Mani Matter - I han es Zündhölzli azündt

(Das ist das einzige Video von Mani Matter, das der Zytglogge-Verlag auf Youtube gestellt hat. Bei allen anderen Mani-Matter-Videos auf Youtube handelt es sich um Cover-Versionen.)

Zu den Songs von Bob Dylan habe ich keine persönliche Beziehung. Das mag daran liegen, dass ich in den Sechzigerjahren nicht mein politisches Bewusstsein entwickelt habe, sondern erst einmal geboren wurde. Ich konnte mich Dylans Texten also unbefangen nähern, als ich vom Schweizer Radio SRF 2 den Auftrag bekam, seine Lyrics dem Page-99-Verfahren zu unterziehen – so zu tun also, als wären es keine Songtexte, sondern Gedichte.

Mit Mani Matters Liedern dagegen bin ich aufgewachsen, wie alle Schweizer. Wie gern hätte ich so etwas wie einen Page-99-Test zu Mani Matter gemacht! Doch auf dem Papier verlieren die gesungenen Texte ihre Seele, das gilt für Matter noch mehr als für Dylan.

Wenn es je einen Schweizer gab, der den Literaturnobelpreis verdient hätte, dann wäre es Mani Matter (neben Robert Walser). Zwei Dinge stehen zwischen Matter und dem Nobelpreis: Er ist seit über vierzig Jahren tot, und seine Lieder sind auf Berndeutsch.

Letzteres verweist auf ein grundsätzliches Problem beim Literaturnobelpreis für Songwriter: Ihre Lieder sind nicht übersetzbar. Nur in Ausnahmefällen wird es gelingen, sowohl den Reim als auch den Rhythmus einer Strophe beizubehalten, sodass der Text in einer anderen Sprache singbar bleibt. Songwriter außerhalb der englischen Sprache haben keine Chance. Alle Deutschschweizer kennen Mani Matter. Alle anderen haben noch nie von ihm gehört.

Was nichts daran ändert, dass Mani Matter in der neuen Nobelpreis-Disziplin des Liedermachens Maßstäbe setzt, an denen Dylan & Co sich messen lassen müssen.

Drammma statt Draaama

Warum hätte Mani Matter meiner Meinung nach den Songwriter-Nobelpreis verdient? Weil er, auf seine Weise, das Lyrik-Kriterium von Joseph Brodsky erfüllt, dem Literaturnobelpreisträgers von 1987:

Es kommt vor, dass es einem Dichter gelingt, sich mit Hilfe eines einzigen Worts oder eines einzigen Reims an einen Ort zu versetzen, wo vor ihm noch keiner war.

Mani Matters Lied „Sidi Abdel Assar vo el Hama“ wirkt aus heutiger Sicht auf unschuldige Weise politically incorrect. Es erzählt zu arabischen Klängen die Geschichte eines Mannes namens Sidi Abdel Assar von el Hama, der sich in die Tochter von Mohamed Mustafa verliebt; er bietet 150 Schafe als Brautpreis, doch der Brautvater will 220 Kamele, und so nimmt sich Sidi eine Billigere, die ist zwar nicht so schön, dafür gescheit. Soviel zur Story.

Schauen wir uns die Reime an:

Hama – Pijama – Drama (alles mit kurzem erstem „a“)

Mustafa – schlafa („schlafen“) – Schaf a („bietet ihm 150 Schafe an“).

Das ist sowohl semantisch aufregend (Pijama /schlafa – zwei Mal Schlafzimmer, und das bei einem Liebeshandel, der fehlschlägt!) als auch klanglich.

Denn allein durch den Reim macht Matter aus dem Drama, über das er sich in seinem Lied lustig macht, eine Komödie: aus dem Draaama wird ein Drammma. Im zweiten Vers macht Matter sich qua Reim gar an den Wörtern selbst zu schaffen: Weil Mustafa auf a endet, kann Sidi nicht nümm schlafe („nicht mehr schlafen“), sondern nümm schlafa, und auch die 150 Schafe werden klanglich gestaucht, denn ein Schaf hat im Schweizerdeutschen ein langes a. Im nächsten Vers muss gar Allah dran glauben: Allah reimt sich auf gfalla („gefallen“), danach auf „uf ke Fall la“ (Mustafa wollte Sidi seine Tochter für weniger als 220 Kamele „auf keinen Fall überlassen“).

Im Schlussvers kehrt die Trias der a-Wörter und -Reime wieder:

Sahara – klar a – afa spara

Der sehnsüchtige Sidi schaut sich in der Sahara den Mond am Himmel „hell und klar an“ (klar a). Dabei denkt er an die schönen Augen der Tochter des Mustafa und sagt sich: Hätt i doch früecher afa spara („Hätte ich doch früher angefangen zu sparen“).

In diesem Lied geht es um ein Spiel, also um Kunst. Als Spielzeug genügt Matter ein einziger Buchstabe, und zwar einer, der im Dialekt eine besondere Rolle spielt. Im Schweizerdeutschen enden viele Wörter auf a: schtaa (stehen), gaa (gehen), afaa (anfangen), Maa (Mann). Meistens ist dieses a betont, deshalb führt es zu reizvollen Konflikten in der Aussprache, wenn die Melodie des Lieds die Endsilben unbetont lässt. Vor allem aber bringt dieses a Worte auf die Bühne, die der Dichter ohne diesen Trick nie ersonnen hätte – und die uns durchaus an Orte beamen, an die wir ohne dieses a nie gekommen wären.

Alles ist -eisch

Ist es das, was Joseph Brodsky gemeint hat? Bei Brodsky geht es um Dichtung als metaphysisches Ereignis. Und genau das geschieht für mich in Mani Matters lyrischer Komik, oft in Form von hinreißenden Understatements. Seine Lieder sind so einfach, dass sie jedes Kind versteht, doch aufgrund ihrer Tiefe sind sie zugleich über jeden Trivialitätsverdacht erhaben.

Bereits in den ersten beiden Zeilen von „Betrachtige übr nes Sändwitsch“ ist die inhärente Dialektik eines Sandwichs voll entwickelt (in der zweiten Strophe wird die Denkfigur dann durch die Butter kompliziert):

Was isch es Sändwitsch ohni Fleisch –  s’isch nüt als Brot
Was isch es Sändwitsch ohni Brot – s’isch nüt als Fleisch

Am Fleisch hängt das ganze Sandwich, und in der ersten Strophe hängt es daran auch sprachlich, nämlich am Haken des Reims:

beleisch
Fleisch
Fleisch
treisch
weisch
Fleisch
verschteisch
leisch
geisch
Fleisch

Das ist ein splitterfasernackter Running Gag, der gerade deshalb überzeugt, weil es hier nichts zu entschlüsseln gibt.

Bei Mani Matter sind die Worte und Verse das, was sie erzählen, und ich würde jetzt am liebsten den ganzen Tag damit weitermachen, diese Umschlagsmomente in Matters Liedern zu feiern. Ein paar Schlaglichter:

„Ds Lied vo de Bahnhöf“ besingt die Unbehaustheit der Bahnhöfe,

wo dr Zug geng scho abgfahren isch oder no nid isch cho.

Der Provinz-Bahnhof als Ort, „an dem der Zug immer schon abgefahren oder noch nicht angekommen ist“, eine gesungene Metapher für das, was Georg Lukács „transzendentale Obdachlosigkeit“ genannt hat. Berndeutsch ist dafür das ideale Medium, gilt dieser Dialekt doch per se als langsam, melancholisch, introvertiert, und das Lied wirkt auf mich überdies wie eine hauchzarte Ironisierung eben dieses Vorurteils, dem es seine subtile Wirkung verdankt.

In „Ds Heidi“ spielt sich ein Eifersuchtsdrama in einem Diphtong ab:

Heidi, mir wei di beidi

„Heidi, wir wollen dich beide“ – in der deutschen Übersetzung ist der Satz banal. Schon die Übersetzung in andere Schweizer Dialekte scheitert: Der dichterische Witz funktioniert nur im Berndeutschen mit seinen vielen, breit ausgesprochenen „ei“s (nicht „ai“, sondern wirklich „ei“).

Ebenfalls rettungslos unübersetzbar ist „E Löu, e blöde Siech, e Glünggi un e Sürmel“. Anhand von klangstarken berndeutschen Schimpfwörtern (und ihren Trägern) führt dieses Lied vor, wie Gewalt aus Wörtern entsteht, nämlich indem der Glünggi den Löu einen blöden Siech nennt – usw. usf. Das Ende vom Lied:

u dr Sürmel u dr Glünggi u dr Löu u dr blöd Siech
hen die ganzi Nacht lang gschleglet
bis am andere Morge früech

„Und der Sürmel und der Glünggi und der Löu und der blöde Siech haben sich die ganze Nacht geprügelt bis zum nächsten Morgen.“

In einer Schlägerei endet auch die Ballade mit dem Titel  „Si hei dr Wilhälm Täll ufgfüert“ („Sie haben den Wilhelm Tell aufgeführt“ – und zwar „im Löie z‘ Nottischwil“, schließlich gibt es in jedem Schweizer Kaff eine Beiz namens „Löwen“). Diese Wirtschausschlägerei nimmt Mani Matter als Anlass für eine unsterblich traurige, schöne, komische Einsicht zur Sinnlosigkeit von Gewalt:

Sy würde d’Freiheit gwinne, wenn sy däwäg z’gwinne wär.

„Sie würden die Freiheit gewinnen, wenn sie auf diese Weise zu gewinnen wäre.“

Das Lied „I han es Zündhölzli azündt“ vom Eingangsvideo ist auf eine geradezu unheimliche Weise aktuell, ja geradezu visionär. Mani Matter liefert den Kommentar zur Hysterie unserer Zeit: Was wäre passiert, wenn er das Streichholz, das ihm beim Anzünden der Zigarette heruntergefallen ist, nicht rechtzeitig aufgehoben hätte? Es hätte gebrannt, zuerst der Teppich, dann das Haus, dann das Quartier, dann die Stadt. „Alls hätt‘ brielet: Wär isch tschuld?“ („Alles hätte geheult: Wer ist schuld?“). Um den Frieden in der Schweiz zu retten, wäre die UNO mit Panzern aufmarschiert und dann auch die UNO-Gegner.

S’hätt sech usdehnt nad inah uf Europa, Afrika
S’hätt e Wältchrieg gäh und d’Mönschheit wär jitz nümme da.

„Es hätte sich nach und nach ausgedehnt nach Europa, Afrika / es hätte einen Weltkrieg gegeben und die Menschheit wär jetzt nicht mehr da.“

Warum klingt „d Mönschheit wär jitz nümme da“ so anders als „die Menschheit wär jetzt nicht mehr da“? Durch den absurd belehrenden Gestus, mit dem Matter das Lied vorträgt, bekommt der Satz einen Witz, in dem sich der Aberwitz der Menschheit spiegelt.

Wie gesagt, übersetzen kann man das alles nicht. Bei Liedermachern lässt sich das Werk nicht vom Interpreten trennen. (Weshalb es ein Jammer ist, dass man auf Youtube nur noch Cover-Versionen zu sehen bekommt.)


Unterstützen Sie uns auf Steady

Teilen über:

Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

Ein Kommentar

  1. Vielen Dank für diesen erhellenden Artikel, als ignoranter Deutscher hätte ich ohne ihn nie von Matter gehört. Danke auch für die Textbeispiele, etwas schade dass bei einigen nur die Reimwörter genannt und analysiert werden; ohne Kontext der vorangegangenen Wörter ist dies vielleicht von akademischem Interesse aber als Mittel der Textbewertung natürlich etwas albern.

    Antworten

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert