In unseren Lektüretipps weisen wir auf Bücher hin, die uns begeistert, erschüttert, erheitert haben: Klassiker, Entdeckungen, Kuriositäten.

Gedichte können die Zeit anhalten. Das haben sie mit Fotografien gemeinsam. In Wisława Szymborskas Gedichtband Der Augenblick / Chwila geht es immer wieder um den Punkt, an dem sich Flüchtiges und Zeitloses berühren. Was vergänglich ist, muss wahrgenommen und festgehalten werden, damit wir überhaupt sagen können, dass es gewesen ist. Aber auch das Nicht-Zeitliche kann nur in Erscheinung treten, indem es sich verzeitlicht. Mit leiser Ironie erinnert die Dichterin Platon daran, dass das „Ideale Sein“ seinen Sinn aus dem Endlichen, Unvollkommenen bezieht.

Ohne die Lügen der Dichter wäre es nichts:

Aus unklaren Gründen
unter unbekannten Umständen
hörte das Ideale Sein auf, sich zu genügen.
[…]

Warum bloß musste es Eindrücke suchen
in der schlechten Gesellschaft der Materie?
Was nutzen ihm die Nachahmer,
die missratenen, vom Pech verfolgten,
ohne Aussicht auf Ewigkeit?
[…]

Dazu die schrecklichen Dichter, Platon,
das vom Wind zerstreute Laub unter den Statuen,
Abfälle der großen Stille auf den Gipfeln…

(Platon oder warum)

Szymborska misstraut der philosophischen Weitsicht, die sich durch die Vielfalt einzelner Erscheinungen auf das Ideale und Allgmeine richtet. „Alles“ ist für sie „ein unverschämtes und aufgeblasenes Wort“:

Es tut so, als ob es nichts ausläßt,
als ob es sammelt, umfaßt, erhält und besitzt.
Dabei ist es nur
das Teilchen eines Sturms.

(Alles)

Die Gedichte machen kein Geheimnis aus sich. Man schlägt eine Seite auf und findet sofort Einlass. Man beginnt zu lesen und zu denken, ohne Anstrengung, federleicht. Und dann sieht man, wie viel in diesem poetischen Raum offen verborgen liegt. Aus Begriffen wie „Leben“ oder „Seele“ lässt Szymborska die Luft heraus wie aus einem Ballon. So werden sie fasslich und kenntlich, aber gerade dadurch entziehen sie sich der raschen Erklärbarkeit. Die Seele ist eine Teilzeitkraft. Beim Möbelrücken und Kofferschleppen hat sie frei. „Von unseren tausend Gesprächen / beteiligt sie sich an einem, / und auch das nicht unbedingt“. Aber sie stellt sich verlässlich ein, „wenn wir ganz unsicher sind / und neugierig auf alles“ (Ein Wort über die Seele). Denn Leben heißt, „ständig etwas Wichtiges / nicht zu wissen“ (Notiz).

Im polnischen Titel Chwila klingt das deutsche Wort „Weile“ an. Karl Dedecius hat es für die polnisch-deutsche Ausgabe mit „Augenblick“ übersetzt: Verweile doch, du bist…

„Eigentlich könnte jedes Gedicht / Augenblick heißen“, schreibt Szymborska. In diesem Band sind viele solcher Augenblicke aufgehoben. Die Höflichkeit der Blinden, die einer Lesung applaudieren, in der unablässig von Farben und Lichtern die Rede ist, von silbernen Fischen, gelben Jacken und roten Dächern. Die Neugier des kleinen Mädchens, das die Welt entdeckt, indem es die Decke vom Tisch zieht. Und dann ein Moment, der auf eine Fotografie gebannt ist, der Zeit enthoben und doch nicht aufzuhalten: Menschen springen am 11. September 2001 aus den brennenden Twin Towers. Sie springen ins Verderben, um sich zu retten, ihre Körper sind in der Luft festgehalten:

Jeder ist noch ganz
mit eigenem Gesicht
und gut verstecktem Blut.
Es ist genügend Zeit,
daß die Haare wehen
und aus den Taschen Schlüssel,
kleine Münzen fallen.
[…]

Nur zwei Dinge kann ich für sie tun –
diesen Flug beschreiben
und den letzten Satz nicht hinzufügen.

(Fotografie vom 11. September)

Angaben zum Buch
Wisława Szymborska
Der Augenblick / Chwila
Gedichte
polnisch und deutsch
Übertragen und herausgegeben von Karl Dedecius
Suhrkamp Verlag 2012 · 111 Seiten · 13,95 Euro
ISBN: 978-3-518-22396-3
Bei Amazon oder buecher.de

 

Bildnachweis:
Beitragsbild: von Maros Mraz (Maros) (Eigenes Werk) [GFDL oder CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons
Buchcover: Suhrkamp Verlag
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Von Anselm Bühling

Übersetzer und Redakteur von tell, lebt in Berlin.

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