Schwerpunkt Christa Wolf

Im Jahr 2021 erschien im Suhrkamp Verlag die dreibändige Sammlung Sämtliche Essays und Reden von Christa Wolf. Wir fragten damals bei tell in die Runde, was Christa Wolf für uns heute bedeutet, und wir stellten fest, dass wir ganz unterschiedliche Beziehungen zu ihrem Werk haben.
Um dem nachzugehen, haben wir in der Essay-Sammlung geblättert und Texte herausgesucht, die zu uns sprechen.

  • (Auftakt) Eine Soap Opera der DDR-Literatur. Herwig Finkeldeys Rezension von Clemens Meyers “Über Christa Wolf”
  • 1) Wozu schreiben? Literatur als Utopie oder Heilmittel. Agnese Franceschini vergleicht zwei Essays von 1965 und 2006
  • 2) Die Sprache der Fragilen. Hartmut Finkeldey über Was bleibt (1990) und die Rede auf dem 11. Plenum (1965)
  • 3) Von der Naivität und ihrem Verlust. Sieglinde Geisel über den Essay “Über Sinn und Unsinn von Naivität”

Vielleicht habe ich gewisse Vorteile bei dieser kleinen Umfrage: Ich bin weder Christa-Wolf-Bewunderer noch Wolf-Verächter; ganz abgesehen davon, dass ich ihr Werk nur zu Teilen kenne. Peter Rühmkorfs maliziöser Spott war mir immer etwas too much, die Wolf-Anbeterei ging mir indessen auch auf die Nerven. Interessanterweise war ich von Was bleibt am stärksten beeindruckt – in meinen Augen zusammen mit Katz und Maus und Die verlorene Ehre der Katharina Blum die stärkste Novelle der nunmehr historisch gewordenen deutschdeutschen Nachkriegsliteratur.

Staatsdichterin oder Widerständlerin?

Ich erinnere mich noch gut an die wilde Debatte damals, als Was bleibt 1990 erschien (eine erste Fassung hatte Christa Wolf bereits 1979 geschrieben). Die Novelle schildert einen Tag im Leben einer offenbar arrivierten Schriftstellerin – enge autobiografische Bezüge dürfen vermutet werden –, die ganz offen von der Staatssicherheit observiert wird. In Monologen schildert Wolf die Verunsicherungen, die dadurch bei der Protagonistin erzeugt werden: Schlaflosigkeit; bevor man in der eigenen Wohnung ein offenes Wort wagt, muss der Telefonstecker gezogen werden.

Abends kommt es zur ‚unerhörten Begebenheit‘ der klassischen Novelle: Eine Lesung im Kulturzentrum, bei der, obwohl die Staatssicherheit viele Karten aufgekauft und die eigenen Leute platziert hat, kritische Fragen aufkommen. Eine junge Frau, ein junger Mann opponieren. Die junge Frau bringt „das Wort ‚Zukunft‘ ins Spiel“ und will wissen, „auf welche Weise aus dieser Gegenwart für uns und unsere Kinder eine lebbare Zukunft erwachsen soll“. Zugleich hat es vor dem Kulturzentrum eine Rangelei der Abgewiesenen mit der Volkspolizei gegeben. Die offizielle Version – die jugendlichen Fans der Schriftstellerin hätten provoziert – erweist sich als offenkundig falsch.

Die angebliche „Staatsdichterin“, so der damalige Vorwurf, inszeniere sich mit dieser Novelle post hoc zur Widerständlerin. 1979 wäre die Publikation eine mutige Tat gewesen, sie erst 1990 zu veröffentlichen, sei nachgeholter Heroismus. Der Vorwurf war infam – und enthielt zugleich Einiges an versteckter, böser Wahrheit. Nur war die Wahrheit keine über Christa Wolf, sondern eine über alle Fragilen, die sich mit der Welt einlassen.

Mut oder Schwäche?

Ich will das erklären, indem ich Was bleibt kontrastiere mit einem von Christa Wolfs Essays: ihrem Beitrag zum berüchtigten 11. Plenum. Wolf war von 1963 bis 1967 Kandidatin des ZK der SED – und wurde spätestens ab 1968 massiv von der Staatsicherheit überwacht. Wer sich Christa Wolf mit politisch-moralischen Kriterien nähert, muss beides beachten. Es muss gefragt werden, warum beides so kam, wie es kam und warum die Reihenfolge so war, wie sie war.

In einer ungerechten Kritik, die damals viel Furore machte, sprach Ulrich Greiner von der „flauen Unverbindlichkeits-Melodie“ in Christa Wolfs Sprache. Das war nicht ganz falsch und verfehlte die Wahrheit dennoch deutlich. Wenn Greiner damit meinte, Wolf hätte doch schon 1979 Bescheid gewusst, rennt er offene Türen ein. Denn sie wusste Bescheid. Und wenn er ferner sagen wollte, sie hätte das dann auch damals schon so sagen sollen, so war das unfair: Denn sie hat es gesagt, mehrfach, am deutlichsten, als sie die Protestresolution gegen Biermanns Ausbürgerung unterzeichnete und ihre Unterschrift trotz Druck nicht zurückzog. Für das immer fragile, nie auf den Punkt zu bringende Wolfsche Ich, das Angst hat, in jeder Hinsicht, ist das ein nicht unbeträchtlicher Mut vor Fürstenthronen. Mehr war sozusagen nicht drin, und es wäre unfair, ihr ihre persönlichen Grenzen vorzuwerfen. Im Übrigen war dies bei weitem mehr Mut, als die meisten DDR-Bürger aufbringen konnten oder wollten.

Ist das Schwäche? Den Greinerschen (und übrigens in höflicherer Form auch Grass‘schen!) Vorwurf eines gewissen Dranges, es allen recht zu machen, nimmt Wolf regelrecht vorweg: “Mein beschämendes Bedürfnis, mich mit allen Arten von Leuten gut zu stellen. (…) Mit simplen Selbstbezichtigungen würde ich diesmal nicht davonkommen”, heißt es in Was bleibt. Immer wieder beschwört sie die „neue Sprache“, die irgendwann kommen werde und in der sie mit den Härten zurande kommen würde, an denen die Ich-Erzählerin zu zerbrechen droht.

Opposition auf dem 11. Plenum des Zentralkomitees

Aber Christa Wolf bleibt in ihrer ureigenen Sprache, es ist die Sprache der Fragilen, der “Kranken“. Krankheit spielt eine wesentliche Rolle in Christa Wolfs Werk. Wer kann aus seiner Sprache aussteigen? Und wenn: Wäre das so erstrebenswert? Und hat die Autorin die Festigkeit – das Gegenteil von weich sei nicht hart, sondern fest, so lesen wir – nicht längst gefunden? Über einen jungen Kollegen, der ihr immer Gedichte zusteckt, schreibt sie: Seine Tür würde die Stasi, im Gegensatz zu ihrer Tür, einfach eintreten. Was ist daran flau? Und die Lesung abends im Klubhaus, Polizeiaktion inklusive: Ist es zu unverbindlich, angesichts der Geheimpolizei sotto voce „Das ist nicht wahr“ zu sagen, wenn gelogen wird? Am absurdesten war der Vorwurf, Wolf würde ihre Kritik nicht konkret an jemanden adressieren. Jeder Trottel wusste, wen und was sie meint.

Auf dem berüchtigten 11. Plenum, dem Kahlschlagplenum 1965, hielt Christa Wolf ein Referat. Es schmerzt heute noch, dieses Referat zu lesen. Sie stammelt. Sie stottert. Beständig flicht sie (erkennbar überredet sie sich wider besseres Wissen dazu!) einen peinlichen „Halten zu Gnaden!“-Disclaimer nach dem anderen ein. Etwa: „Ich bin der Ansicht, daß die sozialistische Gesellschaft nicht nur die Gesellschaft an sich weiter entwickelt, sondern die einzige Gesellschaft ist, die der Literatur eine wirklich freie Entwicklung ermöglicht.“

Aber sie ist die Einzige, die überhaupt noch protestiert, überhaupt noch opponiert. Die Einzige, die literarisch komplexere Formen gegen den sozialistischen Holzschnittrealismus des ‚Genossen Dumm-Dumm‘ verteidigt – Fortschritte der Ästhetik dürften nicht wieder verloren gehen –, immer wieder unterbrochen von Zwischenrufen, u. a. von Margot Honecker. Wie verbrämt sie es auch immer tut – sie kritisiert, und zwar als Einzige. Wolf hatte damals übrigens zwei Töchter im Alter von 10 und 13 Jahren, und Kinder zu haben, hieß, erpressbar zu sein. Und natürlich wusste Wolf, so wie alle, dass die SED im Fall der Fälle auch robuster vorzugehen bereit war. Übrigens, ganz en passant: War und ist es so DDR-spezifisch, Fragwürdiges ‚mitzukaufen‘, wenn man sich – für was auch immer – entschieden hat? Was Christen, Konservative, Nietzsche-Jünger so alles mitkaufen…

Protestantische Überfairness

Ist es denn gewagt, Wolfs großartige Novelle als Novelle einer Selbstkritik zu lesen – über eine „Hoffnung (…), der auch ich einst angehangen habe“? Der sie angehangen hat, zu der sie sich überreden musste – nicht obwohl, sondern weil sie fragil war? Und das heißt ja oder könnte heißen: Weil sie überfair war? Wolf, das wird man so sagen dürfen, war eine protestantische Schriftstellerin par excellence, moralische Kategorien spielten eine wichtige Rolle für sie. Und wie es sich für eine Protestantin sozusagen gehört, rang sie mit ihrem Gott. Zugleich aber, sonst wäre sie die Künstlerin nicht gewesen, die sie nachweisbar war, war sie mit Fragilität, mit Offenheit ausgestattet und wusste um die Grenzen eindeutiger Moral. Jeder Moral, auch der sozialistischen.

Fragilität meets Protestantismus – und was immer man von dieser Mischung halten mag: Am Ende stand bei Wolf dann jene protestantische Überfairness, die ihr eine etwas zu ungerechte Kritik als kalkulierten Schutzmechanismus auslegte. Gegen diesen Vorwurf nehme ich Christa Wolf in Schutz.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Helga Paris. Christa Wolf, Woserin am See (1990)
Angaben zum Buch

Christa Wolf
Sämtliche Essays und Reden
Band 1: Lesen und Schreiben (1961-1980)
– Band 2: Wider den Schlaf der Vernunft (1981-1990)
Band 3: Nachdenken über den blinden Fleck (1991-2010)
Herausgegeben von Sonja Hilzinger
Suhrkamp Taschenbuch 2021 · 1 800 Seiten · 36 Euro
ISBN: 978-3518471609

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Von Hartmut Finkeldey

Jobber, Autor, Kolumnist

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