In unseren Lektüretipps weisen wir auf Bücher hin, die uns begeistert, erschüttert, erheitert haben: Klassiker, Entdeckungen, Kuriositäten.

cocer

Es ist ein Buch, das ich jedes Jahr aufs Neue lesen möchte – so reich an Witz. Und es ist mit großer Liebe geschrieben. Dabei handelt es sich bloß um eine Autobahnfahrt von Paris nach Marseille. Allerdings in einem alten VW-Bus. Ein ethnologisch-surreales Experiment, das sich als wissenschaftliche Beobachtung tarnt. Diese Reise unterliegt Regeln, und die gehen so:

1. Die Strecke Paris–Marseille zurücklegen, ohne ein einziges Mal die Autobahn zu verlassen.

2. Alle Rastplätze erforschen, und zwar jeweils zwei pro Tag, wobei auf dem zweiten immer und ohne Ausnahme die Nacht zu verbringen ist.

3. Auf jedem Rastplatz wissenschaftliche Erhebungen durchführen und die entsprechenden Beobachtungen aufzeichnen.

4. In Anlehnung an die Reiseberichte der großen Forscher der Vergangenheit ein Buch über die Expedition schreiben.

Das klingt langweilig, und das ist es auch. Aber aus der vermeintlichen Öde schlägt der Reisebericht Funken, denn die protokollarische Exaktheit ist absurd:

7.30 h. Schöner Morgen, 19 °C.
Frühstück: Orangensaft, Madeleines, Kaffee.
8.59 h. Sabotage? Der Rastplatz von FLEURY ist geschlossen. Gezwungen bis zum nächsten weiterzufahren.

p1140080

Unterbrochen werden die Tagesprotokolle von ethnologischen Berichten:

… die fortschreitende Veränderung des gewohnten Begriffs der Autobahn, die Ablösung ihrer faden und fast abstrakten Funktionalität durch ein Erscheinungsbild voller Leben und Reichtum: die Leute, die Haltepausen, die Episoden auf ihren mehr oder minder bewaldeten Bühnen, aufeinanderfolgende Akte eines Theaterstücks, das uns in seinen Bann zieht und dessen einzige Zuschauer wir sind.

Diese literarische Reise von Julio Cortázar und seiner Lebensgefährtin Carol Dunlop zeigt, wie man unseren Alltagsmythen mit Phantasie zu Leibe rückt. Aber wie alle schönen Dinge im Leben, die mit Liebe getan werden, verfliegt die Zeit viel zu schnell:

Wie könnte ich Bärchens Satz vergessen: „Oh, Julio, wie kurz war doch die Reise …“ Wie könnte ich vergessen, daß uns in dem Augenblick, als wir das Schild lasen, auf dem das Ende der Autobahn angekündigt wurde, eine Beklommenheit erfüllte, deren wir nur durch beharrliches Schweigen Herr werden konnten, bis wir in den Lärm von Marseille eintauchten.

Allerdings endet dieser Bericht nicht nur deshalb mit einem Hauch Melancholie, weil jede Reise sich einmal ihrem Ende neigt, sondern Carol Dunlop starb, kurz bevor das Buch fertig wurde. Es ist eine Liebeserklärung ans Leben und an einen geliebten Menschen.

… daß ich dieses Buch allein zu Ende bringe. Ich weiß wohl Bärchen, daß du dasselbe getan hättest, wenn ich vor Dir hätte gehen müssen, und daß deine Hand zusammen mit meiner diese letzten Worte schreibt, in denen der Schmerz nicht stärker ist, noch jemals sein wird als das Leben, das du mich gelehrt hast, wie wir es vielleicht bei diesem Abenteuer zeigen konnten, das hier sein Ende findet, aber dennoch weitergeht, in unserem Drachen weitergeht, für immer auf unserer Autobahn weitergeht.

Angaben zum Buch
Julio Cortázar, Carol Dunlop
Die Autonauten auf der Kosmobahn
Eine zeitlose Reise Paris – Marseille
Aus dem Spanischen übersetzt von Wilfried Böhringer
Suhrkamp Verlag 2014 · 358 Seiten · 22,95 Euro
ISBN: 978-3-518-22481-6
Bei Amazon oder buecher.de
Bildnachweis:
Beitragsbild © Lars Hartmann
Buchcover: Suhrkamp
Teilen über:

Von Lars Hartmann

Bloggt auf Aisthesis, freier Autor beim Freitag

3 Kommentare

  1. Es ist mir stets eine große Freude, wenn mein Lieblingsautor gewürdigt wird. Danke!
    Cronopium.

    Antworten

  2. Lars Hartmann 28. Oktober 2016 um 8:45

    Gerne geschehen. Sie kennen sicherlich auch die Erzählung „Der Teufelsgeifer“, die als Grundlage für Antonionis „Blow Up“ diente. Eine schöne Geschichte über Fiktion und Realität sowie die Möglichkeiten der Photographie im Zusammenspiel mit dem Erzählen.

    Antworten

  3. Gewiss. Ein interessantes Beispiel für die Inspiration eines Künstlers durch einen anderen, für das der konventionelle Begriff „Verfilmung“ nicht recht passt. Entsprechend der Einfluss von Cortázars Erzählung „Südliche Autobahn“ auf die berühmte Stauszene in Jean-Luc Godards „Weekend“.

    Antworten

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert