Vier Minuten bevor Nadim, Kind mit geröteten Augen, den Auslöser an seiner Weste ergriff, um sich mit neuneinhalb Kilo Sprengstoff in den Tod zu reißen, riefen die Muezzine von Kirkuk über Lautsprecher in alle Viertel der Millionenstadt zum Abendgebet.

So beginnt die SPIEGEL-Reportage “Löwenjungen” von Claas Relotius. Ob die Augen des zwölfjährigen Selbstmordattentäters „gerötet“ waren, als er sich und andere mit genau „neuneinhalb Kilo Sprengstoff in den Tod reißen“ wollte, kann der Reporter nicht wissen.

Claas Relotius schreibt die Reportage wie einen Roman, er begibt sich in die Pose des allwissenden Autors, der in die Figuren hineinsehen kann. In Romanen werden Ereignisse geschildert, die passiert sein könnten und demnach auch psychologisch plausibel sein müssen. Im Roman ist es egal, ob die Ereignisse in der geschilderten Weise stattgefunden haben oder ob der Autor sich etwas ausgedacht hat. Von einer Reportage jedoch erwartet man, dass sie das Spiegel-Motto befolgt: „Sagen, was ist!“ Fakten sind nicht nur Zahlen, Entfernungen oder korrekte Zitate. Sie betreffen nicht nur das Messbare, sondern auch die dargestellte Situation: die Frage, wer wann was gesagt haben könnte, etc.

Die flackernde Glühbirne

Als Romancier ist Claas Relotius ein Meister des Kitschs, und er hat ein neues Genre erfunden: Terrorismus-Kitsch, ein wollüstiges Baden im Schrecken. Die Gefängniszelle liegt „am Ende eines langen Flurs“, sie ist „ein kalter Raum hinter einer Eisentür“, normgerecht „1,8 Meter lang, 2,5 Meter breit, ohne Fenster“. Relotius weiß um die orgiastische Wirkung des Kitschs bei seinen Liebhabern. Deshalb muss die Glühbirne „flackern“ und „aus einem Loch im Boden, der Toilette,“ muss „ein übler Geruch steigen“. Der gefangene zwölfjährige Junge Namid muss „gegen die Decke starren“, er muss eine „hohe Stimme“ und „tiefe Augenränder“ haben. Jede Nacht, so sagen es die Wachmänner, „kreist er im Dunkel seiner Zelle wie ein Tier“. Koran-Verse sagt er „nacheinander auf, wie schüchterne Kinder Gedichte aufsagen, zu Boden sehend, atemlos“. Dabei hat Namid „keinen dieser Verse vergessen“, die ihm als Gefangenem des IS beigebracht worden waren – denn der Lehrer dort „war ein Mann, der sich Imam nennt und beim Predigen ein Messer in der Hand hält“.

Unplausibles

So unwahr wie die Worte ist das, was Relotius uns mit ihnen weismachen will. Zwei Monate lang drückte sich Namid im Gefängnis angeblich nur durch Zeichnungen aus, er kann niemandem außer seinem Arzt in die Augen sehen, vor allem „sieht er keinem Fremden, der in seine Zelle tritt, je in die Augen, er weicht allen Blicken aus“.
Dann kommt der deutsche Reporter in die Gefängniszelle (doch wohl mit einem Dolmetscher?), und Namid fasst sofort Vertrauen und erzählt „hastig wie ein Kind und manchmal kalt und fluchend wie ein Greis“.

Der schwer traumatisierte Zwölfjährige, der sich zwei Monate geweigert hat zu sprechen, hat sich offenbar innerhalb kürzester Zeit zu einem reflektierenden Erzähler entwickelt, der wie ein Ernst Jünger minutiös und nüchtern seine schrecklichen Erlebnisse schildert. Dabei wird Namid in Einzelhaft gehalten und seine Zellentür nur dreimal am Tag geöffnet: zum Duschen, Essen und für den Besuch des Arztes. Gleichzeitig wird behauptet: „jeden Morgen, sobald es hell wurde, holten ihn Männer in Uniformen, brachten ihn in einen grellen Raum, wo sie ihn neun Stunden am Tag verhörten“. Nadim saß dann „in Handschellen auf einem Stuhl aus Plastik, er sah keinem der Männer in die Augen“.

Womöglich war der Stuhl wirklich aus Plastik gewesen, aber auch das kann der Reporter nur vermuten, nicht aber wissen.

Märchengold

Die Reportage „Löwenjungen“ wurde vielfach geprüft, bewundert, als Meisterwerk gefeiert. Sie wurde mit dem Peter Scholl-Latour-Preis ausgezeichnet. Der Laudator Paul-Josef Raue schwärmte, er sei bei der Lektüre „stolz gewesen, Journalist zu sein, denn besser als in dieser Reportage kann Journalismus nicht sein“.

Noch in der vorigen Woche hat der designierte Chefredakteur des SPIEGEL, Ullrich Fichtner, in seiner Abrechnung mit Relotius diese Reportage als einen „bestürzenden Text“ bezeichnet. Aus solchem Stoff seien die ganz großen Geschichten gemacht. „In solchen Texten zieht sich die Gegenwart [auf] einmal auf ein lesbares Format zusammen, große Linien der Zeitgeschichte werden fassbar und schlagartig wird das Große ganz menschlich verständlich.“

Im Kitsch erkennt man den Stil der Epoche. Kitsch ist repräsentativ, weil er von vielen geliebt wird. Er bedient Vorurteile, bestätigt Erwartungen, schönt die Wirklichkeit, verhindert Erkenntnisse, bedient die Selbstgefälligkeit. „Wer als Reporter über solches Material verfügt, und wer Talent hat für Dramaturgie, kann daraus Gold spinnen wie im Märchen“, erklärt Ullrich Fichtner weiter.

Doch Märchengold löst sich in Luft auf, wenn das Märchen zu Ende ist.

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Von Christoph Brumme

Christoph Brumme, geb. 1962 in Wernigerode (DDR), verfasst Romane und Reportagen u.a. über seine Fahrradreisen von Berlin an die Wolga und zurück. Seit dem Frühjahr 2016 lebt er in der ostukrainischen Stadt Poltawa.

2 Kommentare

  1. Sehr intelligenter Essay zum Fall Relotius. Der Titel bringt den literarischen Aspekt des Skandals auf den Punkt. Ich habe mir erlaubt, Verfasser und Auszüge daraus in meinem Blog-Beitrag zu zitieren (Der Fall Relotius (III): Vom Mythos des genialen Fälschers). Mein These ist, dass der Kitsch in Relotius’ Reportagen durch Bekanntwerden seiner Betrügereien entblößt wird, sein “Werk” schlagartig die Aura verliert, die es scheinbar umgab, wie es typisch ist bei Bekanntwerden solcher “Kunst”fälschungen.

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  2. Ich bin geschockt über das Zitat des Laudators des Fälschers. Es liest sich, als sähe der Laudator die Vollendung des Journalismus in dem Verfassen von Literatur. Seine Laudatio ist Kitsch von derselben Kategorie wie jene der Fälschungen.
    Überhöhen Autoren wie Relotius die Welt, weil ihnen alltägliche Dramen zu banal sind? Ich sehe in den Fälschungen eine doppelte Verletzung von Vertrauen, zum einen die an denen, denen der/die AutorIn eine Stimme zu geben behauptet, zum anderen die an LeserInnen. Erstere scheint mir fast die SChlimmere. Si non è vero, è ben trovato.

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