Jeden Abend, wenn ich unter meine Decke krieche, denke ich daran, wie es sein muss, bei unter zehn Grad im Zelt zu übernachten, im Schlamm, mit Ratten und ohne warme Mahlzeit. Der Gestank soll unerträglich sein, so lese ich, ab halb sechs Uhr abends herrscht Finsternis bis zum Sonnenaufgang, denn in Kara Tepe gibt es kein Licht. Ein Drittel der Bewohner – oder wie soll man es nennen? – sind Kinder, die Mehrheit von ihnen ist unter zwölf.

Ein verhallter Aufschrei

In ihrem ausgesucht höflichen Weihnachtsgruß aus Moria II haben die Menschen von Kara Tepe die EU-Kommission und uns alle darauf aufmerksam gemacht, dass die Bedingungen im Lager nicht einmal den Mindeststandards für die Tierhaltung entsprechen. Der Aufschrei ist verhallt, denn wir waren damit beschäftigt, die Geburt eines Flüchtlingskindes zu feiern. Wir haben uns sehr leid getan, weil die Pandemie uns das Fest vermasselt hat.

„Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr für mich getan“, sagte dieses Flüchtlingskind später. Eine Gemeinschaft bemisst sich daran, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht. Gehören die Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Eritrea zu uns? Ja, denn sie sind uns ausgeliefert.

Unser Umgang mit diesen Schwestern und Brüdern kommt einer 24-Stunden-Folter gleich. Kinder werfen ihren Eltern vor, dass sie geflüchtet sind. Von einer syrischen Bombe getötet zu werden, sei besser, als in dieser Hölle zu leben. Viele Kinder hören auf zu sprechen und zu spielen, manche gehen schlafwandelnd ins Meer, andere wollen sich umbringen.

Verbrechen ohne Täter

Was in Kara Tepe und anderswo geschieht, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit: „ein unmenschlicher Akt gegen die Zivilbevölkerung“, auch wenn kein Genozid oder Mord verübt wird. Es ist ein Verbrechen ohne Täter, dafür mit umso mehr Zuschauern. Niemand von uns kann sagen, er oder sie habe nichts davon gewusst.

Es gibt keine Täter, doch es gibt Verantwortliche: Es gibt Politiker und Politikerinnen, mit Namen und Adresse, die diese Zustände beenden könnten. „War is over, if you want it. War is over. Now”, heißt es am Ende von John Lennons Weihnachtslied. Wir könnten die Menschen aus Kara Tepe evakuieren, wenn wir wollten. Aber wir wollen halt nicht.

Den Druck erhöhen

„In der Tat gilt ein Land für um so zivilisierter, je umsichtiger und wirksamer jene Gesetze sind, die den Elenden daran hindern, allzu elend zu sein, und den Mächtigen allzu mächtig“, heißt es in Primo Levis Ecce homo. Was tun? Wir, die wir nicht mehr ruhig schlafen, müssen den Druck erhöhen auf diejenigen, die etwas ändern könnten. Erst, wenn auch sie nicht mehr ruhig schlafen, wird sich etwas ändern. Und sei es nur, weil sie selbst wieder ruhig schlafen wollen.

Bildnachweis:
Beitragsbild von Tim Pierce
Lizenz cc-by-2.0

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

3 Kommentare

  1. Bravo! Sehr guter Text zum Jahresende! Zu hoffen bleibt, dass er sein Echo in 2021 findet! Herzliche Grüße, Elke Heinemann

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  2. Elvira Hanemann 4. Januar 2021 um 13:07

    sehr gut! Doch was können wir tun – außer Appelle an unsere Politiker richten? Wenn das viele von uns täten, wäre das doch schon mal was!

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  3. März 2021….Ich schäme mich als Mensch und schreibe offizielle Stellen an….es antwortet niemand.
    “Friseurbesuch vs. Verbrechen gegen die Menschlichkeit”…
    Da gibt es anscheinend klare Prioritäten und mir wird immer geraten, mich mit etwas “Positiverem” zu beschäftigen.
    Die Deutschen sind ja “schon gestresst genug wegen der Pandemie” und ich bin hier die Unbequeme….

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