Woran erkennt man „Konservative im besten Sinn des Worts“? Am dialektischen Denken: Sie erneuern, was sie bewahren wollen.
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Wer ist ein Konservativer im besten Sinne des Worts? „Jemand, der über den Fortbestand einer als wertvoll und bedroht angesehenen Sache wacht.“ Diese Lexikon-Definition des Gralshüters passt zu den Anhängern des Konservatismus. Es ist kein Zufall, wenn man von „Gralshütern der Verfassung“ spricht. Was der Bundestagspräsident und CDU-Politiker Norbert Lammert bewahren will, ist nicht die bestehende Ordnung, sondern eine als wertvoll und bedroht angesehene Sache, beispielsweise die Rolle des Parlaments:
Nicht die Regierung hält sich ein Parlament, sondern das Parlament bestimmt und kontrolliert die Regierung.
In einer Demokratie sei die Frage wichtig, „wer die Verantwortung für Entscheidungen trägt“. Lammert hat sich buchstäblich als Gralshüter der parlamentarischen und repräsentativen Demokratie profiliert, auch gegen den Populismus:
Bei Plebisziten finden Sie später nie einen Verantwortlichen. Die schlagen sich alle in die Büsche, wenn’s schiefläuft.
Über Migration wird heute oft diskutiert, als ob der gegenwärtige Zustand von Ewigkeit zu Ewigkeit gälte und als ob Europa vor einer völlig neuen und beispiellosen Herausforderung stehe.
Das ist schlicht falsch. Die gesamte europäische Geschichte ist eine Migrationsgeschichte und man würde nur wenig übertreiben, wenn man sie als eine Abfolge von Migrationen beschriebe. Wenn uns die jüngere Geschichte etwas beigebracht hat, dann will ich sehr hoffen, dass es eben diese Erkenntnis ist: Dass dem Freiheitswillen von Menschen auf Dauer auch Mauer und Stacheldrahtzäune nicht im Wege stehen können. (…)
Deswegen bin ich geradezu fassungslos über eine europäische Debatte, die glauben machen will, das Problem der Migration sei dadurch zu lösen, dass wir in Europa wieder Zäune errichten. Es liegt die Zusatzfrage auf der Hand: mit Schießbefehl oder ohne?
An die Migrationsfrage knüpft sich oft die Frage nach der Leitkultur an. Auch in diesem Punkt distanziert sich Lammert vom Populismus:
Der virtuelle Kanon von gemeinsamen Erfahrungen, Überzeugungen, Orientierungen, Traditionen einer Gesellschaft ist nicht ein für alle Mal fixiert, er wird ständig fortgeschrieben. Daran mitzuwirken sind alle eingeladen, die hier leben und bleiben wollen. Das, was man für die Leitkultur in Deutschland halten könnte, unterscheidet sich erkennbar von dem, was vor fünfzig Jahren, schon gar in der wechselhaften ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dafür gehalten wurde – und wird in weiteren fünfzig Jahren wieder etwas anders aussehen als heute.
Gerade als Konservativer bewahrt Norbert Lammert unsere Gesellschaft vor dem Stillstand: Er wacht über die Entwicklung unsere Kultur. Eine wertvolle Sache, die man als bedroht ansehen muss.