Der Soziologe Aladin El-Mafaalani ist Sohn von Migranten, Experte und Entscheidungsträger: Seit 2018 koordiniert er die Integrationspolitik Nordrhein-Westfalens als Abteilungsleiter des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration.

Je mehr Integration, desto mehr Konflikte, so lautet seine These. Der Grund dafür ist offensichtlich: Je mehr Integration, desto mehr Teilhabe für Minderheiten, desto mehr Mitsprache bei Gestaltungsprozessen – und desto mehr Gegenwehr auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft. Integration verstärke den Rassismus in einer Gesellschaft, so El Mafaalani, da Privilegien geteilt oder aufgegeben werden müssen. Das ist ein Paradox – und für ihn zugleich ein Grund für Optimismus.

Ohne Migration keine Entwicklung

Um das zu zeigen, analysiert El-Mafaalani unsere Gesellschaft, die deutsche und die westliche, unter dem Gesichtspunkt der inneren und äußeren Offenheit.

Äußere und innere Offenheit werden in der Figur des Migranten eins, weil sie Migration und Integration verkörpert.

Was die „innere Offenheit“ betrifft, seien wir auf dem Weg zur offenen Gesellschaft, das heißt hin zur „Verschiebung von Grenzen der Teilhabe und Zugehörigkeit“. Mit anderen Worten: Integration. Mit dem Begriff „äußere Offenheit“ meint El-Mafaalani wiederum die „Verschiebung von Grenzen zwischen verschiedenen Gesellschaften“. Mit anderen Worten: Globalisierung.

El-Mafaalani sieht in der Migration ein unvermeidliches globales Phänomen. Migration habe immer existiert und werde immer existieren. Ohne Migration gebe es keine Entwicklung, sie sei der Motor unserer Gesellschaft:

Das Erfolgsgeheimnis von Einwanderungsgesellschaften liegt darin, dass sie alle Kompetenzen der Welt innerhalb ihrer eigenen Gesellschaft schon haben, dass sie alle Probleme und Konflikte, alle Denk- und Handlungsmuster, die es gibt, schon kennen.

Deshalb seien diejenigen Länder, die am meisten Einwanderung erfahren hätten, auch wirtschaftlich am erfolgreichsten. Wenn in Einwanderergesellschaften über Missstände und Ungleichheit geklagt werde, so nur deshalb, weil Ungleichheit und Missstände im gesellschaftlichen Diskurs umso mehr auffielen, je geringer sie werden. In Deutschland etwa herrsche zwar noch keineswegs Chancengleichheit, doch sei die Bildungsteilhabe von Minderheiten in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Das versetze sie in die Lage, deutlicher auf ihre Benachteiligung hinzuweisen.

Tisch-Metapher

Auf der einen Seite fördere Integration demnach das Sprechen über Missstände, selbst wenn diese in Ansätzen behoben sind. Auf der anderen Seite verstärke sie jedoch auch den Rassismus, da Privilegien geteilt oder aufgegeben werden müssen. El-Mafaalani erklärt dies mit einer Tisch-Metapher: Die erste Generation der Einwanderer habe noch keine volle „Zugehörigkeit und Teilhabe“ beansprucht.

Sie sitzen überwiegend am Katzentisch, während die Einheimischen am Tisch sitzen. Diese Menschen, also die Migranten selbst, sind froh, überhaupt da zu sein, und vergleichsweise anspruchslos. (…) Die ersten Nachkommen beginnen, sich an den Tisch zu setzen. In der zweiten Generation gelingt Integration zunehmend. Die Migrantenkinder sprechen deutsch, haben nie in einer anderen Heimat als Deutschland gelebt und sehen sich schon als Teil des Ganzen. Egal wie wir Integration definieren, hier findet sie statt. Und deshalb steigt das Konfliktpotenzial. Denn mehr Menschen sitzen jetzt am Tisch, wollen einen schönen Platz und wollen ein Stück vom Kuchen. Es geht hier also um Teilhabe an Positionen und Ressourcen.

Mit der Tisch-Metapher will El-Mafaani die Paradoxie der Integration aufzeigen, doch hält sie der Überprüfung nicht stand. Wer mit Migranten der zweiten und dritten Generation zu tun hat, weiß, dass nur ein Bruchteil von ihnen wirklich integriert ist. Auch wenn sie hier geboren sind, sehen sie Deutschland nicht als Heimat. Viele von ihnen möchten „zurück“ in ihre wahre Heimat. Zuhause läuft das türkische oder italienische Fernsehen, an Deutschland haben sie kein großes Interesse. Es ist ihnen nur ein Mittel zum Zweck, um später in ihrem gelobten, wenn auch ihnen kaum vertrauten Herkunftsland leben zu können. Politische Teilhabe bedeutet, wählen zu können, doch obwohl für in Deutschland geborene Kinder die doppelte Staatsbürgerschaft möglich ist, liegt die Einbürgerungsrate immer noch bei zwei Prozent, besonders gravierend ist der Rückgang der Einbürgerungen von Menschen, die aus der Türkei stammen.

Gegen Pessimisten und Demagogen

Diese Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Theorie stellt das wesentliche Problem des Buches dar. Schon im Vorwort gibt der Autor ein Versprechen ab:

Wem es bisher schwerfiel, in Diskussionen gegen Pessimisten und Demagogen gut dazustehen, findet in diesem Buch die „Waffen“, die dazu nötig sind.

Leider sind dies meistens stumpfe Waffen, das zeigt etwa El-Mafaalanis Beitrag zur Kopftuch-Diskussion. Als er noch Schüler war, habe er durchaus Frauen mit Kopftuch in Schulen gesehen, es war offensichtlich kein Problem:

Das Kopftuch war okay, weil es ‚Putzfrauen’ trugen. In anderen Bereichen waren es Arbeiterinnen in Fabriken. Es war nicht mehr okay, als die ersten Frauen mit Kopftuch studierten und Lehrerinnen wurden. Erst durch die Bedingungen gelungener Integration wurde das Kopftuch zum Problem. Also erst, als sich erstmal eine Frau mit Kopftuch an den Tisch setzte oder es zumindest versuchte.

Hier haben wir es mit einem Trugschluss zu tun, denn El-Mafaalani blendet in seiner Argumentation die Bedeutung des Kopftuches als ‚Instrument der Unterwerfung’ von Frauen vollkommen aus. Es ist durchaus problematisch, wenn Lehrerinnen in ihrer Vorbildfunktion dieses Zeichen der Unterwerfung vor Schülern und Schülerinnen tragen.

Sprache schafft Werte

Doch obwohl El-Mafaalanis Gesellschaftsanalyse teilweise am mangelnden Realitätsbezug scheitert, leisten einige seiner Vorschläge einen Beitrag dazu, die Integration von Migranten zu fördern. „Begriffe schaffen Realitäten“ meint El-Mafaalani und versteht darunter Ausdrücke wie „Menschen mit Migrationshintergrund“.

Weil für viele die Zuschreibung ‚mit Migrationshintergrund’ wie eine Krankheitsdiagnose klingt, habe ich die Kategorisierung in der Zeit, in der ich als Lehrer an einer Schule Unterricht habe, in ‚Schüler/innen mit internationaler Geschichte’ und ‚Schüler/innen ohne internationale Geschichte’ oder ‚mit nationaler Geschichte’ umbenannt.

Sprache schafft nicht nur Wirklichkeiten, sondern auch Werte. Viele seiner Schüler waren von dieser neuen Begrifflichkeit beleidigt, nämlich jene, die keine ‚internationale Geschichte’ aufzuweisen hatten.

Eine sagte zu mir: „Das ist voll diskriminierend. Jetzt haben die anderen das coolere Wort.“ Und tatsächlich suchten plötzlich alle in ihrer Familiengeschichte irgendetwas Internationales, weil sie eine internationale Geschichte haben wollte.

Das Integrationsparadox besteht darin, „dass eine gelungene Integration zu mehr Konflikten führt“. Doch es reicht nicht, diesen Konflikten mit einem leeren Optimismus entgegenzutreten, wie Aladin El Mafaalani es tut. Deshalb kann er auch das Versprechen nicht einlösen, dass sein Buch uns „gegen Multikulti-Romantiker auf der einen und Abschottungsbefürworter auf der anderen Seite“ wappnen werde.

Angaben zum Buch
Aladin El-Mafaalani
Das Integrationsparadox
Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt
Kiepenheuer & Witsch 2018 · 240 Seiten · 15 Euro
ISBN: 978-3462051643
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel
Beitragsbild:
People
Via Pixabay, Lizenz: CC
Cover: Verlag

Unterstützen Sie uns auf Steady

Teilen über:

Von Agnese Franceschini

Deutsch-italienische Journalistin und Autorin, u.a. für den WDR.

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert