Es klingelte ununterbrochen, zwei Uhr nachts, als ich öffnete, stand Petra im Schnee. ‚Ich kann nicht mit Dir in einer Stadt wohnen‘, sagte sie. ‚Bist Du verrückt geworden? Das Haus schläft.‘ ‚Früher bist Du nie so früh schlafen gegangen‘, sagte sie. ‚Bitte tu mir den Gefallen, geh jetzt‘, sagte ich und öffnete die Tür. Der Eiswind fegte über meine nackten Füße. Da ging sie.
Der hier nach der verlorenen Zeit sucht ist Bernward Vesper, geboren 1938 als Sohn des nationalsozialistischen Dichters Will Vesper. Seine Freundin Gudrun Ensslin hat ihn für Andreas Baader verlassen und sitzt als Kaufhausbrandstifterin im Gefängnis. Vesper hat einen Sohn mit ihr. Während er fieberhaft tippt, spielt das Kind im Zimmer und versucht, die Aufmerksamkeit des Vaters zu erregen.
Der Romanessay, der so entsteht, soll Der Trip heißen. Oder Hass. Beide Arbeitstitel verweisen auf das, was ihn vorantreibt. Vesper schreibt teilweise unter dem Einfluss von LSD. Alles, was ihm durch den Kopf geht, wird zu Text – von der unmittelbaren Umgebung über Erinnerungen bis zur Politik. Der Spiegel des Bewusstseins zerspringt.
In den Splittern zeigt sich das vielschichtige Bild eines Lebens, das sich nicht fügen kann. Nicht in das nationalsozialistische Elternhaus. Nicht in eine angepasste Existenz in der jungen Bundesrepublik. Und nicht in die revolutionäre Konsequenz der politischen Avantgarde.
Ich kenne kein Buch, das eindringlicher vermittelt, in welchem Zustand sich die Gesellschaft im Westdeutschland der sechziger Jahre befindet: Sie ist zum Bersten gespannt, und in ihrer sorgsam renovierten Fassade zeigen sich immer mehr Risse. Vesper verkörpert viele Widersprüche und Konflikte in sich selbst: Er streitet erbittert mit seinem Vater über die nationalsozialistischen Verbrechen – und er versucht, dessen Werke zu publizieren, um ihn als Dichter wieder gesellschaftsfähig zu machen. Er ist autoritär erzogen und hat einen unstillbaren Drang nach Befreiung. Er ist geprägt vom Einfluss der amerikanischen Popkultur und misstraut ihr doch. Er hat Sehnsucht nach der kleinen, intimen Idylle. Aber er teilt auch das Gefühl seiner Generation, mit allen Mitteln die Welt retten zu müssen. Indem er sich in den schärfsten Gegensatz zu seinem Vater stellt, ist er ihm zugleich am nächsten.
1968 aufbruch in den haß
[…]vielleicht kommt eine periode, wo wir cool genug sind, haß macht blind, wir machen fehler, aber wir sind kaputte [menschen] maschinen, die denjenigen treibstoff brauchen, der sie überhaupt noch in betrieb hält
notiert er auf einer Karteikarte. Das Manuskript wird nie fertig. 1971 wird Vesper in die Psychiatrie eingeliefert, wo er sich wenige Monate später das Leben nimmt. Die Spannungen, an denen er zugrunde gegangen ist, wirken in Deutschland bis heute nach. In Die Reise kann man viel darüber erfahren.
Die Reise
Romanessay (Ausgabe letzter Hand)
Rowohlt Taschenbuch Verlag · 720 Seiten · 12,99 Euro
ISBN: 978-3499150975
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