Geschichten, die wir einmal gelesen haben, setzen sich wie Memes im Bewusstsein fest. Sie werden Teil unseres Denkens und Fühlens. Sie transformieren uns. Mit diesem erzählerischen Gepäck gehen wir anders durchs Leben, erkennen Vertrautes und entdecken Verborgenes. Beim Wiederlesen eines Buches stellen wir dann erstaunt fest, dass diese Wandlung auch in die andere Richtung wirkt. Während unserer Abwesenheit hat sich der Text verändert und offenbart uns neue Seiten.

Imaginäre Gefährten

Die Handlung eines Buches mag mit der Zeit verblassen, aber für die erfundenen Figuren bleibt ein geheimnisvolles Gespür zurück. Sie sind „wandelbarer als unsere Freunde aus Fleisch und Blut“, stellt Alberto Manguel fest.

Anstatt sich brav an den Ablauf der Handlung zu halten, ändern sie bei jeder neuen Lektüre ein wenig ihre Gestalt.

In seinem Buch Fabelhafte Wesen macht der passionierte Leser Manguel eine literarische Familienaufstellung und entfaltet ein Panoptikum liebenswerter und monströser Geschöpfe.

Dabei zeigt sich einmal mehr, dass Literatur nicht nur unterhaltsamen Lesestoff und ästhetischen Genuss verschafft. Literatur stellt uns imaginäre Gefährten an die Seite, die uns über Jahre begleiten und bezaubern. Im wahren Leben kann man sich Freunde und Feinde nicht immer aussuchen. Familie schon gar nicht. Anders verhält es sich mit den literarischen Wahlverwandten. Und weil sie nicht gelebt haben, können sie auch nicht sterben.

Alle diese fabelhaften Wesen sind uns bedingungslos treu, unsere vielen Schwächen und Fehler können sie davon nicht abbringen.

Werden Leser:innen gefragt, welche drei Bücher sie auf die sprichwörtliche einsame Insel mitnehmen würden, stammen die genannten Titel in der Regel nicht vom Stapel der ungelesenen Neuerscheinungen. Nach der Schiffskatastrophe oder einer Bruchlandung im Meer möchte man sich jede böse Überraschung ersparen. Zudem gibt es immer ein paar Bücher, die man längst wieder einmal lesen wollte. Das Romanpersonal ist vertraut und man freut sich auf ein Wiedersehen.

Alberto Manguel wünscht sich für die einsamen Tage und Nächte auf der Insel neben Dantes Göttlicher Komödie und Lewis Carrolls Alice-Bände vor allem Walt Whitman als Gefährten. Der Dichter der Grashalme ist zwar keine Romangestalt, aber laut Manguel ein so guter Freund, dass er sich in seiner Robinson-Einsamkeit keinen besseren Freitag vorstellen könne.

Vorbilder und Schattengestalten

In Fabelhafte Wesen widmet sich Manguel ausschliesslich dem Freundeskreis imaginärer Figuren. Zu ihnen setzen wir uns als Leserinnen und Leser in Beziehung. Sie dienen als Spiegel und Projektionsfläche, sind mal Vorbild, mal abschreckendes Beispiel. Oder liegen irgendwo dazwischen. Dabei stürzt sich Manguel in drei Dutzend Porträts keineswegs nur auf die üblichen Verdächtigen, wie der Untertitel seines Essaybandes vermuten lässt. Alice, Robinson, Superman, Hiob, Sindbad und viele weitere Heldinnen und Helden bekommen ihren verdienten Auftritt. Ebenso häufig rücken jedoch Gestalten ins Rampenlicht, die im Abseits stehen oder gleich dem zweiten Brennpunkt der Ellipse ein Nebenzentrum der Erzählung bilden: Evas Vorgängerin Lilith, Monsieur Bovary, Huckleberry Finns Freund Jim, Hamlets Mutter Gertrude, Heidis Grossvater, Holden Caulfields kleine Schwester Phoebe aus dem Fänger im Roggen oder Ismaels tätowierter Freund Queequeg in Moby Dick.

Wie der Titel Fabulous Monsters der englischen Originalausgabe andeutet, gehören zur imaginären Entourage der Weltliteratur nicht nur die Braven, Mutigen und Schönen. Denn was wäre die Weltliteratur ohne Schattengestalten, Schurken und Schimären. In Manguels Streifzügen durch die grossen Stoffe des klassischen und populärkulturellen Kanons müssen wir auf die Gesellschaft dämonischer und missliebiger Erscheinungen nicht verzichten. Dracula, Satan, Quasimodo oder Frankensteins namenloses Monster sind gleichermassen Teil des inneren Teams und dürfen in keiner Familienaufstellung fehlen.

Um dem Insel-Wahnsinn nicht anheim zu fallen, braucht es gar keine physischen Bücher. Es reicht eine Handvoll unvergesslicher Romanfiguren, um uns bei Laune und Verstand zu halten. Das Beglückende an der Literatur, wie Gertrude Stein einmal sagte, besteht darin, dass man alles in sich hat: „Es ist die eine Sache, die man ganz in sich haben kann.“

Bildnachweis:
Beitragsbild: Yogi Purnama via unsplash

Hinweis
Sieglinde Geisel hat mit Alberto Manguel 2021 den Gesprächsband “Ein geträumtes Leben” (Kampa-Verlag) herausgegeben.

Angaben zum Buch

Alberto Manguel
Fabelhafte Wesen
Dracula, Alice, Superman und andere literarische Freunde
Mit Zeichnungen des Autors
Aus dem Englischen von Achim Stanislawski
Diogenes 2022 · 256 Seiten · 25 Euro
ISBN: 9783257072112

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Von Daniel Ammann

Literatur- und Medienwissenschaftler an der Pädagogischen Hochschule Zürich

Ein Kommentar

  1. Vielen Dank für diesen Hinweis – ich werde das Buch unverzüglich bestellen. Übrigens bin ich dank Ihnen überhaupt auf Alberto Manguel aufmerksam geworden, den ich vorher nicht kannte. Danke!
    Herzliche Grüsse von der glücklichen Leserin
    Marianne Wille

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