Hier war eine besondere Welt, die keiner einzigen anderen glich; hier gab es besondere Gesetze, besondere Tracht, besondere Sitten und Bräuche. Es war ein Totenhaus lebend Begrabener, darinnen ein Leben wie sonst nirgendwo; und auch die Menschen waren hier anders. Eben diesen besonderen Ort will ich nun zu beschreiben versuchen.

Dieses Zitat aus Fjodor Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus steht als Motto am Anfang von Daniel Beers Buch. Dostojewski kannte diese „besondere Welt“ nur zu gut: Vier Jahre hatte er in einem sibirischen Zuchthaus verbracht. Aufzeichnungen aus einem Totenhaus schrieb er nach der Entlassung. Das 1862 publizierte Buch machte in Russland damals Furore. Diesem Urtext der russischen Lagerprosa hat der britische Historiker Daniel Beer nicht nur das Motto entnommen, sondern auch den Titel für sein Werk über die Geschichte der sibirischen Verbannung im zaristischen Russland.

Der 28-jährige Dostojewski wurde im Jahr 1849 in St. Petersburg verhaftet und zum Tod verurteilt, für das Streuen „von verderblichen Lehren, welche im ganzen westlichen Europa Wirren und Revolten hervorbrachten“, wie es hieß. Zusammen mit anderen wartete er auf die Vollstreckung des Urteils. An einem kalten Tag in der Weihnachtszeit brachte man die Gefangenen aus der Peter-und-Pauls-Festung zum Hinrichtungsplatz. Die ersten drei standen bereits an Pfähle gefesselt, das Erschießungskommando brachte die Gewehre in Anschlag. Dostojewski sollte als Nächster drankommen. Da machte ein Wink mit einem weißen Tuch der wohlüberlegten Inszenierung ein abruptes Ende. Nikolaus der Erste schenkte ihnen das Leben. Das neue Urteil hieß: vier Jahre Zwangsarbeit in Sibirien, danach lebenslanger Militärdienst als Soldat. Aus seiner Zelle schrieb Dostojewski einen euphorischen Brief: „Das Leben ist ein Geschenk, das Leben ist ein Glück, jede Minute kann zur Ewigkeit des Glückes werden.“ Mit angelegten Beineisen, im bewachten Schlittenkonvoi, verließ er St. Petersburg. Der glücklich Begnadigte gehörte jetzt zu den Scharen anonymer „Unglücklicher“, wie das Volk unter den Zaren die Zuchthäusler nannte. Ein Jahrhundert später, in der sowjetischen Gulag-Zeit, wurde diese mitfühlende Bezeichnung durch eine karge Abkürzung ersetzt: „Zeka“ für „zakljuchjonnyj“ – „Gefangener“.

Vorbühne des politischen Kampfes

Daniel Beer erzählt in Geschichten. Manche Szenen, wie die der inszenierten Hinrichtung von Dostojewski, wirken wie verlangsamte Filmsequenzen. Das Buch besteht aus 13 umfangreichen Kapiteln. Ein ganzes Kapitel ist Dostojewski gewidmet. Weitere wichtigen Figuren des Buches sind die Dekabristen: die russischen Adligen, die im Dezember 1825 einen Aufstand auf dem Senatsplatz in St. Petersburg anführten und dafür nach Sibirien verbannt wurden. Sie waren die ersten Umstürzler in Russland, die nichts für sich wollten. Manche Dekabristen wurden von ihren Frauen in die Verbannung begleitet. Diese Frauen, die alles opferten, sind als mutige Retterinnen ins kulturelle Gedächtnis eingegangen. Ein weiteres großes Thema für Daniel Beer sind die polnischen Rebellen – und wie sie während ihrer Verbannungszeit Sibirien, den Ort ihrer Bestrafung, zur Vorbühne des politischen Kampfes machten.

Neben den berühmten politischen Exilanten gibt es auch die „Tausende gewöhnlicher Verbrecher“, deren Namen wir nicht kennen. Ihre Spuren galt es, in akribischer Forschungsarbeit in den Polizeiberichten und Gerichtsakten ausfindig zu machen. Sie bilden das Fundament von Beers Das Totenhaus. Anderthalb Jahre hat Daniel Beer in den Archiven von Sankt Petersburg, Moskau und den sibirischen Städten Tobolsk und Irkutsk geforscht. Sein Erzählgewebe ist dicht geflochten aus seinen Archiv-Entdeckungen, aus Memoiren, Tagebüchern und Reiseberichten sowie der Fach-Literatur zum Thema Zuchthaus und Gefängnis. Eine geradezu fesselnde wissenschaftliche Prosa, frei von jeglichem Jargon und von Bernd Rullkötter hervorragend übersetzt.

Strafkolonisation als Staatsprojekt

Die Geschichte des sibirischen Exils begann gleich nach der Eroberung Sibiriens durch das Russische Reich unter Iwan dem Schrecklichen. Im Jahre 1582 überquerte ein kosakisches Heer den Ural und besiegte den sibirischen Mongolenführer Kütschüm Khan. Damit stand das Tor zur östlichen Terra incognita offen. Die ersten Kolonisten waren Krieger, Pelzhändler, Staatsbeamte und Bauern. Manche wurden durch die Verheißungen des Neulandes angezogen, andere retteten sich als Flüchtling dorthin. Von Anfang an gab es jene, die unfreiwillig gingen. Die entlegenen Territorien waren bestens geeignet, um sich gefährlicher Leute zu entledigen, Staatsfeinde betraf dies ebenso wie Diebe, Räuber und Mörder. „Wie wir schädliche Elemente aus dem Körper entfernen müssen, damit er nicht dahinscheidet, so handeln wir auch in der Gemeinschaft der Bürger“, schrieb 1708 ein sibirischer Bischof, selbst ein Verbannter.

Im Jahre 1753 ließ Zarin Elisabeth die Todesstrafe für alle Delikte abschaffen, mit Ausnahme schwerer Verbrechen gegen die Staatsmacht. Als Alternative zur Todesstrafe gewann die Verbannung nach Sibirien noch an Bedeutung. Die russische Staatsmacht nutzte diese Strafe als Mittel zur Kolonisierung des dünnbesiedelten, rauen Ostkontinents. Die weit entfernten Gegenden brauchten die Arbeit menschlicher Hände. Im späten 18. Jahrhundert, unter Katharina der Großen, wurde das System der Strafkolonisation Sibiriens zu einem Staatsprojekt ausgebaut. Die Kluft zwischen den Plänen und ihrer Realisierung blieb allerdings groß, wie Daniel Beer schreibt.

Umerziehung durch Zwangsarbeit

Wie legt ein Verbannter den weiten Weg zu seinem Verbannungsort zurück? Wie sollte man die Strecke ausstatten, damit die Gefangenen unterwegs nicht vor Erschöpfung starben? Wie werden die Zuchthäusler mit Arbeit versorgt, und was passiert mit Frau und Kind? Diese Fragen wurden von der Regierung erst Anfang der 1820er Jahre gestellt, als die Häftlingskonvois schon über zweihundert Jahre gen Osten marschiert waren. Im Jahre 1822 unternahm der Staatsmann Michail Speranski die erste Reglementierung des chaotischen Exilwesens. Dabei hatte er eine humanitäre Vision: Aus den verbannten Verbrechern sollten fleißige Siedler werden. Die Verbannten sollten Sibirien bevölkern, erschließen und damit an Russland binden. Die Behörden mussten jedoch bald feststellen, dass sich der Plan der Regierung nicht verwirklichen ließ: „Ein verbannter Siedler ist jemand, den wir auf der Straße treffen: fast nackt trotz der Grausamkeit des sibirischen Winters, verdorrt vor Hunger, schmutzig, niedergeschlagen und mit einem klaren Ausdruck des Leids in den Augen“, heißt es in einem Bericht. Statt Heerscharen von fleißigen friedlichen Siedlern fand man in Sibirien eine wachsende Armee von Geflohenen. Diese kriminellen Landstreicher terrorisierten die sibirische Bauernschaft und verhinderten somit die Entwicklung des Landes, statt sie zu fördern. Die Idee der Umerziehung durch Zwangsarbeit war schon damals gescheitert. Die apokalyptischen Realitäten der Verbannung, die Daniel Beer beschreibt, unterscheiden sich deutlich vom Bild, das Alexander Solschenizyn in Archipel Gulag vom Bestrafungssystem des Zarenreichs gezeichnet hat. Gegenüber der Bestialität der sowjetischen Lager verharmloste er die Verhältnisse vor der Revolution.

Von der Strafkolonie zum Gulag

Die „besondere Welt“, um die es in Daniel Beers Das Totenhaus geht, ist nicht auf das Zuchthaus beschränkt, sondern meint ganz Sibirien. Es ist ein integraler Teil des Russischen Reiches, doch zugleich ist es ein Nicht-Russland; es ist ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten und eine Strafkolonie; ein riesiges Gefängnis ohne Dach und ein Laboratorium der Revolution. Im Fokus des Buchs steht zwar das neunzehnte Jahrhundert, doch der Zeitraum umfasst viel mehr: Das Buch beginnt mit den letzten Lebensjahren Iwans des Schrecklichen im späten sechzehnten Jahrhundert und endet mit der Abdankung Nikolaus des Zweiten im März 1917. Was man in diesem wahrhaft enzyklopädischen Werk vermisst, ist eine übersichtlichere Unterteilung der einzelnen Kapitel. Manchmal verliert man beim Lesen die Orientierung.

Nach der Februarrevolution wurde das Verbannungssystem offiziell abgeschafft und Russland zum „freiesten Land der Welt“ erklärt. Allerdings sollten die neuen bolschewistischen Machthaber Sibirien schon sehr bald wieder als einen Ort der Besserungslager und der Ausbeutung entdecken. Die Ära der vergeblichen „Mühen Russlands, seines Gefängnisreiches Herr zu werden“ war zu Ende. Die Ära des Gulags begann.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Nowosibirsk 1895.
Fotograf unbekannt, aus: Günter Nerlich: Sibirien, VEB F.A. Brockhaus Verlag, Leipzig, 1961, S. 58 (gemeinfrei, via Wikimedia Commons)
Angaben zum Buch
Daniel Beer
Das Totenhaus
Sibirisches Exil unter den Zaren · Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
S. Fischer 2018 · 624 Seiten · 28 Euro
ISBN: 978-3103973716
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel

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Von Anna Shibarova

Anna Shibarova kommt aus Sankt Petersburg. Sie unterrichtet russische Sprache und Literatur an der LMU München, schreibt und übersetzt.

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