Die letzten drei sich als links bezeichnenden Menschen, die ich in Deutschland traf, äußerten am Kneipentisch derart abstruse Meinungen, dass ich die Runde bald wieder verließ. Einer von ihnen, ein Deutscher aus Venezuela, war in seiner Jugend in die DDR übergesiedelt, um echten Sozialismus und die deutsche Arbeiterklasse kennen zu lernen. Statt zu studieren, arbeitete er erst einmal ein Jahr lang freiwillig als Bauarbeiter in einer sozialistischen Brigade. Bald musste er schockiert feststellen, dass die Bauarbeiter das Wort Sozialismus nicht hören wollten, es löste Schreikrämpfe und Hohngelächter aus, gefolgt von sexistischen Flüchen. Also studierte er Philosophie und errang den Titel eines Doktors.

Der Informierte

In unserem Gespräch meinte er, an der Inflation und dem Bürgerkrieg in seinem Heimatland Venezuela seien die USA schuld. Die USA wollten das dortige sozialistische Experiment scheitern lassen. Meinen Einwand, dass es möglicherweise auch Gründe gebe, die in Venezuela zu suchen seien, verwarf er kategorisch. Das Reich des Bösen sind die USA, und basta!

Ich wagte einen zweiten Einwand und fragte, ob es nicht immer schwerer werde, solche komplexen Vorgänge wie Staatskrisen zu beurteilen, im Zuge der Globalisierung, der Digitalisierung etc. Nein, meinte er, es werde immer einfacher, globale Entwicklungen zu beurteilen, weil man sich im Internet informieren könne.

Der Rebell

Sein Freund und Kollege, ein treuer Wähler der Partei Die Linke, wollte diese Aussage offenbar beweisen und behauptete, „das deutsche Volk soll ausgetauscht werden“. Das sei ein alter transatlantischer Plan, der jetzt verwirklicht werde. Den Grund für das angebliche Austauschprogramm glaubte er auch zu kennen – „die Afrikaner und Araber sind fügsamer als die Deutschen, nicht so rebellisch, dankbarer für den Wohlstand“. Er selbst war vor mehr als dreißig Jahren ein einziges Mal im Ausland gewesen, zu einer Bergwanderung in der Hohen Tatra, eine Fremdsprache beherrscht er nicht.

Ich fragte ihn, wohin denn das deutsche Volk getauscht werden solle, ob nach Madagaskar, wie es Hitler kurzzeitig mit den Juden geplant habe. Man darf ja gar nichts mehr sagen, ohne als Nazi bezeichnet zu werden, antwortete er. Er lasse sich das Reden nicht verbieten. Ich sah mich gezwungen, ihn darauf hinzuweisen, dass ich ihm nichts verboten, sondern nur sarkastisch widersprochen hatte.

Die Aktivistin

An unserem Tisch saß außerdem eine Frau, die sich als Aktivistin in einer basis-ökologischen Partei engagiert und die auf Facebook öffentlich geäußert hatte, sie hoffe auf einen Wahlsieg von Donald Trump, denn Hillary Clinton sei „ein kriegslüsternes Weib“. Außerdem wolle Trump das transatlantische Handelsabkommen TTIP nicht unterschreiben, das freue sie, denn sie habe oft an Demonstrationen gegen dieses Abkommen teilgenommen.

Wenige Tage nach unserem Treffen verbreitete sie auf Facebook einen Beitrag eines arabischen Senders, in dem ein US-Amerikaner behauptete, an den Kriegen im Nahen Osten sei das jüdische Finanzkapital schuld. Auf meinen Vorwurf, dieser Beitrag sei purer Antisemitismus, lautete ihre Antwort, sie habe den Beitrag ja nicht kommentiert, nur weiterverbreitet. Daraufhin entfreundete ich sie.

Das Elend der deutschen Linken

In Deutschland sind alle mir bekannten linken Kräfte und Parteien, mit Ausnahme der Grünen, in einer grotesken Weise unglaubwürdig. Der „linke“ Flügel der SPD möchte in der Außenpolitik am liebsten eine freundschaftliche und partnerschaftliche Beziehung zu dem Mafia-Staat Russland aufbauen. Die „Osterweiterung“ der NATO, die in der Amtszeit des heutigen Russlandfreundes und SPD-Alt-Kanzlers Schröder durchgeführt wurde, wird abgelehnt. Man vertritt die Breschnew-Doktrin von der begrenzten Souveränität osteuropäischer Staaten.

In der Sozialpolitik hat die SPD mit den HARTZ-IV-Gesetzen für viele Menschen erniedrigende und beschämende Regeln durchgesetzt, außerdem elementare rechtsstaatliche Prinzipien, etwa die Unschuldsvermutung, außer Kraft gesetzt. Gleichzeitig hat die SPD das Rentensystem so reformiert, dass künftig viele eine Rente unterhalb des Existenzminimums erhalten werden. Dass zahlreiche Menschen jetzt aus Wut lieber die AfD wählen, ist nicht erstaunlich. Zwar war die SPD nicht allein verantwortlich für diese beiden Reformen, aber im Auftrag der SPD wurden sie verfasst und beschlossen.

Die Partei Die Linke war wohl noch nie links im Sinne des Fortschritts. Sie hat die therapeutische Aufgabe übernommen, nach dem Fall der Mauer enttäuschte aufrechte Kommunisten zu trösten. Die Anerkennung der im Namen ihrer Ideen begangenen Verbrechen und Morde (50 Millionen!) hat nicht etwa dazu geführt, ihre Moskau-Hörigkeit zu beenden, lieber denunzieren sie die ukrainische Arbeiterklasse als nationalistisch, weil die Maidan-Revolution ja „sogar gegen ukrainische Gesetze verstoßen“ habe, so Gregor Gysi im Bundestag.

So viel Zukunft war nie

Bündnis 90/Die Grünen erreichen in neuesten Umfragen 12,3 Prozent der abgegebenen Stimmen, vertreten also, wenn man die Nicht-Wähler dazurechnet, maximal acht Prozent der Wahlberechtigten. Diese Partei hat neben der CDU sicherlich das Potential, weiterhin die Vernunft als Richtschnur politischen Handelns zu nutzen, sich für Freiheit und Menschenrechte einzusetzen, autoritären und repressiven Gelüsten zu widerstehen, mit den Möglichkeiten der Zukunft in einer verspielten Weise zu experimentieren.

Welche „linke“ oder „liberale“ Utopie könnte Strahlkraft entfalten und Mehrheiten begeistern? Soll es ein Kommunismus im neuen Gewand werden, Grundeinkommen weltweit für alle?

Aber der Kapitalismus vermehrt ja schon ständig den Wohlstand und verschafft immer mehr Menschen immer mehr Möglichkeiten, schafft immer mehr Märkte. Heutzutage kann man Klingeltöne verkaufen und kaufen, oder die Gesänge der Wale. Immer weniger Menschen werden Opfer in Kriegen oder von Gewaltverbrechen. So viel Zukunft war nie.

* * *

Deutschland von außen betrachtet

Vor einigen Jahren traf ich an der Wolga einen Mann, der in seiner Jugend vierzig Liter Blut gespendet hatte, um auf dem Schwarzmarkt Schallplatten mit westlicher Rock ‘n’ Roll-Musik zu kaufen zu können. Mir erklärte er, warum ich ein naiver und dummer Westler sei. Mein Fehler: Mir gefiel es in Russland. Ich mochte den operettenhaften Charme spontaner Feiern, die vielen Absurditäten, aber ich musste dort ja nicht leben, sondern war freiwillig da und konnte jederzeit wieder ausreisen.

Der alte Rock ‘n’ Roller hatte in seinem Leben alle möglichen Drogen konsumiert, harte und weiche. Als junger Mann hatte er auf Inseln in der Wolga Partys mit mehreren hundert Jugendlichen organisiert, natürlich ohne Genehmigung von Komsomol oder KGB. Mich lachte er aus, weil ich nie ein Buch vom „Drogenkönig und Hellseher“ Castañeda gelesen hatte. Unter einem Putin-Bild bekreuzigte er sich und murmelte „unser lieber Pate“. Russland nannte er Dummkopf-Land, das von Deutschen regiert werden müsse. Die Russen könnten nicht effizient handeln. „Die Menschheit entwickelt sich rückwärts. Nach dem Christentum kam der Kommunismus, jetzt herrscht der Satanismus.“

Weil er von seiner Rente nicht leben konnte, arbeitete er als Nachtwächter. Nur einmal war er im Ausland gewesen, als Feuerwehrmann im Sechs-Tage-Krieg zwischen Israel und Ägypten.

Schafft die Demokratie sich ab?

Aber vielleicht hatte der Mann von der Wolga recht und die „Kräfte des Bösen“ werden gewinnen, die Demokratie wird sich selbst abschaffen, die Freiheit wird in Zukunft von Gesichtserkennungs-Software verwaltet werden? Oder man denke an Wladimir Putins kryptische Worte: „Wenn jemand Russland droht, dann wird die Antwort für die ganze Menschheit schrecklich sein, denn wozu braucht man die Welt ohne Russland?“

Als mein Freund Oskar aus der ukrainischen Stadt Poltawa zum ersten Mal nach Deutschland reiste, glaubte, er werde dort glückliche oder mindestens zufriedene Menschen treffen. In seiner Vorstellung ist Deutschland ein soziales Paradies mit einem fantastischen Gesundheitswesen, staunenswerter Technik und Infrastruktur, Sicherheit vor willkürlicher Verhaftung, ehrlicher Polizei, freier Presse, vielen individuelle Freiheiten.

Fast alle Deutschen aber, mit denen Oskar redete, schimpften über ihr angeblich so schreckliches System.

Einer von ihnen hatte seit vielen Jahren Depressionen, weil er Drogen konsumiert und weil er schon lange keine Freundin gehabt hatte. Das System bezahlte ihm die Wohnung und verschaffte ihm Arbeit in einer Frauenbrigade, in einer Wäscherei, wo er seine Arbeitszeit frei wählen durfte. Außerdem half ihm ein Therapeut, und ein Betreuer unterstützte ihn bei der Erfüllung bürokratischer Pflichten gegenüber den Ämtern. In seiner Freizeit schrieb er Rap-Songs, natürlich getrieben vom Hass auf diese schreckliche Gesellschaft, wie er Oskar erklärte.

Auch im Paradies muss offenbar große Verzweiflung herrschen.


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Beitragsbild: [Public domain], via Wikimedia Commons
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Von Christoph Brumme

Christoph Brumme, geb. 1962 in Wernigerode (DDR), verfasst Romane und Reportagen u.a. über seine Fahrradreisen von Berlin an die Wolga und zurück. Seit dem Frühjahr 2016 lebt er in der ostukrainischen Stadt Poltawa.

2 Kommentare

  1. Im April kaum im Zeit-Magazin ein interessantes Interview mit dem SPD-Jungspund Kevin Kühnert. Das ist für mich ein Lichtblick (nebst Robert Habeck von den Grünen): https://www.zeit.de/zeit-magazin/2018/16/kevin-kuehnert-spd-jusos-99-fragen

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  2. Die Linke – als summarischer Begriff gemeint, nicht als Bezeichnung für die Partei – benötigt dringend ein mehrheitsfähiges Agendathema. Die oben geschilderten Wirrköpfe, von denen es links nur so wimmelt, werden das nicht liefern können. Und auch Veggiedays, Gendersuffixe in amtlichen Schreiben oder dritte Klotüren taugen dafür nicht.

    Ein rationaler Umgang mit den beiden Zukunftsthemen, die auch noch eng zusammen gehören – nämlich Klimawandel und Migration – wären mein Vorschlag. Für Lösungen jenseits der problemverschleppenden Frontexlogik sollten langfristig Mehrheiten möglich sein. Aber ob das mit den linken Bewegungen so immanenten Wirrköpfen möglich ist? Fraglich…

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