Ich ist ein anderer. Das habe nicht ICH gesagt, sondern Arthur Rimbaud. Aber ich sage das auch: Ich ist ein anderer, und ich habe mich gerade getrennt. “Die Augenhöhe in unserer Beziehung ist uns abhandengekommen”, habe ich gesagt. Er war nicht ehrgeizig, ich dagegen sehr. Er lebt prekär, ich verdiene mehr. Wenn ich das hier so aufschreibe, dann reimt sich das sogar, im praktischen Beziehungsleben indes standen wir ziemlich unverbunden da und waren wenig harmonisch.
Jetzt lese ich Kontaktanzeigen und suche einen neuen Partner – auf Augenhöhe.
Ich lese:
Er sucht Augenhöhe, das suche ich auch, und schon das ist ja Augenhöhe. Ich schaue näher hin. Er ist 1,90 Meter groß. Schau mir in die Augen, Kleines. Muss mich gewaltig strecken. Oder er muss sich hinlegen wie Gulliver, damit ich mich wie ein Liliputaner mit ihm auf Augenhöhe bringen kann. Ist das dann noch Augenhöhe?
Er ist führungsgewohnt, in leitender Stellung. Auch in seiner Kontaktanzeige tritt er wie ein Personalchef auf. Er sagt an, was für Hobbys sie “gern” mit ihm teilen soll. Was ist, wenn sie gern liest, aber allein, und was, wenn sie nicht gern kocht? Es ist paradox: Sucht er Augenhöhe, müsste auch sie in leitender Stellung sein. Und wäre sie es, dann würde wohl auch sie eine Anzeige schalten, in der sie definiert, welche Hobbys er „gern“ mit ihr teilen soll.
Ich könnte antworten:
Vielen Dank für Ihren Mut, in der Kontaktanzeige Ihren Beziehungsstatus zu offenbaren. Sie machen Ihre Suche nach einer neuen Beziehung transparent und offenbaren sich mit Ihrem Mangel. Menschen, die ihre Bedürfnisse wahrnehmen, sie verbalisieren und verantwortungsvoll für die Erfüllung derselben Sorge tragen, sind in der Regel sympathische, proaktive und zuverlässige Zeitgenossen. Solche Menschen kommen sich selbst auf die Spur, weil sie diese Spur durchweg selbst auslegen. Ihr Leben hat einen roten Faden, weil sie sich ihren Weg mit roter Farbe vorzeichnen.
Das mit der leitenden Funktion könnte ich mit etwas Mühe noch hinbekommen. Doch wenn ich auf Augenhöhe poche, müssen Sie in die Knie gehen. Und unsere roten Fäden würden sich kreuzen, aber wohl nicht zur Deckung bringen lassen.
Augenhöhe – ein Modewort aus der Kinderbuch-Branche: Bücher für Kinder sollen sich auf Augenhöhe mit ihren Lesern befinden. Aber unter Erwachsenen? Sieht sich, wer hier Augenhöhe fordert, nicht selbst schon in der höheren Position?
Augenhöhe als Beuteschema
Suche ich Augenhöhe, dann übersehe ich all die, die vermeintlich unter mir stehen. Gleichzeitig verpasse ich aber auch die, zu denen ich aufschauen könnte. Die Idee der Augenhöhe scheint mir als Beuteschema immer absurder. Denn ebenso gut könnte ich sagen: Ich liebe nur, was ich schon kenne. Me, myself and I. Ich suche die Liebe zu mir.
“Was tun Sie”, wurde Herr K. gefragt, “wenn Sie einen Menschen lieben?” “Ich mache einen Entwurf von ihm”, sagte Herr K., “und sorge dafür, daß er ihm ähnlich wird.” “Wer? Der Entwurf?” “Nein”, sagte Herr K., “der Mensch.”
So beschreibt Bertolt Brecht in seiner Parabel “Wenn Herr K. einen Menschen liebte” die Suche nach Augenhöhe. Für Brecht ist klar: Ideologie first – jemand, der liebt, weiß genau, was er liebt, und formt nach seinen Vorstellungen den oder die Geliebte. Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt.
Genau das macht aber auch das Gegenüber. Und damit können zwei Menschen, die jeweils beide Führung und Prägung beanspruchen, nicht zusammen kommen.
Anders gesagt: Ein Augenhöhen-Romeo würde sich nicht auf Julia einlassen, er würde gleich einen oder eine Montague suchen, jemanden, der so ist, wie er selbst.
In der Schwebe des Lebendigen
Max Frisch schreibt 1946 in seinem Tagebuch:
Du sollst dir kein Bildnis machen. Wir wissen, daß jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und daß auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, daß wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertig werden: weil wir sie lieben; solange wir sie lieben.
Max Frisch fällt auf, dass wir gerade von dem Menschen, den wir am meisten lieben, am wenigsten aussagen können, wer er ist.
Eben darin besteht die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, daß sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen.
Wo die Liebe hinfällt, da fällt sie eben hin. „Sie ist, was sie ist“, sagt Erich Fried. Und in dieser Unvergleichbarkeit entzieht sie sich der Ambition. “Liebe macht blind”, so geht das Sprichwort, oder eben „wo die Liebe hinfällt“. Eine Prüfung auf Augenhöhe ist nicht vorgesehen.
In meinem Leben fällt die Liebe hin und steht nach dem Fall wieder auf und weiß dennoch beim nächsten Mal nicht, wie sie sich vor dem Fallen wieder schützen soll. Für mich ist die Suche nach Augenhöhe als Selbstschutz vor dem Fall dennoch überreguliert und übergenau. Ich fahre offensichtlich ab aufs Abfahren. Liebe ist wie eine Zufallsbekanntschaft im Zug, nicht wirklich planbar.
Die Zufälligkeit der Liebe
Die Geschichten darüber, wie man sich kennen gelernt hat, gehören zum Gründungsmythos jeder längeren Beziehung. In der Zufälligkeit steckt die Sprengkraft der Liebe, sie ist unerbittlich pünktlich wie Geburt, Tod und der Zufall selbst.
Bei Max Frisch heißt es:
Warum reisen wir? Damit wir Menschen begegnen, die nicht meinen, daß sie uns kennen ein für allemal. Unsere Meinung, daß wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe, – nicht, weil wir das andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, darum ist der Mensch fertig für uns.“
Trennen wir uns, dann kündigen wir dem Partner „die Bereitschaft, auf weitere Veränderungen einzugehen“, sagt Frisch.
Augenhöhe will ich nicht mehr. In meiner Kontaktanzeige schreibe ich jetzt: Zufall gesucht, männlich.
Und vielleicht lasse ich männlich auch noch weg.