Gibt es etwas, das Tschernobyl, der ehemalige Pier 54 in Manhattan, die Stadt Dresden und das Haus auf der Isle of Skye in Virginia Woolfs Roman To the Lighthouse gemeinsam haben? In Cécile Wajsbrots neuem Roman Nevermore sind diese Orte vielfältig textuell ineinander verwoben: Die Ich-Erzählerin – in diesem Fall offenbar die Autorin selbst – hat sich von Paris nach Dresden begeben, um an der Übersetzung von Virginia Woolfs Roman To the Lighthouse zu arbeiten. Dabei tauchen Bilder und Assoziationen auf: von der Industriebrache auf der Halbinsel Gansevoort in Manhattan – dem Pier 54 – sowie von der weitgehend verlassenen verbotenen Zone um den ehemaligen Reaktor von Tschernobyl.

Verlassen ist irgendwann auch das Haus am Leuchtturm in Virginia Woolfs Roman. In dessen zweitem Teil „Time Passes“ haben nicht mehr die Menschen das Sagen, sondern die Natur in Form der Elemente Meer und Wind, zunehmend auch Frösche, Schwalben, seltene Pflanzen. Auch in der verbotenen Zone von Tschernobyl kann sich die Natur ungehindert ausbreiten, ja, sie erholt sich überraschend schnell, wie die Autorin einem Dokumentarfilm entnimmt. Nach der Evakuierung der Menschen haben sich dort inzwischen Wölfe, Bären und Wildpferde angesiedelt, und eine üppige Flora blüht und gedeiht. Am ehemaligen Pier 54 von New York wiederum haben sich nach dem Verschwinden von Fabriken, Eisenbahnen und Kaianlagen Pflanzenarten ausgebreitet, die dort bis dahin gar nicht heimisch gewesen waren. Ein Hervorbrechen von Wildnis mitten in der Stadt.

Trost also? Die Gewissheit, dass, selbst wenn der Mensch verschwinden sollte, die Natur des Planeten überleben wird?

Stimmen, Schatten, Spuren

Dieses Trosts bedarf die Autorin selbst, denn sie ist nicht nur zum Übersetzen nach Dresden gekommen, sondern auch, „um jemanden zu beweinen“. Ihre Freundin, eine Schriftstellerin, ist kürzlich gestorben. Das Erinnern an diese Freundin wird zu einer unbewussten und dann zunehmend absichtsvollen Suche, welche den Roman vorantreibt. Zunächst ist es nur eine Präsenz, eine Brise oder Stimme, die der Autorin am Elbufer begegnet. Bei der dritten Begegnung dieser Art kommt es dann zu einem unwirklichen, fast traumartigen Dialog mit einer ebenso unwirklichen Gestalt, einem ätherischen Wesen aus feinem Dunst. Fünf weitere solcher Begegnungen folgen in bestimmten Abständen, dabei jedes Mal ein wenig anders, leicht verschoben im Anknüpfen und im Tonfall des hauchdünnen einander Ansprechens.

Parallel dazu läuft die Geschichte der Beziehung der Autorin zur Stadt Dresden. Sie hat diesen Ort für ihre Arbeit und als Flucht vor dem Ansturm der Erinnerungen an die Freundin gewählt, eine Stadt, die als Metapher für Zerstörung und Vergänglichkeit steht. Die Stadt ist ihr zunächst fremd. Zugänglich wird sie ihr über das Ungreifbare, das zwischen den Menschen wie ein Nebel oder eine bestimmte Atmosphäre Verbindung schafft, trotz aller Flüchtigkeit:

Städte sind aus ihren Häusern und ihren Bewohnern gemacht, also aus festen, reglosen Präsenzen ebenso wie aus beweglichen – Stimmen, Schatten, Spuren. Aus etwas von uns, aus jemandem, der jemandem ähnelt. Oder dem Gedanken, den wir haben, während etwas wie ein Duft, ein Flüstern, ein Name die Straße durchzieht. Von einer breiten Straße zur anderen bilden unsere Gedanken einen Fluss, in dem ein unsichtbarer Parallelverkehr herrscht, der aber ebenso deutlich, wenn nicht deutlicher ist als der sichtbare.

Trost der Musik

Es ist dieses Immaterielle und Ungreifbare, dieses Zwischen, von dem irgendwann ein Gedanke, ein Wort, ein Glockenklang oder Farbton zeugt, das Menschen über jegliche Entfernung hinweg einander nahe bringt, als eine Präsenz des Unendlichen. Und so ist die Kunst ein weiterer Protagonist des Buches, wie man es von anderen Werken Wajsbrots kennt.

Auch hier steht am Anfang der Schöpfung oft ein Verlust – so beispielsweise der Tod Benjamin Brittens im Jahre 1976, der den estnischen Komponisten Arvo Pärt zu seinem eindringlichen Cantus in memoriam Benjamin Britten angeregt hat, ein Werk, das nun wiederum die Autorin inspiriert. Da dieses Stück von Glockenklängen eingeleitet und getragen wird, streut Wajsbrot wie nebenbei einen kleinen Essay ein über die Bedeutung von Glocken in Musik und Literatur.

Darin klingt bereits ihr Thema Trost und Trauer an:

Der Streicherpart schwillt an, während die Glocke weiter läutet, bald unter einem Teppich von Streichern ertrinkend, bald einsam sich abhebend, mit der Trauer breitet sich die Möglichkeit einer Beruhigung, eines Trostes aus, auch wenn die Wellen weiter anrollen, repetitiv, versetzt wie in einem Kanon, und – vielleicht – die in jedem Augenblick spürbare Eintönigkeit des Verlusts übersetzen.

Solche essayistischen und zugleich lyrischen Passagen tragen den Ton von Nevermore. Musik hat eine besondere Bedeutung für die Autorin, die Sprache nicht denken kann ohne Klang, Stimme und Rhythmus – wovon sie auch ihre Übersetzungsarbeit leiten lässt.

Übersetzen, überschreiben

Die Lektüre von Nevermore erfordert Geduld und zuweilen auch Anstrengung. Das liegt zum einen an der Dichte des Textes, in dem unaufhaltsam, Satz für Satz, Assoziationen aufeinanderfolgen: ein Bild, ein Hinweis auf einen Film, eine Komposition oder eine innere Wahrnehmung, getragen von einer leisen Melancholie und Trauer, die jedoch nicht verzehrt, sondern die Welt und uns im besten Sinne durchlässiger werden lässt. Geduld erfordert es vor allem aber, der Übersetzerin in ihrer Arbeit an Virgina Woolfs Text zu folgen. Dass die Autorin den Leser unmittelbar an ihrer schöpferischen Arbeit teilhaben lässt, mit Momenten der Frustration und der Freude, ist ein seltenes Geschenk.

Die erzählte Geschichte wird nicht zuletzt durch Zitate aus Virginia Woolfs Roman auf eine subtile Art vorangetrieben, zugleich aber wird der Leser auch immer wieder aus dem Erzählfluss herausgetragen. Wajsbrot weiht uns in die vielfachen Schwierigkeiten des Übersetzens ein – insbesondere, was Rhythmus, Klang und Silbenzahl der Worte betrifft. Fast immer wird die erste Übersetzung einer Folge von Sätzen als ungelenker Versuch verworfen und von weiteren Anläufen überschrieben. Das ist faszinierend, zumal dahinter die weitere, kongeniale Übersetzungsarbeit von Anne Weber aus dem Französischen ins Deutsche steht, zugleich ist es eine Herausforderung.

Beim mehrfachen Lesen wird einem bewusst, dass die Tätigkeit des Übersetzens das Thema Vergänglichkeit noch einmal neu beleuchtet, um das der Roman kreist. Denn jeder Satz ist zunächst nur eine von vielen Möglichkeiten der Wiedergabe des Textes, er ist sozusagen Durchgangsstation oder das Tor für weitere Möglichkeiten – und somit trägt der zu übersetzende Satz stets seine eigene Vergänglichkeit in sich, indem er selbst überschrieben wird. Und doch wird er nicht vernichtet, denn unter dem endgültigen Text schimmern stets die vielen vorläufigen Sätze hindurch.

Ein Poem der Vergänglichkeit

Noch etwas fällt beim wiederholten Lesen auf: die kleineren oder größeren Variationen von Satz zu Satz, wie sie die Übersetzung kennzeichnen, durchziehen das Buch insgesamt. Während man zuweilen den Eindruck hat, dass sich in der tastenden, manchmal fast zögerlich anmutenden Sprache die Worte oder Formulierungen wiederholen, werden sie tatsächlich immer wieder mit Bedacht variiert und öffnen das Feld der Wahrnehmung neu. Verlust und Neuschöpfung sozusagen bis in die Sprache hinein. Und schließlich: Was sind die kurzen Begegnungen mit der Verstorbenen – einer Silhouette, einer kaum spürbaren Gestalt – anderes als eine Übersetzung beziehungsweise ein Über-Setzen zwischen den Welten?

Nevermore liest sich wie ein Poem der Vergänglichkeit. Oder soll man sagen auf die Vergänglichkeit? Unweigerlich wird der Titel als Anspielung auf E. A. Poes Gedicht „The Raven“ gelesen. Allerdings wird Poes Name nirgends explizit erwähnt. Doch während im Gedicht das „nevermore“ des Raben wie ein Crescendo unheimlicher Endgültigkeit tönt, wird dieses Wort bei Cécile Wajsbrot durch die schattenhaften Begegnungen mit der verstorbenen Freundin quasi transzendiert, ohne aufgehoben zu werden.

Ist nicht die Vergänglichkeit selbst auch vergänglich? Wissen wir denn, wie viel Vergangenes verborgen leise weiter glimmt in all dem neu Entstehenden, das den Platz des Verschwundenen einnimmt? Diese Frage durchzieht auf tröstende Weise den Roman – bis zu dem Punkt, an dem die Autorin in der Trauer um die Freundin überraschend zur Ruhe kommt.  

Bildnachweis:
Beitragsbild: Gael Varoquaux via flickr (CC BY 2.0

Angaben zum Buch

Cécile Wajsbrot
Nevermore
Roman
Aus dem Französischen übersetzt von Anne Weber
Wallstein Verlag 2021 · 229 Seiten · 20 Euro
ISBN: 978-3-8353-5069-4

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Von Frank Hahn

Freier Autor in Berlin und Vorsitzender des Vereins „Spree-Athen e.V.“, der regelmäßig ins Literaturhaus Berlin zu Vorträgen aus den Bereichen Philosophie und Literatur einlädt.

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