Wessen Gedanken werden in unserer Gesellschaft anerkannt? Wer darf in der Öffentlichkeit das Wort ergreifen? Diese Fragen standen am Anfang der Erkundung von Stefan Baltensperger und David Siepert. Mithilfe einer ortskundigen Assistentin suchten die beiden Künstler jeweils frühmorgens in der Nähe von Baumaterial-Märkten nach Tagelöhnern, die bereit waren, einen Tag lang als Philosoph oder Philosophin zu arbeiten.

Gedanken zu sich selbst und über die Welt

Die Tagelöhnerinnen und Tagelöhner werden in China „Unsichtbare“ genannt, und in der Tat sind sie allgegenwärtig und unsichtbar. Berührungspunkte zwischen ihnen und dem Rest der Gesellschaft gibt es kaum. Frühmorgens auf den Baumaterial-Märkten bieten sie auf Kartonschildern ihre Handfertigkeiten an: Schreinern, Tapezieren, Kabel verlegen. Nun werden sie von zwei europäischen Künstlern zum Nachdenken, Verwerfen, Beschließen, Aufschreiben und Reflektieren aufgeboten. So etwas steht auf keinem ihrer Schilder.

Jeden Morgen suchen die beiden Künstler eine andere Arbeiterin, einen anderen Arbeiter. Sie überzeugen sie, für einen Tageslohn als Philosoph zu arbeiten. Kurz nach der Absprache setzt der Tagesphilosoph sich an einen Tisch und tut, wofür er bezahlt wird. Der Tisch steht in einem temporär eingerichteten Arbeitsraum. Plötzlich sind Tagelöhner Philosophen geworden. Sie notieren ihre Gedanken zu sich selbst und über die Welt, in der sie leben. Die Handschriften sind so verschieden wie sie selbst.

Fünfzehn Texte sind in dem Buch abgedruckt, das die beiden Künstler aus den Tagesarbeiten geschaffen haben. Die handschriftlichen Notizen wurden erst aus dem jeweiligen Dialekt ins Mandarin übertragen und danach ins Englische übersetzt. Alle drei Phasen der Arbeit am Text – Handschrift, Mandarin, Englisch – sind im Buch sichtbar. Die Namen der Tagesphilosophen werden nicht genannt. In einem Bildteil sieht man sie bei der Arbeit.

Das Übersetzen stellte eine besondere Herausforderung dar, nicht nur wegen der Dialekt-Färbungen. Viele chinesische Worte haben je nach Zusammenhang unterschiedliche Bedeutungen. So ist an manchen Stellen etwa nicht mit Sicherheit zu sagen, ob ein Wort mit „Partei“ oder eher mit „Gesellschaft“ zu übersetzen gewesen wäre.

Bei der Herstellung des Buches handelt es sich um eine Adaption der Japan-Bindung. Die Bögen werden auf beiden Seiten bedruckt und in der Mitte gefalzt. Die Falzungen bleiben nach dem Binden erhalten. Der Umschlag ist aus fester Pappe. Auf den ersten Blick sieht man die chinesische Schrift und die englische Übersetzung. Das Faksimile der handschriftlichen Notizen befindet sich auf der Innenseite der Druckbögen. Um die Handschrift der „Unsichtbaren“ zu sehen, muss man die Seiten auseinanderziehen oder aufschneiden.

„Money, money, money, what a wonderful word.“

Beim Lesen ist es, als säße man den Tagesphilosophen gegenüber und hörte sie reden. Ein Leben nach dem anderen wird erzählt. Manche Berichte und Gedanken wirken schlüssig, andere nicht. Eine Frau arbeitet bis an ihre Grenzen – und will noch mehr arbeiten. „I wish I could be Superwoman.“ So heißt es in der Übersetzung ihres Texts. Am Feierabend nach der Arbeit studiert sie Mathematik- und Chemiebücher, ein Studium an der Universität war ihr verwehrt geblieben. Alles, was sie in Zukunft mit noch härterer Arbeit verdiene, werde sie ihren Eltern geben, dem Land, alten Menschen, der Partei und auch Behinderten. Sie träumt davon, einen Kleiderladen zu eröffnen, um mehr Geld zu verdienen, als sie das heute als Tagelöhnerin kann.

Niemand der Tagesphilosophen wurde in Peking geboren. Sie stammen aus den Provinzen und hoffen, in der Hauptstadt ihr Glück zu finden. Dieses Glück allerdings besteht aus harter Arbeit – nur zwei der fünfzehn Männer und Frauen, deren Berichte man im Buch lesen kann, scheinen glücklich zu sein: der eine, weil seine Frau schwanger ist und der andere, weil er, wie er schreibt, kaum etwas ernst nehme und gerne scherze. Ein Mann sagt, er habe schon lange nicht mehr über den Sinn des Lebens nachgedacht. Er sei auch nie gefragt worden. Ihm scheine, dass alles im Leben mit Geld zu tun habe. „Money, money, money, what a wonderful word.“

Manche denken über die Vergangenheit nach und versuchen, eine Logik hinter den Ereignissen in China und ihrer eigenen, privaten Welt zu finden. Manche stellen Zusammenhänge her. Die meisten denken an die zukünftigen Generationen und sind davon überzeugt, dass China eine prosperierende Zukunft vor sich hat. Auffallend ist der Respekt gegenüber älteren Menschen und den Vorfahren. Einige sprechen von der Zeit, als die Partei „noch für die Menschen sorgte“ und zeigen sich dafür dankbar. Früher wurde von einem Gemeindegremium bestimmt, wer in den Genuss einer höheren Bildung kam. Krankheit oder ein Unfall konnten für die Familie den Ruin bedeuten. Mao habe das Volk dazu aufgerufen, hart zu arbeiten. Deng sagte, „we had to emancipate our minds and open up a new road“. Von der aktuellen Regierung und deren Plänen für das Volk spricht niemand.

In der Falle

Eine Aussage findet sich fast identisch in den Notizen einer Frau und eines Mannes: „I know my main path in life but sometimes I wander down the side roads.“ Einer der Tagelöhner ist sehr jung, ungefähr zwanzig. „I jumped into a well-designed trap“, sagt er über seine Umsiedlung nach Peking, und: „My happiest moments were the chances to get a rest.“ Doch auch er will noch härter arbeiten.

Einer von ihnen erzählt, dass er kürzlich einen Mann dafür getadelt habe, dass dieser ein angebissenes Brötchen weggeworfen hat – mit seiner Rüge habe er ihn dazu gebracht, ein besserer Mensch zu werden, davon ist der Schreiber überzeugt. Ein anderer stellt Fragen. Eine lautet: Wie wäre es, wenn alles Geld der Welt plötzlich verschwinden würde? Dann schreibt er: „None of these hypotheses are possible.“ Schließlich zeichnet er einen Vogel, der zwischen Bergen hindurchfliegt.

Ein Mann berichtet von den arrangierten Treffen mit heiratswilligen Frauen, allerdings habe er dafür viel zu viel Geld ausgegeben. Dann will er erklären, wie man schnell Geld verdient, führt seine Ideen aber nicht weiter aus und erzählt nun wieder von sich – und von der Frau, die er dann doch gefunden hat. Er ist einer der beiden Glücklichen in dem Buch.

Die Tagesphilosophen tasten sich eher vorsichtig an die großen Fragen heran. Manchmal blitzen ihre eigenen Ideen nur zwischen den Zeilen hervor. Sie, die vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben gefragt worden waren, wie sie über die Welt denken und was sie sich wünschen, haben etwas gemeinsam: Sie haben immer zu wenig Geld. Und sie alle denken, dass der Besitz von mehr Geld ihre Situation verbessern würde.

Hier geht es zum Interview mit Baltensperger + Siepert: „Schreiben als Job – und als Lebenswende“
Angaben zum Buch
Stefan Baltensperger und David Siepert (Hg.)
Invisible Philosophy
Amsel Verlag 2017 • 123 Seiten • 38 Euro
ISBN: 978-3-906325-17-0

Mit Essays von
Xu Wenwen, Journalistin beim Shanghai Daily
Prof. Dr. Matthias Messmer, Philosoph und Autor
Prof. Dr. Dorothee Richter, Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin
Prof. Dr. Jörg Huber, Professor für die Theorie der Ästhetik
Die Autoren setzen sich mit der Arbeit der Künstler und mit den Notizen der Unsichtbaren auseinander.

Bei Amazon oder im lokalen Buchhandel

 

Bildnachweis
Beitragsbild, Buchcover und Abbildungen aus
Baltensperger/Siepert: Invisible Philosophy
Amsel Verlag Zürich, Baltensperger+Siepert
Foto der Zeichnung Berge und Vögel: Sieglinde Geisel
Teilen über:

Von Sibylle Ciarloni

Autorin von Erzählungen und Sprechtexten. Lebt und arbeitet in der Schweiz und in Italien.

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert