Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.
Deshalb dehne ich die gewebsprobenartige Stilkritik auf den ganzen Roman aus. Ich erlaube mir, den Inhalt einfach beiseite zu lassen – der Roman ist ein quirliges Gesellschaftspanorama des Stadtviertels Ballester in Buenos Aires, am Vorabend des argentinischen Militärputschs – und mich ganz auf die Sprache zu konzentrieren.
Deutsche Argentinier
María Cecilia Barbetta schreibt als Argentinierin auf Deutsch. Was in ihrem Roman als Erstes auffällt, ist die Rede der Figuren, denn offenbar wird in Barbettas erfundenem Argentinien ebenfalls deutsch gesprochen. Anders wäre der folgende Satz über das Viertel Ballester nicht möglich:
Es liegt am Ende der Welt, in Arschentinien, könnte man sagen.
Ich soll also glauben, dass sich der „Arsch der Welt“ (culo del mundo) auch im Spanischen klanglich mit dem Wort „Argentinien“ verschmelzen lässt?
„Ausfahrt freihalten“ steht auf einem Schild, doch die Romanfigur liest aus Versehen: „Freiheit aushalten“. Ein schöner Einfall, mit dem Schönheitsfehler allerdings, dass das Wortspiel nur auf Deutsch funktioniert.
Auch die krude deutsche Etymologie sprengt den fiktionalen Raum:
Ihr hatte sich urplötzlich der tiefere Sinn des Wortes Leidensgenossinnen erschlossen […], sie genossen es auf ihre Art.
Die Figuren üben sich in Umgangssprache und sagen „alles paletti“ oder „der ganze Kokolores“. So hat man in den siebziger Jahren wohl in Deutschland geredet, doch manchmal sagen die Figuren Dinge, die niemand auf Deutsch je sagen würde:
- „Raus, und zwar mit Schmackes!“
- Er kam sich total Banane vor.
Zugleich erinnert uns die Autorin immer wieder mit spanischen Einsprengseln in der Figurenrede daran, dass man in Ballester eben doch spanisch spricht. Ein Widerspruch, der meine „willing suspension of disbelief“ aushebelt.
Haarscharf an der Grammatik vorbei
„Die deutsche Sprache ist für mich unbesetzt“, sagte María Cecilia Barbetta an einer Lesung beim Internationalen Literaturfestival Berlin. Das Spanische sei von der Militärdiktatur vereinnahmt worden, und im Roman habe sie die Sprache für ihre Figuren zurückerobert. Obwohl ich diese Haltung verstehe, kann ich Barbettas deutschem Argentinien ästhetisch keinen Mehrwert abgewinnen.
Denn die Unstimmigkeiten sind keine gelegentlichen Ausrutscher, sie prägen den Stil des gesamten Buchs. Manchmal habe ich den Eindruck, die Autorin mache Stilübungen, etwa mit Redewendungen, und zwar möglichst unoriginellen, altbackenen, klischierten:
- Den Cousins qualmte der Schädel.
- Der Bedienstete machte die Fliege.
- Der Bräutigam tanzte bis in die Puppen.
- „Optimismus ist die halbe Miete!“
- „Da hat aber jemand Hummeln im Hintern!“
- Julie Johnson hatte spiegelglatte Haare und einen Namen, der runterging wie Butter.
Des Öfteren geht es haarscharf an der Grammatik vorbei.
- herzzerreißende Tränen
- ein ungestillter Säugling
- ein taufrisch lackierter Fiat 500
An anderer Stelle wird uns eine Wortschatz-Übung vorgeführt. Als ein Ceibo-Baum seine Blätter auf die Straße fallen lässt, entsteht eine „faulige Melange“ aus
Blutorange, Nelkenrot, Lippenstiftrot, Erdbeerrot, Merinorot, Rosenrot, Karminrot, Nagellackrot, Brillantrot, Mohnrot, Kirschrot, Blutrot, Glutrot, Paprikarot, Hennarot, Leinrot, Saturnrot, Scharlachrot, Gelbrot, Tomatenrot, Sonnenuntergangrot, Tizianrot, Safranrot, Purpurrot, Grenadierrot, Granatrot, Zinnoberrot, Falunrot, Rubinrot, Orientrot, Drachenblutrot, Bläulichrot.
Alles, was ich dieser Aufzählung entnehme, ist die Tatsache, dass die Autorin über 32 deutsche Wörter für „rot“ verfügt.
Gelegentlich torpedieren die sprachlichen Mätzchen auch die Intention eines Satzes:
[…] worauf ein zähnefletschender Racheengel schneller, als die Polizei erlaubte, bei Ofelia Farías klingelte.
Die Wendung „schneller, als die Polizei erlaubt“ funktioniert nur im Präsens, hier hält sie einen Satz auf, der rasant sein will. Davon einmal abgesehen: Wie soll man sich einen Racheengel vorstellen, der die Zähne fletscht wie ein Hund?
Beim Lesen ist es mir mehrfach passiert, dass ich innerlich auf den Übersetzer schimpfte und nachschauen wollte, wer hier Hand angelegt hat. Als Übersetzung hätte ich das nicht akzeptiert. Warum soll ich es als Original akzeptieren?
Lektorat?
Meine Kritik trifft die Autorin, was ich bedaure. Denn eigentlich ist es der Verlag, der seine Sorgfaltspflicht missachtet und die Autorin in mein Messer hat laufen lassen. Hat hier niemand lektoriert? Nunja, warum sollte man auch. Der Literaturbetrieb hat an dem Buch kaum etwas auszusetzen, im Gegenteil. Die sprachliche Verspieltheit dieses Romans wird gepriesen, als hätte es nie einen Tristram Shandy gegeben, keine konkrete Poesie und keinen Ernst Jandl. Und beinahe wäre Nachtleuchten mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet geworden. „Dieser Roman sprüht vor Ideen, er ist ein Vulkan voller verschachtelter Sätze, die uns atemlos Seite um Seite umblättern lassen“, heißt es im Jury-Kommentar zur Short List.
Sind damit Sätze gemeint wie dieser?
Ursprünglich mit drei Schiffen und zwei Türmen konzipiert, aus Geldknappheit, nach unüberbrückbaren Differenzen und einem mehrjährigen Baustopp letztendlich unter der Leitung eines neuen, selbstzufriedenen Architekturkollegen mit nur einem Schiff und einem Turm von immerhin fünfunddreißig Metern Höhe vollendet, erhob sich heute an der beampelten Kreuzung von Lamadrid und Lacroze die Parochialkirche Nuestra Señora de la Merced.
Habe ich irgendetwas nicht verstanden?
Nachtleuchten
Roman
S. Fischer 2018 · 528 Seiten · 24 Euro
ISBN: 9783103972894
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Liebe Sieglinde, ich denke, dass einige Wendungen diskutierbar sind, andere aber mit Sicherheit nicht. Danke daher fuer deinen Hinweis auf Lektorat und Buchpreis-Jury! Herzlich, Elke Heinemann