Das Buch zur Wahl von Donald Trump ist über zwanzig Jahre alt: 1995 erschien in den USA TheTunnel von William H. Gass (*1924), 2011 kam es in der Übersetzung von Nikolaus Stingl auf Deutsch heraus.
Bücher seien „Behältnisse von Bewusstsein“, sagt William H. Gass. Und so graben wir uns denn lesend in das Bewusstsein von William Frederick Kohler, einem Historiker, Rilke-Leser und Hölderlin-Fan aus dem Midwest, der sich, statt an seinem Buch Schuld und Unschuld in Hitlers Deutschland zu schreiben, in ein schriftliches Selbstgespräch verliert, von dem er sagt:
Kohler nährt seinen Groll und pflegt sein Ressentiment, er verachtet alles und jeden, insbesondere seine Frau Martha und seine Kinder. All dies tut er als sprachlicher Virtuose, denn die Hauptfigur bekommt immer die besten Zeilen, so William H. Gass in einem Interview. Der Tunnel ist voll von Binnenreimen und Assonanzen, die allerdings in der Übersetzung nicht immer voll erhalten bleiben:
„…and in the following sigh, my pistoned penis spit its seed.“
„Outside I hear the power mowers mow the snow.“
„…und im darauffolgenden Seufzer spie mein wie ein Kolben bewegter Penis seinen Samen.“
„Draußen höre ich die Schneefräsen den Schnee fräsen.“
In Der Tunnel untersucht William H. Gass den „Faschismus des Herzens“. Dieser private Faschismus beginnt am Küchentisch, in der Familie. Er wird von Enttäuschungen gespeist und kennt nur passive Emotionen. Auf der ersten Seite des Buchs werden sie als Wimpel dargestellt.
Kohler gründet die fiktive „Party of the Disappointed People“, bisweilen „Party of the Disappointed Penis“ – das Ressentiment bezieht sich auch auf den Machtverlust der Männer. Die Partei der Enttäuschten ist gedacht für Leute mit unerfüllten Aussichten. Im Englischen versammeln sie sich unter Wörtern mit d (wie disappointment), im Deutschen mit e (wie Enttäuschung):
Man kann Der Tunnel auf viele Arten lesen, als Bewusstseinsstrom, Satire, Rache. Oder als Analyse der gekränkten Seelen und dem Hass, der in ihnen gärt. „Wir haben nicht das richtige Leben geführt“ – wie ein Refrain zieht sich dieser Satz durch das Buch.
Wir sollen uns mit diesem Führer der Enttäuschten identifizieren, deshalb sorgt Gass dafür, dass wir mit seiner Figur mitleiden. In Rückblenden erzählt uns Kohler seine Kindheit in der mentalen und landschaftlichen Ödnis des Midwest, die Mutter säuft sich ins Elend, der Vater leidet unter seiner Arthrose und seinem Charakter, „meine Eltern alterten nicht, sie siechten einfach dahin“. Tiefer und tiefer gräbt sich das Buch in diese verletzte Seele hinein, und je näher wir dieser Wunde kommen, desto schlichter wird die Sprache, bis der Stil zur Ruhe kommt und einfach nur erzählt.
Der Tunnel ist ein wildes Buch, bis zum Bersten gefüllt mit Anspielungen, Sprachwitz und Boshaftigkeiten. Das, was uns tagesaktuell nun so brennend interessiert, liegt nicht an der Oberfläche des Texts, man muss es ausgraben. Aus den Lebensenttäuschungen des deutschlandseligen Kohler schmiedet Gass einen Schlüssel, der uns Zugang verschafft zu einem unheimlichen Innenraum der amerikanischen Seele.
Nikolaus Stingl hat Der Tunnel kompetent und kreativ übersetzt. Eine besondere Herausforderung waren die schweinischen Limericks, mit denen eine Nebenfigur namens Culp die Weltgeschichte neu erzählt. Hier allerdings entschärft die Übersetzung bisweilen die Tabubrüche.
whose cock just got littler and littler.
O what I would do
if you was a Jew,
he cried as he bit her and hit her.
der war, wie bekannt, kein A. Dürer.
Auch wenn er stundenlang
Seinen Pinsel wrang,
er war und blieb bloß ein Schmierer.
Doch das wäre wieder ein anderes Thema. Der Tunnel hätte viele Lektüretipps verdient.
Der Tunnel
Roman
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Rowohlt Verlag 2014 · 1096 Seiten · 14.99 Euro
ISBN: 978-3499240911
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