Auf William H. Gass (1924-2017) bin ich vor vielen Jahren durch ein Zitat gestoßen, das mich elektrisierte. Ich las zuerst seine Essaybände (mit Titeln wie Tests of Time oder Life Sentences), dann die Erzählungen In the Heart of the Heart of the Country, später seinen epochalen Roman The Tunnel (1995) der erst 2011 auf Deutsch erschien.

Von niemandem, mit Ausnahme vielleicht von Peter von Matt, habe ich so viel über das Lesen gelernt, wie von William H. Gass. Im März 2012 besuchte ich ihn in St. Louis für ein Interview. Er und seine Frau Mary luden mich zum Mittagessen ein, dann zogen wir uns für zwei intensive Stunden Gespräch in sein Arbeitszimmer zurück.

Es ist mir ein Rätsel, warum dieser Meisterleser immer noch ein Geheimtipp ist  angesichts dessen, dass wir sonst in der Literatur fast alles unbesehen übernehmen, was aus Amerika kommt.

Sieglinde Geisel: Eine Ihrer Figuren – William Frederick Kohler – hat als Historiker ein Buch über den Holocaust geschrieben. Im Lauf des Romans Der Tunnel zeigt sich in seinen inneren Monologen immer deutlicher, dass er selbst faschistisch denkt. Was hat Sie dazu gebracht, Ihrem Buch diese Richtung zu geben?

William H. Gass: Das weiß ich nicht. Meine Vorfahren stammen aus Deutschland und Skandinavien, und ich habe einen deutschen Nachnamen, doch in meiner Familie gibt es keine persönliche Geschichte mit dem Faschismus. Meine Eltern waren Einwanderer der zweiten Generation, aufgewachsen im Mittleren Westen, und sie wollten so amerikanisch sein wie möglich. Mein Vater unterrichtete an der High School, so litten wir während der Depression in den dreißiger Jahren nicht unter Armut, denn Lehrerstellen waren gesichert.

Was für eine Kindheit war das?

Ich wollte auf keinen Fall so werden wie das, was mich umgab: der Alkoholismus meiner Mutter, oder der Rassismus meines Vaters und seine Ressentiments, er litt an Arthrose. Doch im Vergleich mit anderen war es keine besonders schlimme Kindheit. Ich habe nie über die Depression geschrieben. Ich habe fast vier Jahre in der Navy gedient, und auch darüber habe ich nie geschrieben.
Warum habe ich dann über den Holocaust geschrieben? Warum über mein großes Thema überhaupt: was für ein Horror der Mensch ist? Es gibt keine rationale Erklärung dafür, dass mein Werk diesen Ton hat und diese Richtung einschlägt. Ich habe keinen Hintergrund, der mich zum Revolutionär machen würde.

Der Faschismus der Küche

William Kohler will in Ihrem Roman eine Partei der Enttäuschten gründen, für seine Haltung haben Sie den Begriff „Faschismus des Herzens“ geprägt. Was soll man darunter verstehen?

Der Faschismus des Herzens ist eigentlich der Faschismus der Küche, der täglichen Herrschaft in der Familie. Bevor der Faschismus als politische Größe in die Welt tritt, gibt es ihn im Haus, in der Beziehung der Eltern zum Kind. Dies wird verstärkt oder geschwächt, je nach der Gesellschaft, in der man lebt. Jede Kultur belohnt oder bestraft diejenigen, die sich anders verhalten.
Ich erinnere mich daran, wie während der Depression Leute an unserer Tür klingelten, um etwas zu verkaufen oder Arbeit zu suchen. Das waren ganz normale, gesetzestreue Bürger, die taten, was man von ihnen erwartete. Dass sie betteln mussten, widersprach allem, was sie gelernt hatten. So etwas macht die Menschen wütend, und so entsteht Ressentiment.

Ist William Kohler das Porträt des Mannes, der Sie nicht hatten werden wollen?

Auf jeden Fall. Mehr noch ist er das Porträt des Mannes, der mein Vater war.

Was für ein Verhältnis hatten Sie zu Kohler während des Schreibens?

Er war ein großer Feind. Lange Zeit mochte ich nicht in seine Nähe kommen.

Was geschieht, wenn Sie schreiben?

Wenn ich Glück habe, bekomme ich etwas zu Papier. Oft weiß ich nicht, warum es da ist und wohin es führt. Dann schaue ich mir dieses Durcheinander an und versuche, es in Ordnung zu bringen. Meistens weiß ich in etwa, was falsch ist, wenn beispielsweise in einer Zeile der Rhythmus nicht stimmt, wenn die Wörter unordentlich sind. Mir ist es ungeheuer wichtig, wie die Wörter dem Leser dargeboten werden.

Wenn Sie nicht wissen, woher Ihre Sätze kommen – worüber haben Sie beim Schreiben dann überhaupt Kontrolle?

Ich habe durchaus Kontrolle, aber nur über diese kleinen Dinge. Ich brauche zum Beispiel in einer bestimmten Zeile einen Binnenreim, weil sie mit etwas verknüpft werden soll, das später kommt. Also weiß ich, was ich brauche, und das verfolge ich bewusst. Drei Tage später streiche ich dann alles und fange wieder von vorne an.

Der Text schreibt sich selbst

Wird das Schreiben einfacher, wenn man mit dem Text vorankommt?

Im Gegenteil – je mehr etwas in Gang kommt, desto schwieriger wird es, denn es gibt immer mehr Voraussetzungen, denen das neue Material Genüge tun muss. Der Text sagt mir, was ich als Nächstes tun soll. Wenn es gut läuft, beginnt der Text, sich selbst zu schreiben. Dabei nehmen die Dinge manchmal eine völlig andere Wendung, und auf einmal schreibt man über etwas, an das man bisher nicht zu rühren gewagt hat. Der Roman Middle C sollte eigentlich vom gefälschten Selbst handeln. Doch dann habe ich über abwesende Väter geschrieben – für drei meiner Kinder war ich ein abwesender Vater.

So etwas habe ich auch in Der Tunnel gespürt, wenn Kohler sich an seine Kindheit erinnert.

Ich wollte nicht darüber reden. Dann habe ich doch darüber geredet.

Auch der Stil ist in diesen Passagen anders, das Erzählen geht rascher voran, es liest sich leichter.

Das Ende des Buchs sollte mehr Tempo haben und mehr von dem, was man traditionelles Erzählen nennt. Das hatte auch mit der Beschleunigung des Schreibens zu tun. Ein Getty-Stipendium hatte mir während eines Jahrs in Los Angeles ideale Arbeitsbedingungen verschafft, und so habe ich die zweite Hälfte des Buchs in einem Zug geschrieben. Es sprudelte nur so heraus.

Für die erste Hälfte brauchten Sie fast dreißig Jahre.

Das Buch war mir so unangenehm, dass ich alle meine anderen Bücher schrieb, um es nicht zu schreiben. Es diente als Schubkraft für anderes. Wenn Sie fünf oder zehn Jahre an einem Buch schreiben, muss die Hauptfigur stark genug sein, damit Sie sich beim Weiterschreiben wieder in sie hineindenken können. Das heißt, dass man als Schriftsteller am Ende der Gleiche sein muss wie am Anfang. Man muss in der Lage sein, das Wissen, das man in der Zwischenzeit erworben hat, wieder abzulegen, sonst fällt das Buch auseinander, denn das Buch wurde von einem Autor begonnen, der noch nicht so gut war, wie er es jetzt ist. Das ist eine der größten Schwierigkeiten, wenn man so lange an einem Buch arbeitet.

Die Story ist noch keine Literatur

Sie vertrauen dem Erzählen nicht.

Ich mag das Erzählen vor allem dann nicht, wenn es eine Keule ist, die uns dazu bringen soll, auf eine gewisse Weise realistisch zu schreiben. Viele Kritiker verstehen nicht, dass Narration etwas Literarisches ist. Die Story kann auf verschiedene Weise erzählt werden, in einem Film, in einem Gedicht, in Prosa. Aber die Story ist noch keine Literatur. Sie wird es erst durch die Worte, mit denen sie erzählt wird und durch die Ordnung von Situationen, auf die man verweist, anspielt, sich bezieht.

Sie haben oft gesagt, Sie schrieben, „to get even“. Wofür wollen Sie sich rächen?

Ursprünglich wollte ich mich für alles rächen, was in meiner Kindheit falsch gelaufen war. Dann wurde daraus Wut auf die menschliche Rasse, eine Anklage gegen die Menschheit.

Dann sind Sie also doch ein politischer Autor!

Ja (lacht), doch Politik allein ist kein hinreichender Anlass um zu schreiben. Natürlich ist sie vorhanden, als Haltung gegenüber den Menschen, in Form von Empörung, Verzweiflung, beispielsweise darüber, dass die Amerikaner immer noch Pistolen mit sich herum tragen. Wenn ich Millionär wäre, würde ich Schilder über die Autobahnen hängen, auf denen die Zahl der Menschen erscheint, die jeden Tag durch Schusswaffen sterben! Die Zahl würde sich mit jedem Opfer ändern, jeden Tag.

Das Böse ist faszinierend.

Oh ja. Das Böse ist notwendig, sonst gäbe es nichts, worüber man tratschen könnte.

Warum ist das Paradies so langweilig?

Wenn etwas bereits gut ist, gibt es keinen Grund, etwas zu verändern. Was paradoxerweise dazu führt, dass Menschen einen perfekten Zustand zerstören, um ihn wieder neu schaffen zu können.

Zeigt die Literatur uns, wie man richtig lebt?

Ich sehe keinen Grund, das zu verneinen. Doch die Werte des Wahren, des Guten und des Schönen sind voneinander verschieden. Ein Kunstwerk darf nicht nach moralischen Gesichtspunkten beurteilt werden und umgekehrt. Wenn ich auf einem Bankett neben Hermann Göring sitzen muss, kann das Essen immer noch fabelhaft sein, auch wenn mir der Appetit vergangen ist.

Das Schreckliche und das Schöne

In einem Essay von Ihnen heißt es: „Kunst ist ein elaborierter Mechanismus für das, was die Seele als Schmutz bezeichnet.“

Nun, man nimmt etwas Widerliches und schreibt darüber so gut, dass…

… aus dem Schrecklichen etwas Schönes wird?

Die Herausforderung besteht darin, das Schreckliche so schön darzustellen, dass der Leser sagt: „Oh, das ist so wunderbar, das lese ich gleich noch einmal!“ Das ist der Triumph. Die besten Autoren meiner Generation haben das getan, zum Beispiel John Hawkes. In seiner Erzählung The Lime Twig wird eine gefesselte Frau mit einem Gummiknüppel geschlagen, eine schreckliche Szene – aber oh, wie schön ist es gemacht! Bei Faulkner gibt es eine Vergewaltigung mit einem Maiskolben, das ist so subtil geschrieben, dass viele Leser gar nicht merken, was vor sich geht. Thukydides sagt: Jetzt gehört der Peloponnesische Krieg mir. Denn er hat ihn beschrieben. Der Krieg geht vorbei, das Buch bleibt. Das gehört alles zum gleichen Thema.

Was geschieht mit dem Schrecklichen, wenn man es in Schönheit verwandelt?  

Es bleibt. Die Schönheit hält das Schreckliche am Leben. Die Menschen wollen das Böse meiden. Wenn in der Literatur das Schreckliche allerdings nicht in Schönheit verwandelt wird, entstehen Bücher, die man vergessen kann. Und dann kann man auch das Böse vergessen.

Verbale Musik

Ist Sprache für Sie eine körperliche Erfahrung?

Ja, in einem hohen Maß. Das beginnt schon beim Kleinkind. Der ganze Mund bewegt sich für all die verschiedenen Laute. Sprache kann man kauen. Das ist sehr körperhaft, und auch die Rezeption ist körperhaft. Stellen wir uns vor, jemand liest in der Zeitung einen Namen wie „Mister Buttkes“. Wenn das laut ausgesprochen wird, denke ich beim Klang sofort: der arme Kerl, mit so einem Namen! Oder nehmen Sie meinen Namen.

Sie mögen Ihren Namen nicht?

Ich hatte darunter zu leiden, in der High School. Als ich an der Universität in St. Louis einmal Jorge Luis Borges vorstellte, fragte er mich, was mein Name bedeute, und ich sagte ihm, er gehe auf das deutsche Wort Gasse zurück. Borges antwortete, sein Name komme von Burgos, und das sei immerhin eine Stadt! Womit die literarischen Verhältnisse geklärt wären…

Was verleiht der Sprache Kraft?

Eloquenz. Leider wird das nicht mehr unterrichtet, wie man an unseren traurigen Präsidentschaftskandidaten sehen kann. Eloquenz ist Sprache, die sinnlich aufgeladen wird, mit Leidenschaft. Was zählt, ist Musik. Wenn etwas musikalisch geschrieben ist, kann man es sich merken. Obwohl ich für Gedichte kein gutes Gedächtnis habe, kann ich aus Finnegans Wake ganze Seiten zitieren, weil diese Prosa so musikalisch ist.

Wenn Musik so wichtig ist – ist Schreiben dann so etwas wie Komponieren?

Bis zu einem gewissen Grad. Ich schreibe zur Zeit über den Barock, und im Barock geht es darum, das gesprochene mit dem gesungenen Wort zu verheiraten. Interessanterweise beginnt die Musik dieser Zeit, die Wörter aufzugeben und zu reiner Musik zu werden. John Donne hält im Jahr 1630 eine Predigt in der St. Paul’s Cathedral, vor tausend Menschen. Die ganze Darbietung der Predigt ist nichts als Musik, verbale Musik. Donnes Predigten sind wunderbar, auch noch in der modernen Welt, und zwar gerade, weil es niemanden kümmert, wovon sie handeln.

Haben seine Worte ihre Bedeutung eingebüßt?

Wir wissen, was sie bedeuten, aber darauf kommt es uns nicht mehr an. Wenn John Donne erklärt, dass Gott alles aus dem Nichts erschafft, dann glauben wir das zwar nicht mehr, aber es stört niemanden. Ich kann eine Kathedrale lieben, ohne gläubig zu sein. Und so liebe ich auch diese Predigt, übrigens nicht nur wegen der Musikalität der Sprache. Man kann keine Wortspiele machen, ohne mit den Begriffen und dem Klang herumzuspielen. Donne verhandelt zwar intellektuell gewichtige Themen, er ringt mit dem Problem des freien Willens, dem Wesen des Bösen und so weiter. All dies ist wichtig für ihn, aber nicht mehr für uns, jedenfalls nicht in seinen Begriffen. Und genau das setzt den Text frei: Wir können Donne als Schriftsteller heute aus den richtigen Gründen bewundern.

Sie behandeln alle Wörter gleichwertig, wenn Sie schreiben.

In gewisser Weise ja. Die Präposition „of“ oder das wiederholte „the“ sind für die Konstruktion des Satzes so wichtig wie die großen, allgemeinen Worte, deshalb muss man sich für die Platzierung dieser Dinge gleich viel Zeit nehmen wie für alles andere auch.

In Der Tunnel haben die philosophischen Exkurse das gleiche Gewicht wie etwa die Szene, wo William Kohler auf der Toilette sitzt und sich den Hintern abwischt.

In einem Kunstwerk gibt es nichts Nebensächliches, sagt Paul Valéry.

Sie brechen gern Tabus, zum Beispiel mit den Limericks, die eine Figur namens Culp in Der Tunnel dichtet: „A nun went to bed with Herr Hitler, / whose cock just got littler and littler…“

Ich konstruiere Bewusstsein, und Menschen sind nun einmal so. Und ich muss gestehen, dass ich es auch tue, um Leute zu ärgern.

Und um sich zu amüsieren?

Ich glaube, ich bin sehr gut im Dichten von Limericks. Vielleicht ist das mein Beitrag zur Literaturgeschichte.

Ästhetik und Ethik

Was macht einen guten Leser aus?

Als wir Kinder waren, entstand die Spannung beim Lesen aus der Handlung, aus den Figuren und unheimlichen Situationen. Ich erinnere mich an meine Erregung bei Stevensons Die Schatzinsel – oh, wie war das spannend! Wenn man diese Spannung auf das Verständnis dessen übertragen kann, was Henry James in einem Satz tut – ah! Man beginnt, die Dinge aus der Nähe zu betrachten, man schaut, wie sie gemacht sind, wie etwas schattiert ist. Bei Ford Madox Ford, übrigens einem unterschätzten Autor, gibt es Sätze, die sind so gut, dass man das Buch an die Wand werfen möchte. Was soll man da noch schreiben! Naja, darüber kommt man hinweg.

Ich muss gestehen, dass ich bei den Kindheitspassagen in Der Tunnel durchaus wissen wollte, was passiert: ob das Kind sich wehrt, wie es mit seinen Verletzungen zurecht kommt.

Das ist völlig in Ordnung, ja ich bin fast entzückt! Genauso wie ich mir sicher bin, dass Donne entzückt darüber wäre, würden wir ihn ernst nehmen, wenn er uns erklärt, warum wir ein so kurzes, unglückliches Leben haben, wo Gott doch so ein feiner Kerl ist.

Was macht ein literarischer Text mit seinem Leser?

Er macht ihn jedenfalls nicht besser, wenn das auch viele Menschen glauben. Er macht das Leben erträglich.

Flucht vor dem Leben?

Nein, Triumph des Schaffens. Wir Schriftsteller müssen das tun, was Gott nicht getan hat.

Was macht aus einem Buch ein Meisterwerk?

Dass Menschen es lesen möchten. Doch das genügt nicht. Wie viele Menschen lesen heute Donnes Predigten? Keiner. Aber wenn man die Klassiker nicht liest, wendet man seiner Kultur den Rücken zu. Es hat auch mit Zugehörigkeit zu tun: Ein Kunstwerk ist schön wegen seiner inneren Beziehungen. Es ist so konstruiert, dass alles zusammengehört, ja mehr als das: dass jedes Wort dort sein möchte, wo es steht. Wie eine ideale menschliche Gemeinschaft, wenn es sie je geben könnte, in der jedes Individuum eine Rolle spielt und von der Gesellschaft geformt wird, ohne seine Freiheit und seine Individualität zu verlieren. Die größtmögliche Freiheit, aber nicht auf Kosten anderer.

Das wäre ein moralisches Kriterium für Schönheit. Ist Ästhetik auch eine Ethik?

Es ist eine Metapher für ethische Probleme. Es gibt bei Thomas Browne Sätze, in denen man hört, wie wundervoll die Gedanken angeordnet sind. Was nicht heißt, dass man sie akzeptieren muss. Aber es ist ein ideales Modell für viele Dinge.

Große Werke haben etwas Verstörendes

Um Schönheit zu erkennen, muss man Geschmack haben. Wie entsteht dieser?

Geschmack kann man lehren, zum Beispiel indem man Kindern von Anfang an Dinge zu essen gibt, die gut schmecken. Gertrude Stein statt dümmlicher Geschichten. Kinder lieben ihre Texte! Sie lachen, und allmählich geht es in ihr Blut über. Heute allerdings scheint es hoffnungslos. Literatur kann nicht mithalten mit den Computerspielen, der Gewalt, dem ganzen Müll.

Warum fällt es uns so schwer, die Meisterwerke der eigenen Zeit zu erkennen?

Ja, warum ist es fast immer so, dass Bestseller keine guten Bücher sind? Sie sind auf der Bestsellerliste, weil sie unterhalten. Große Werke haben auch etwas Bedrohliches und Verstörendes, deshalb will sie niemand lesen, jede Ausrede ist willkommen. Sogar ich, der ich mich in dieser Hinsicht gern für überlegen halte, zögere, Beckett zur Hand zu nehmen. Obwohl ich weiß, dass ich jedes Mal in Ekstase gerate.

Sie sagten vorhin, gute Literatur mache das Leben erträglich.

Nun, es gibt verschiedene Ebenen des Ausweichens. Ich will zum Beispiel Beckett nicht lesen, weil ich jetzt gerade nicht die seelische Kraft dazu habe, oder weil meine Gedanken damit beschäftigt sind, dem Alltag zu entkommen und so weiter. Und man kann auch nicht die ganze Zeit ekstatisch sein.

Die Lektüre schwieriger Bücher ist für manche Leser so etwas wie eine Bergtour. Man nimmt die Anstrengung auf sich, weil man auf dem Gipfel belohnt wird.

Ein bisschen ist es so. Man hört Sätze wie: „Ich habe Finnegans Wake tatsächlich bis zum Schluss gelesen!“ Es gibt Menschen, die das auch über mein Buch sagen: „Ah, ich hab’s gelesen!“, als hätten sie eine bittere Medizin geschluckt.

In Ihrem Essayband Life Sentences steht der Satz: „Schlechte Menschen schreiben manchmal gute Bücher.“

Schriftsteller sind oft keine besonders angenehmen Menschen. Viele haben idiotische Meinungen, viele sind Snobs, Charakterfehler noch und noch. Aber wenn sie schreiben! Wenn einer so gut schreibt, wie er nur irgend kann, dann ist er besser, als er es als Mensch je sein könnte.

Was geschieht, wenn ein Schriftsteller sich an den Schreibtisch setzt? Gibt man beim Schreiben seine Vorurteile auf?

Man muss beim Schreiben seine Vorurteile aufgeben, aber zugleich muss man dazu in der Lage sein, sie in das Buch einzubringen: als Material. Das ist sehr schwierig. Nehmen wir an, Ihre Ehe zerbricht, und Sie schreiben darüber. Auf einmal beginnen Sie, ein Ereignis zu verändern, damit es im Hinblick auf eine andere Szene funktioniert und zu dem passt, was Sie bereits geschrieben haben – und schon sind Sie dabei, es zu idealisieren oder in den Schmutz zu ziehen. Deshalb ist Fiktion nicht vertrauenswürdig.

Ein letztes Wort?

Wissen Sie, ich habe keine Weisheiten anzubieten. Mein großes Glück als Philosophie-Professor bestand darin, dass ich meinen Studenten nicht schaden konnte. Ich wusste, sie würden wegen mir keine Aristoteliker werden, es war nur ein Spiel. Wenn die Menschen glauben würden, was ich sage – was für eine schreckliche Vorstellung!

Das Interview mit William H. Gass erschien ursprünglich in 2012 in Lettre International
Beitragsbild:
William H. Gass, 2011
Von David Shankbone
Via Wikimedia

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

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