Schwerpunkt Christa Wolf

Im Jahr 2021 erschien im Suhrkamp Verlag die dreibändige Sammlung Sämtliche Essays und Reden von Christa Wolf. Wir fragten uns bei tell, was Christa Wolf für uns heute bedeutet, und wir stellten fest, dass wir ganz unterschiedliche Beziehungen zu ihrem Werk haben.
Um dem nachzugehen, haben wir in der Essay-Sammlung geblättert und Texte herausgesucht, die zu uns sprechen.

  • (Auftakt) Eine Soap Opera der DDR-Literatur. Herwig Finkeldeys Rezension von Clemens Meyers “Über Christa Wolf”
  • 1) Wozu schreiben? Literatur als Utopie oder Heilmittel. Agnese Franceschini vergleicht zwei Essays von 1965 und 2006
  • 2) Die Sprache der Fragilen. Hartmut Finkeldey über Was bleibt (1990) und die Rede auf dem 11. Plenum (1965)
  • 3) Von der Naivität und ihrem Verlust. Sieglinde Geisel über den Essay “Über Sinn und Unsinn von Naivität”

Christa Wolf dachte als Schriftstellerin immer auch über den Sinn des Schreibens nach. Die Sammlung Sämtliche Essays und Reden umfasst den Zeitraum von 1961 bis 2010, also fast ein halbes Jahrhundert. Das ermöglicht es, dieses Nachdenken und die Entwicklung von Christa Wolf als Schriftstellerin zu verfolgen.

Schreiben im Sozialismus

Unter diesem Gesichtspunkt ist der Essay „Einiges über meine Arbeit als Schriftsteller“ von 1965 von Bedeutung. Christa Wolf ist 36 Jahre alt, sie hat bereits Moskauer Novelle und Der geteilte Himmel veröffentlicht, und sie hat sich entschieden, Schriftstellerin zu werden. In ihrem Essay, der damals in der Sammlung Junge Schriftsteller der Deutschen Demokratischen Republik in der Selbstdarstellung erschien, rahmt sie ihre Arbeit als Schriftstellerin ein in die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft der DDR.

Unser Weg ins Leben, unsere Suche nach dem uns gemäßen Platz in diesem Leben fiel – eine einmalige Lage! – mit dem Aufstieg der neuen Gesellschaft zusammen, mit ihrer Suche nach Existenzformen, mit ihrem Wachstum, ihren Irrtümern, ihrer Konsolidierung. Seit wir gelernt haben, uns frei und sicher in dieser Gesellschaft zu bewegen, eins mit ihr und zugleich kritisch, wie man sich nur der eigenen Arbeit gegenüber verhalten kann – seitdem sind die Bücher der heute Dreißig-, Fünfunddreißigjährigen lebendiger, wahrhaftiger, wirklichkeitsvoller geworden (auch die Bücher über das Ende des Krieges).

Es ist das Manifest einer Schriftstellerin, die an die neue sozialistische Gesellschaft glaubt. Sie ist zugleich deren Produkt und aktiver Mitspieler. Die neue sozialistische Gesellschaft habe ihr geholfen, sich vom Virus des Nationalsozialismus zu befreien:

Nicht vergessen kann ich, wie man uns, die wir bei Kriegsbeginn zehn Jahre alt waren, falsche Trauer, falsche Liebe falschen Hass einimpfen wollte; wie das fast gelang; welche Anstrengung wir brauchten, uns aus dieser Verstrickung wieder herauszureißen; wieviel Hilfe wir nötig hatten, von wie vielen Menschen, wieviel Nachdenken, wieviel ernste Arbeit, wieviel heiße Debatten. Wie wir uns auch auf die alten Kinderträume wieder besinnen mussten.

Sich schreibend verdoppeln

Neben dem politischen Bekenntnis zu der neuen Gesellschaftsform, die in der DDR mühsam entsteht, verfolgt Christa Wolf mit der Tätigkeit des Schriftstellers einen weiteren, persönlicheren Zweck: Durch die Beobachtung ihrer Tochter erkennt sie das vielleicht ursprünglichste, universellste, zeitloseste Bedürfnis nach Literatur.

[Das kindliche Verlangen,] sich zu verdoppeln, sich ausgedrückt zu sehen, mehrere Leben in dieses eine schachteln, auf mehreren Plätzen der Welt gleichzeitig sein zu können – das ist, glaube ich, einer der mächtigsten und am wenigsten beachteten Antriebe zum Schreiben…

Zwanzig Jahre nach Kriegsende kann sie beginnen, ihren Blick zu erweitern, ohne die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen des Menschen als Proletarier und Arbeiter zu vergessen. In dieser Balance zwischen dem politischen Engagement und ihrer Sehnsucht, sich verwandeln, vervielfältigen zu können, denkt Christa Wolf über ihr Schreiben und ihre Aufgabe als Schriftstellerin nach.

Die DDR scheint ihr dafür ein idealer Ort zu sein:

Das große Thema unserer Zeit ist: Wie aus der alten eine neue Welt aufsteigt. Das kann kaum irgendwo deutlicher, erstaunlicher, schärfer und konfliktreicher vor sich gehen als in unserem Land. Als Schriftsteller muß man es „nur“ sehen.

Literatur als Heilmittel

So Christa Wolfs Standortbestimmung im Jahr 1965. Vierzig Jahre später ist von der Aufbruchstimmung nichts mehr übrig. Im Vorwort zu der 2006 erschienenen Sammlung Der Worte Adernetz denkt Wolf noch einmal über die Rolle der Literatur nach. Sie berichtet von einem gemeinsamen Abend mit jungen Umweltaktivisten und Freunden verschiedener Altersgruppen und Berufe. Das Ergebnis ist eine kollektive Reflexion über die Bedeutung von Literatur in einer Zeit, in der der Hass zurückkehrt auf alles, was fremd ist und deswegen als Bedrohung empfunden wird.

Als Gegenmittel gegen irrationalen Wahn, die ich am eigenen Leib erprobt habe, fallen mir ein: Namen von Schriftstellern, Titel von Büchern, Schicksale von literarischen Gestalten.

Literatur als Heilmittel also. Aber ohne die Aussicht auf eine neue Gesellschaft scheint Christa Wolf, dass sie als Schriftstellerin mit politischem Bewusstsein keine Heimat mehr hat:

Ich merke, wie das Gefühl mich wieder überkommt, einer überholten, aussterbenden Art anzugehören, deren Erfahrungen nicht mehr gebraucht werden. Aus drei Gesellschaftsordnungen könnte ich Erinnerungen beisteuern, Erinnerungen an normales Leben, an Abwege, Irrtümer, Konflikte, Glücksmomente und Verzweiflungen, an Zusammenbrüche, Einsichten, Lernprozesse, an beharrliche Hoffnungen, an anstrengende und lustvolle Bemühungen um Veränderung.

Im Jahr 2006 ist Christa Wolfs Perspektive als Schriftstellerin eine andere als 1965. Die Utopie einer neuen Gesellschaft ist verschwunden, hinweggeschwemmt von den Widersprüchen eines Sozialismus, der sich selbst enteignet hatte. Aber auch das kindliche Bedürfnis, unterschiedliche Existenzen und unterschiedliche Realitäten zu leben, sich in der Welt der Literatur zu verdoppeln, als wäre es die fantastische Welt der Träume eines Kindes – selbst diese Utopie scheint verloren gegangen zu sein.

Die Zukunft wird nicht besser sein, aber am Ende eines Abends mit Freunden findet die Autorin Trost.

Kugeln weichen nicht, nicht vor Glasfenstern, nicht vor Menschen, wir erleben es jeden Tag. Aber ein Abend wie dieser erneuert, woran ich festhalten will: den Glauben an Irdisches.

Der Glaube an Irdisches, das ist der Glaube an das Immanente, der Glaube an Menschen, die immer noch versuchen, die Welt zu verbessern und die dazu auch die Literatur brauchen.

Gibt es ein besseres Omen und eine bessere Aufgabe für die Literatur?

Bildnachweis:
Beitragsbild: Helga Paris, Christa Wolf 1974
Angaben zum Buch

Christa Wolf
Sämtliche Essays und Reden
Band 1: Lesen und Schreiben (1961-1980)
– Band 2: Wider den Schlaf der Vernunft (1981-1990)
Band 3: Nachdenken über den blinden Fleck (1991-2010)
Herausgegeben von Sonja Hilzinger
Suhrkamp Taschenbuch 2021 · 1 800 Seiten · 36 Euro
ISBN: 978-3518471609

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Von Agnese Franceschini

Deutsch-italienische Journalistin und Autorin, u.a. für den WDR.

Ein Kommentar

  1. Klasse, dass hier Werke von Wolf untersucht werden. Ich bewundere Wolf, dass sie es schaffte, in der DDR künstlerisch tätig zu sein. In den hier zitierten Ausschnitten schwingt für mich das Pathos der DDR mit, mit dem die DDR glaubwürdiger zu sein meinte als ihr profitgetriebene West-Rivale BRD. Wolfs Generation erlebte den Krieg als Kind und wurde durch Hager bevormundet, der moralische Autorität beanspruchte mit dem Argument, er habe im Krieg als Kommunist mit der Waffe gekämpft. Nach meiner Einschätzung war Wolfs Weg weniger die Auflehnung gegen den Stalin-Anhänger Hager und mehr das Sprechen als Frau – ein Gebiet, von dem Hager ausgeschlossen war. Hier wird berichtet, dass sie sich im Deutschland nach ’89 fehl am Platz fühlte – schade, oder? Geteilter Himmel finde ich einen genialen Einfall für einen Romantitel. Dieser blog verweist auf Essays, 1800 Seiten, viel Stoff. vielen Dank für den Text

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