Darf man noch erzählen, darf man noch Melodien komponieren? Als Musiker irritiert mich das Zitat von Jeffrey Eugenides in Sieglinde Geisels Essay Trivialliteratur (II):

Ich hatte beim Schreiben Lehrer, die mir erzählten, es sei nicht länger möglich, Geschichten zu erzählen. Ähnlich der Hochmoderne in der klassischen Musik. Keine Melodien mehr!

Was für ein Popanz wird hier aufgebaut, was für ein „Pappkamerad zum Draufhauen“, wie es der Komponist Helmut Lachenmann einmal formuliert hat! Und was ist unter der „klassischen Hochmoderne“ zu verstehen? Ich nehme an, es handelt sich um die Musik von Schönberg, Stravinsky, Varèse und allem, was darauf folgte. Aber welcher ernst zunehmende Musiker wollte die Melodien verbieten? Arnold Schönberg hat in seiner Harmonielehre sogar über Klangfarbenmelodien nachgedacht.

Es wäre auch ein sinnloses Unterfangen, die Melodien abschaffen zu wollen. Denn jede Folge von Tönen und Klängen bildet eine Melodie, zumindest in der Wahrnehmung des Hörers. Einige Melodien sind gesanglich, einige bleiben im Gedächtnis haften, andere nicht. Es gibt lange Melodiebögen – in der Romantik träumte man von der unendlichen Melodie – und ganz kurze.

Eine der kürzesten Melodien findet sich im Finale einer Klaviersonate von Joseph Haydn. Sie besteht aus zwei Noten, einer fallenden kleinen Terz. In Volksliedern wird damit der Ruf des Kuckucks imitiert.

Darauf folgt ein Spiel. Die Zweitonmelodie wird beantwortet, gestreckt, gestaucht, verfremdet.

150 Jahre später hat Anton Webern dieselbe fallende Terz in seinen Klaviervariationen verwendet. Er bezeichnete sie als „verhaltenen Klageruf“.

Auch bei Webern wird diese Terz musikalisch verarbeitet. Es entsteht ein Palindrom, eine Tonfolge also, die vorwärts und rückwärts gleich klingt.

Durch dasselbe Anfangsmotiv gelangen wir zu ganz unterschiedlicher Musik. Webern klingt nicht deshalb anders als Haydn, weil jemand in der Zwischenzeit die Melodien oder sonst irgendetwas verboten hätte. Es ist ganz einfach so, dass sich die Welt und damit auch die Musik verändert hat.

Doch damit tun sich viele Menschen schwer, auch solche aus dem intellektuellen Milieu. Sie haben die Entwicklung in der komponierten Musik der letzten hundert Jahre nicht mitverfolgt, sie fühlen sich abgehängt und reagieren gereizt, wenn sie im Sinfoniekonzert einmal etwas „Hochmodernes“ hören müssen.

Gerade diese Irritation könnte im heutigen politischen Diskurs eine Chance sein. Die Intellektuellenkaste solle die Menschen verstehen, die Trump oder die AfD wählen, statt auf sie hinabzuschauen, so wird uns seit einigen Wochen unablässig in den Feuilletonseiten gepredigt. Die eigenen Ressentiments zu erforschen, zum Beispiel diejenigen gegen neue Musik, kann dabei helfen.

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Von Tomas Bächli

Pianist und Musikschriftsteller, lebt in Berlin.

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