Die Rosen und der Krieg

Ein Weihnachtstipp von Sieglinde Geisel

… auch wenn die Dinge zugrunde gingen, auch wenn sie zerstört wurden, wir lebten weiter, man konnte nicht nicht weiterleben, und da lebten wir eben, wie es ging, wir passten uns der Situation an, und das ist eine Regel, die immer gilt, denn was lebt, lebt immer so, wie es kann.

Zoltán Danyis Rosenroman ist vom ersten bis zum letzten Satz ein existenzieller Text. Wir sind 440 Seiten lang im Bewusstsein eines Rosenzüchters; er wurde von seinem Vater aus dem Jugoslawien-Krieg herausgekauft, doch er ist von diesem Krieg ebenso traumatisiert, als wenn er in ihm gekämpft hätte.

Dass man mit Lesen nicht mehr aufhören kann, liegt an der Musik dieser von Terézia Mora brillant übersetzten Prosa. Der Roman entwickelt sich aus der Sprache selbst, und er dringt dabei immer tiefer in das Wesen der Rosen ein: in ihre Kolonisierung durch die Rosenzucht, in welcher der serbisch-ungarische Autor eine Verwandtschaft zum Krieg entdeckt.

Zoltán Danyis erster Roman Der Kadaverräumer (2019) handelt direkt vom Krieg. Auf tell gibt es dazu ein Interview mit dem Titel: „Da der Krieg nun einmal geschehen ist, muss ich ihn lieben“.

Zoltán Danyi
Rosenroman
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora
Suhrkamp 2023 · 441 Seiten · 26 Euro
ISBN: 9783518431306

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Ein Roman, der keiner ist

Ein Weihnachtstipp von Anselm Bühling

Im Zentrum von Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung steht ein verzweifeltes Krippenspiel. Eine Gruppe von Kindern übt es ein. Sie müssen sich vor der Geheimpolizei verstecken, denn sie haben die falschen Großeltern.

Maria ließ das Bündel fallen und Josef stieß dem Engel leicht in die Seite. Der Engel wandte den Kopf und lächelte hilflos zu den heiligen drei Königen hinüber, die als Landstreicher verkleidet miteinander auf der großen Kiste saßen. Die heiligen drei Könige zogen die Beine ein wenig hoch und starrten brennend, mit blassen, finsteren Gesichtern nach der Tür. Es hatte geläutet.“​​

Das Buch ist 1948 erschienen. Aichinger, damals 27 Jahre alt, hatte den Krieg in Wien überlebt. Sie hatte, wie ihre Protagonistin Ellen, zwei „falsche Großeltern“ und war auf sich allein gestellt, nachdem ihre Mutter in die USA ausgereist und ihre jüdische Großmutter, bei der sie lebte, 1942 deportiert worden war. 1996 sagte Aichinger in einem Interview: “Ich wollte zunächst eigentlich nur einen Bericht über die Kriegszeit schreiben. An ein Buch habe ich gar nicht gedacht, ich wollte nur alles so genau wie möglich festhalten. Als das Buch dann bei Fischer erschienen ist, stand noch immer viel zuviel drin. Ich wollte am liebsten alles in einem Satz sagen, nicht in zwanzig.”

Aichingers Texte wurden von da an immer kürzer und dichter. Die größere Hoffnung bliebt ihr einziger Roman. Der eigentlich gar keiner ist. Er hat mehr mit Musik gemein als mit einer Erzählung, er ist mehr Traum als Bericht. Die Sprache ist fremd und vertraut, aus der Zeit gefallen und doch ganz gegenwärtig. Sie lässt mich nicht mehr los.

Ilse Aichinger
Die größere Hoffnung
Fischer 1991 · 288 Seiten · 13 Euro
ISBN: 978-3-596-11041-4
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Shakespeare in New York

Ein Weihnachtstipp von Herwig Finkeldey

Elisabeth Bronfens erstes belletristisches Werk, nach ihrer Emeritierung vom Lehrstuhl für Literaturwissenschaft der Universität Zürich, kann man zunächst als einen Kriminalroman lesen.

In ihm ermittelt das mutmaßliche alter Ego der Autorin, die junge Literaturwissenschaftlerin Eva, in den 1990er Jahren den unklaren Todesfall ihres in einem New Yorker Krankenhaus verstorbenen Vaters. Dabei kommt ihr nicht nur ein älterer New Yorker Kriminalkommissar und ihr Bruder zu Hilfe, sondern auch William Shakespeare, dessen Werk Eva immer wieder an die Gegenwart und den rätselhaften Tod ihres Vaters erinnert:

Was mich an Shakespeare interessiert, ist die Lust am Geheimnis. […] Ich bezeichne das als „Kryptomanie“: ein zwanghafter Trieb zur Geheimhaltung.

Zunächst hat Eva, wie auch der alte Kommissar, den Verdacht, dass die Stiefmutter beim Sterben des an einem Schlaganfall erkrankten Vaters nachgeholfen hat, im Sinne einer aktiven Sterbehilfe, und ermittelt in diese Richtung. Doch auch die Rolle des amerikanisch-jüdischen Vaters während des Krieges und der Besatzungszeit in München erweist sich schnell als ungeklärt.

Elisabeth Bronfen verknüpft den Plot mit kulturwissenschaftlichen Reflexionen – und mit Shakespeare. Wunderbar, wie sie die Hauptfiguren des Romans dem Shakespearschen Figurentableau aus Hamlet zuordnet. Die Lektüre ist ein intellektuelles Vergnügen, das an Umberto Ecos Der Name der Rose erinnert.

Elisabeth Bronfen
Händler der Geheimnisse
Limmat 2023 · 314 Seiten · 28 Euro
ISBN: 9783039260614
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Abgründiges aus dem Märchenschatz

Ein Weihnachtstipp von Sieglinde Geisel

Wie er aber an die Haustür kam, sprang der Mühlstein herunter und schlug ihn tot. Der Herr Korbes muss ein recht böser Mann gewesen sein.

Über Herrn Korbes erfahren wir nichts weiter, als dass sich eine Meute von Tieren und Gegenständen in seinem Haus breitmacht, die sich gegen ihn verschworen hat: Katze, Ente, Mäuschen, Hühnchen und Hähnchen sowie Stecknadel, Nähnadel, Ei – und eben der fatale Mühlstein.

„Herr Korbes“ gehört zu den unbekannten Märchen im Band Blaubart – Blut und Dinge, der sich „dem Dunklen“ widmet. Es ist der vierte Band des auf fünf Bände angelegten Projekts Grimmschrat: eine spektakuläre Neuausgabe der Gesammelten Märchen der Brüder Grimm durch den Künstler Henrik Schrat. In seinen Illustrationen verbindet Schrat die Archaik der Märchen mit unserer Gegenwart: durch Schauplätze und Gesichter, für die man ihm auf seiner Website Vorschläge unterbreiten kann.

„Make it new“, so lautet Ezra Pounds Aufforderung an die Schriftsteller. Henrik Schrat ist eine Rundum-Erneuerung des Grimmschen Märchenwerks gelungen: Das liegt nicht nur an seinen Illustrationen, sondern auch an der dramaturgisch raffinierten Mischung zwischen den Evergreens und weniger bekannten Geschichten, die oft abgründiger sind als das Vertraute.

Henrik Schrat
Grimms Märchen: Blaubart – Blut und Dinge
Gesamtausgabe in fünf Bänden
Band vier
Textem 2023 · 285 Seiten · 34 Euro
ISBN: 978-3864852497
Bei Amazon oder im lokalen Buchhandel


Mikrokosmos der Lügen

Ein Weihnachtstipp von Hartmut Finkeldey

Das ganze Leben ist ein Leben der Lügen. Jahr für Jahr sitzt man in kleinen Clubs, in denen Kipling spukt, rechts einen Whisky, links die Sporting Times, und hört eifrig zustimmend zu, wie Colonel Bodger seine Theorie zum besten gibt, dass diese verdammten Nationalisten in Öl gesotten werden sollten.

In Tage in Burma reflektiert Orwell über seine eigenen Erlebnisse als Kolonialoffizier, eine traumatische Erfahrung. Ort ist der fiktive Distrikt Kyauktada am Irrawady. Eine Kleinstadt, ein Mikrokosmos voller Lügen, also unerfüllter Sehnsucht, Alkohol und Gewalt.

Orwell zeigt, wie zerstörerisch, wie hoffnungslos sich das koloniale System auf alle auswirkt. Liebe? Freundschaft? Nicht hier, nicht so. Inmitten einer beeindruckenden Natur scheitert die „Sendung des weißen Mannes“, weil sie von vornherein auf Lüge und Gewalt basierte und alles und alle unheilbar kontaminiert.

Der Roman konnte in England, bei Gollancz, zunächst nur gekürzt erscheinen. Das glauben wir sofort.

George Orwell
Tage in Burma
Aus dem Englischen von Manfred Allié
Mit einem Nachwort von Manfred Papst
Dörlemann 2021 · 464 Seiten · 30 Euro
ISBN: 978-3038200802
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Bildnachweis:
Beitragsbild: Nino Caré
via Pixabay

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Von Redaktion

Ein Kommentar

  1. Wunderbar, knapp und informativ! Macht Lust aufs Lesen und Entdecken!
    Vielen Dank und alles Gute fürs neue Jahr!
    Ulrike Kolb, Literaturübersetzerin

    Antworten

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