und Ängste frei:
Dass es [das Kind: Agatha] sich links bekreuzige und darum von den Wespen nicht gestochen werde, sei das untrügliche Zeichen dafür, dass es vom bösen Geist besessen sei – besser für alle wäre es gewesen, es wäre an Mutters statt gestorben und läge ungetauft, wie es solch einem notgeborenen Wesen bestimmt sei, für immer unter der Schwelle des unglückseligen Hofs begraben.
Panoptikum
Die Anstalt, in der Agatha ihre Kindheit verbringt, bezeichnet Flavio Steimann in einem Interview als ein „Panoptikum“. Dies macht in zweierlei Hinsicht Sinn: Zum einen trifft der Leser hier auf ein Kuriositätenkabinett seltsamer Käuze, unter denen das Kind in einem Kokon aus Einsamkeit aufwächst. Zum anderen gemahnt das „Panoptikum“ an die auf Jeremy Bentham zurückgehende Bauform von Gefängnissen und ähnlichen Anstalten, welche die gleichzeitige Überwachung vieler Menschen durch einen einzigen Überwacher ermöglicht.
All den Augen im Anstaltshaus kann das Kind nicht entkommen. Sie schauen – riesenhaft vergrößert – von früh bis spät missbilligend durch butzendicke Brillengläser, sie folgen seinen Schritten versteckt unter buschigen Brauen. Es spürt ihr Starren von überall her durch Ritzen und Risse – ein Drohen, ein Rollen, ein Blitzen – und weiß nicht, wie ihnen entfliehen.
So verbindet die beiden Hauptfiguren im Wesentlichen die Erfahrung, durch den Blick anderer zum Objekt degradiert, bewusst in ihrer Außenseiterposition gehalten zu werden: im übertragenen Sinne durch das Urteil der anderen, ihre moralisch-juristische Verurteilung. Und so dichtet auch Torecht – der vom Gericht mehr für das verurteilt wird, was er ist als für das, was er getan hat – Agatha den ‚bösen Blick‘ an; ein Zeichen dafür, dass er sich letztlich auch ihr unterlegen, auch von ihr zurückgewiesen gefühlt hat.
Der Täter als Opfer
Zwar wird Torecht für den Mord an Agatha bestraft, ‚Gerechtigkeit‘ aber erfährt sie nicht. Die Gesellschaft stiehlt sich aus ihrer Verantwortung gegenüber dem Einzelnen, hier gegenüber Torecht, dem von Anfang an jede Möglichkeit der Teilhabe, der Zugehörigkeit versagt geblieben ist. Letztlich wird er verurteilt für einen Lebensweg, für ein Schicksal, das ihm aufgezwungen wurde.
Und so ist Torechts Ende, das mit dem Gerichtsurteil besiegelt wird, nicht weniger ergreifend als das Agathas; Opfer sind sie beide. Der Erzähler ist keineswegs ohne Sympathie gegenüber Torecht:
Wie auch immer. Der Zenz ist nicht der einzige gewesen, der die Erde hat verlassen müssen, ohne zu verstehen, warum die Dinge in der Ferne kleiner erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind. Dass es ohne Dumme auf dieser Welt keine Reichen gäbe, hat er indessen sehr wohl gewusst […].
Was von ihrer beider ausgelöschtem Leben bleibt, wird festgehalten in wenigen, aber umso eindringlicheren Bildern. Und schließlich werden wir doch noch einmal Zeuge einer berührenden Geste, eines Aktes des Angedenkens.
Das versöhnt nicht, tröstet aber dennoch.
Bildnachweis:
Beitragsbild: Sascha Kohlmann, Lichtung Lizenz: CC BY-SA 2.0
Flavio Steimann
Krumholz
Roman
Edition Nautilus 2021 · 200 Seiten · 22 Euro
ISBN: 978-3960542476